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Jahresrückblick 2021: Die Pandemie vor und hinter der Kamera

Ein Beitrag von Christian Neffe

Fast zwei Jahre Corona-Pandemie liegen hinter uns. Davon ist auf den Leinwänden und Bildschirmen im fiktionalen Bereich allerdings (noch) wenig zu sehen. Welche Beispiele es 2021 gab, schauen wir uns in unserem zweiten Jahresrückblick an.

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8 rou de l'Humanitaire / Malcolm & Marie / Bad Luck Banging or Loony Porn
8 rou de l'Humanitaire / Malcolm & Marie / Bad Luck Banging or Loony Porn

Das „Kino als Spiegel der Realität“ ist eine dieser Phrasen, die gerne mal fallen, wenn es darum geht, dass und wie Filme gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen aufgreifen und künstlerisch verarbeiten. Ein weltumspannendes, einschneidendes Phänomen wie die Corona-Pandemie müsste doch eigentlich umso tiefere Spuren hinterlassen haben und eine filmische Rezeption geradezu erzwingen — oder? Tatsächlich muss man relativ tief graben, um fündig zu werden.

Fast zwei Jahre Pandemie liegen hinter uns. Zwei Jahre, in denen die Auswirkungen eben dieser Pandemie im Filmbereich allem voran in der Distributionsstruktur deutlich wurden: zeitweise geschlossene Kinos, abgesagte oder ins Digitale verlegte Filmfestivals, ein massives Wachstum der Streaming-Dienste, eine drastische verkürzte Zeit zwischen Kino- und Heimkino-Release, teils sogar gleichzeitig. Darum aber soll es im zweiten Teil unseres Jahresrückblickes 2021 nicht gehen, sondern stattdessen um die Frage: Welche Folgen hat diese Pandemie auf das, was wir auf der Leinwand respektive dem heimischen Fernseher sehen? Drei Punkte lassen sich ausmachen.

 

#1: Corona im Film

Eigentlich hat ja insbesondere Hollywood keine Scheu davor, reale Ereignisse schon nach kurzer Zeit aufzugreifen. Man denke, was die vergangenen Jahre betrifft, etwa an Boston, Deepwater Horizon, Sully, Captain Phillips, Zero Dark Thirty… Doch im Falle von Corona scheint das anders zu sein. Klar, die Bedingungen sind ja auch radikal anders. Einerseits ist dieses „Ereignis“ noch lange nicht abgeschlossen und in seiner Entwicklung höchst dynamisch — ein Drehbuch, das nun geschrieben wird, könnte sich innerhalb kürzester Zeit als veraltet erweisen. Andererseits ist das Thema hochbrisant, nicht nur politisch, sondern auch emotional-persönlich. Denn noch immer sterben täglich etliche Menschen infolge einer Corona-Infektion, und so dürfte zumindest in Hollywood die Hemmschwelle, eine unterhaltsame Großproduktion darum zu stricken, doch arg hoch sein.

Außer man heißt Michael Bay, hat so gar keine Scham und beschließt direkt zu Beginn der Pandemie, den Stoff in einen Sci-Fi-Thriller umzumünzen. Die Idee für Songbird entstand bereits im März 2020 (!), Bay fungierte als Produzent, im Sommer wurde gedreht, die Veröffentlichung hierzulande war im Februar 2021 über Amazon Prime — gefolgt von vernichtenden Kritiken. Zu Recht, denn die Geschichte, die im Jahr 2024 spielt und in der die Mutante Covid-23 noch gefährlicher, noch tödlicher ist, wirft ein, gelinde gesagt, fragwürdiges Bild auf das staatliche Pandemiemanagement, das sich als extrem restriktiv, fast schon faschistisch äußert. Damit untergräbt der Film Vertrauen in Wissenschaft und epidemiologische Maßnahmen, ob nun bewusst oder unbewusst, zeigt eine korrupte, willkürliche „Gesundheitselite“. Einem bestimmten Bevölkerungsteil dürfte das durchaus gefallen haben, doch Songbird zeigt exakt die Fallstricke, die eine filmische Verarbeitung der Corona-Pandemie zum Zwecke der Unterhaltung mit sich bringt.

 

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Effektiver gestaltet sich das, wenn stattdessen metaphorisch gearbeitet wird — und dafür scheint natürlich der Zombiefilm die erste Wahl zu sein. Auffällig war 2021 zwar, wie wenige Exemplare dieses zuvor so vitale Subgenre hervorgebracht hat (ist das Thema mal wieder durch oder war es angesichts der Pandemie einfach nicht en vogue?), hervor stach jedoch die in Taiwan gedrehte Produktion The Sadness (Start hierzulande im Frühjahr 2022), der mit unübersehbaren Parallelen zur Corona-Situation aufwartet. Von Verharmlosung über gesunde Gelassenheit bis hin zu fanatischer Überreaktion werden dort sämtliche gesellschaftlichen Reflexe abgedeckt; Ärzte, die vor heftigen Folgen warnen, werden im Fernsehen als Trottel hingestellt, während Politiker eher abwiegeln.

Etwas anders ging es Iuli Gerbase in The Pink Cloud an, der dieses Jahr einen wahren Festival-Lauf hinlegte und in dem eine rosa Wolke über die Erde zieht, die Menschen binnen Sekunden tötet. Der anfängliche Hinweis, jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen sei rein zufällig, ist allerdings angebracht, entstand das Drehbuch doch schon 2017. Ein Film also, der, wenn man so möchte, von der Realität überholt wurde.

Doch abseits dieser wenigen Beispiele? Da glänzt Corona im Wesentlichen mit Abwesenheit auf der großen Leinwand. Vielleicht auch deshalb, weil Masken und Abstand inszenatorisches Gift sind, wir die Gesichter der Menschen und ihre direkte Interaktion miteinander nicht sehen können. Vielleicht aber auch, weil Produzierende in der aktuellen Situation lieber Eskapismus und Ablenkung von der alltäglichen Bedrohung durch das Virus bieten wollen. Im seriellen Bereich zumindest griffen Grey’s Anatomy und New Amsterdam die Pandemie in ihren aktuellen Staffeln auf — als Krankenhausserien wäre es aber auch absurd, dies auszublenden, und auch der neue Drehbuch-Zündstoff war sicherlich willkommen.

Zwei Filmen gelang es dann aber doch, direkt Bezug auf Corona zu nehmen und qualitativ zu überzeugen. Der erste ist zugleich der Gewinner der diesjährigen Berlinale: Bad Luck Banging or Loony Porn des rumänischen Filmemachers Radu Jude. Der erzählt von der Lehrerin Emi (Katia Pascariu), deren Sextape von jemandem ins Internet gestellt wird, ist also kein Film über die Pandemie selbst, aber doch einer, der offen damit umgeht, dass er in ihr spielt. Deutlich wird das vor allem im ersten Drittel, Emi wandert hier durch weitestgehend leere Straßen, in den Supermärkten und an Haltestellen wird Maske getragen, das zunehmend spannungsgeladene gesellschaftliche Klima ist spür- und sichtbar. Im letzten Drittel, als während eines Elternabends die Sexvideo-Situation ausdiskutiert werden soll, ist seitens eines Vaters von „Gesundheitsdiktatur“ die Rede, das Ganze findet im Außenbereich und mit Abstand statt. Die Masken sorgen derweil für einen interessanten inszenatorischen Kniff: Während Emi haltlose Vorwürfe an den Kopf fliegen, bleibt ihre Mimik im Verborgenen, und so bleibt umso mehr Raum für die emotionale Interpretation des Geschehens.

 

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Film Nummer zwei: die französische Produktion 8 Rue de l’Humanité, der all das noch viel unmittelbarer angeht und sich auf die zunehmend spannungsgeladene Situation hinter den Fenstern und Türen Paris‘ im Zuge des Lockdowns fokussiert. Regisseur Dany Boon arbeitet sich humorvoll an verschiedensten Stereo- respektive Pandemietypen ab und zeigt den sozialen Spagat, der vor allem in der ersten Welle spürbar war: Einerseits das Eingeschlossensein in den eigenen vier Wänden, die Unausweichlichkeit von Konflikten, die bereits zuvor geschwelt hatten; andererseits ein neues Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl, das aus eben dieser Isolation resultierte und sich insbesondere in Großstädten zeigte.

 

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#2: Reduzierte Produktionen

Abgesehen von diesen wenigen Exemplaren scheint Corona vor der Kamera aber (noch) nicht wirklich angekommen zu sein — dafür umso mehr dahinter. Was sich nicht nur in Drehstopps und Nachdrehs (siehe Keine Zeit zu sterben) und zuweilen auch direkt aufgrund von Erkrankungen an den Sets zeigte. Sondern auch — und hier wird es spannend — in der teilweisen Verschlankung von Produktionsprozessen. Die Folge: minimalistische(re) Filme, in wenigen Tagen mit kleiner Crew und ein bis zwei DarstellerInnen realisiert. Eines der ersten Exemplare dieser Machart erschien Anfang des Jahres: Der Netflix-Film Malcolm & Marie ist ein Kammerspiel, das Regisseur Sam Levinson nach dem Corona-bedingten Drehstopp an der Serie Euphoria in Angriff nahm und während des Lockdowns in Kalifornien abdrehte. Vom 17. Juni bis 2. Juli dauerten die Arbeiten an, wobei die Crew den örtlichen Corona-Bestimmungen strikt folgte, sich vor, während und nach dem Dreh in Quarantäne begab, inklusive täglicher Temperaturchecks. Möglich wurde das durch die Reduktion der Crew und das Zurückfahren des Produtktionsstandards — die Credits von Malcolm & Marie sind, selbst wenn die Post-Production hinzugezählt wird, fast schon lächerlich kurz.

 

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Was auch für einen weiteren Netflix-Film gilt: Alexandre Ajas Oxygen. Die Sci-Fi-Geschichte um Melanie Laurent, die in einer Stasiskapsel erwacht und herausfinden muss, wer sie ist und wie sie hier gelandet ist, dauerte im Dreh zwar länger (fünf Wochen, Beginn im Juli 2020) als Malcolm & Marie, doch auch hier sorgte die Kammerspiel-Prämisse für eine einfachere Realisierbarkeit unter Corona-Bedingungen. Genannt werden muss in diesem Zusammenhang sicherlich auch The Guilty von Antoine Fuque, das US-Remake des gleichnamigen dänischen Films; ebenfalls ein Kammerspiel.

 

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Es geht aber noch minimalistischer. Die von Natalie Morales inszenierte RomCom Language Lessons (zu sehen gewesen bei der Berlinale) etwa setzte passend zum Inhalt auf Webcam-Ästhetik: Wie ein Homevideo anmutend und auch so gedreht, umfassen die Credits nicht einmal zwei Dutzend Menschen. US-Komiker und -Regisseur Bo Burnham (Eighth Grade) überraschte Mitte des Jahres mit seinem Netflix-Special Inside, dessen Titel bereits den Inhalt zusammenfasst: Entstanden in mehreren Monaten der Selbstisolation reflektiert Burnham über sein Leben, seine Gefühlsschwankungen und seine Probleme während des Lockdowns, und das mit einer spektakulären Inszenierung. Und auf praktisch eine Person schrumpfte die Crew beim deutschen Ausnahme-Selfmade-Projekt Dark Day zusammen, den der passionierte Drehbuchautor Farhad Shahed aus, wie er selbst sagt, Lockdown-Langeweile im Alleingang realisierte.

 

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DARK DAY from Farhad Shahed on Vimeo.

 

Dass Corona eine (zwangsläufige) Revolution in Sachen Produktionsverschlankung oder eine Verschiebung der allgemeinen Ästhetik hin zu Kammerspielen/Innenräumen und weniger Menschen vor der Kamera bewirkt hat — das wäre zu hoch gegriffen. Zumindest aber könnte es den Studios durchaus einen Anstoß geben, dann eben einmal doch ihr Geld auf schlankere, weniger problemanfälligere Projekte zu setzen. Die nächsten Jahre werden es zeigen.

 

#3: Streaming-Offensive

Die gute Nachricht zu Beginn: In Sachen Arthouse entwickelte sich Mubi in diesem Jahr zunehmend von einer Bibliothek zum Distributor, sprang mehrfach in die Bresche und bescherte uns kleine Großtaten wie Shiva Baby, First Cow, Cryptozoo oder Beginning. Doch erinnert sich noch jemand an den Video-Teaser, den Netflix Anfang des Jahres ins Netz pustete? In dem mit großen Worten die ganz, ganz große Liebe zum Film propagiert und wöchentlich neue Releases verkündet wurden? Nun ja, zumindest Ersteres wurde auch eingehalten — das mit der Liebe zum Film ist hingegen verhandelbar. Zwar gab es durchaus die ein oder andere Perle — The Power of the Dog, Die Mitchells gegen die Maschinen, The Harder they Fall, tick, tick… Boom -, vielfach jedoch waren das schlicht kluge Einkäufe seitens des Streaming-Giganten und eben keine exklusiven Eigenproduktionen.

 

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Letztere (sowie weitere Einkäufen) zeigten hingegen eine deutliche Tendenz zu durchschnittlicher Convenience-Ware: irgendwie unterhaltsam, aber vor allem auf Massentauglichkeit getrimmt, absolut gefällig und deshalb schnell vergessen. Beispiele? Red Notice, Outside the Wire, The Woman in the Window, KateAwake, Thunder Force, The UnforgivableBruised… Immerhin durfte sich Matthias Schweighöfer über die unbürokratische Verwirklichung seines Regiedebüts Army of Thieves freuen — womit wir beim Kern der Sache sind. Denn was sich schon in den Vorjahren zeigte, verhärtete sich in 2021 nochmals: Netflix‘ laxerer Umgang mit Budgets und Co. kommt zwar Filmschaffenden prinzipiell zugute, die nun nicht mehr auf die Gunst eines großen oder kleinen klassischen Studios und damit auf einen Erfolg angewiesen sind — nicht aber unbedingt dem Publikum. Denn natürlich glaubt man im Hause Netflix aufgrund von Datenanalysen genau zu wissen, was (und wen) das Publikum sehen will, und richtet seine Produktionen dementsprechend aus. Der andauernde Siegeszug von Netflix ist also eine Medaille mit zwei Seiten: einer Handvoll Prestige-Einkäufe steht eine Überzahl an filmischer Belanglosigkeit gegenüber. Mal sehen, was da 2022 geschieht.

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