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Das Verschwinden einer Kybernetik-Studentin auf dem Mars konfrontiert eine menschliche Privatermittlerin und ihren Androiden-Partner mit der ewig virulenten Frage: Was, wenn sich Maschinen gegen ihre Schöpfer*innen richten? Scifi-Animationskino mit tollen Bildern und spannenden Überlegungen.

Mars Express (2023)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Freiheit für Maschinen

Kritiker*innen monieren an Filmen gerne fehlende Originalität, schießen dabei aber manchmal übers Ziel hinaus. Auch ein kluger Mix bekannter Versatzstücke und Ideen kann faszinierend sein und einen ganz eigenen Sog entfalten. Beleg gefällig? Bühne frei für das französische Science-Fiction-Animationswerk „Mars Express“, das 2023 in Cannes seine Uraufführung feierte! In seinem abendfüllenden Regiedebüt befasst sich Jérémie Périn mit einer uralten Genrefrage: dem Verhältnis zwischen Menschen und Maschinen. Darum herum kreiert er allerdings eine hochinteressante Zukunftswelt, die man wohl erst nach mehrmaliger Sichtung in all ihren Einzelheiten erfassen kann.

Im Jahr 2200 sind Roboter aus dem durchtechnisierten Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken. Gleichwohl fliegen den automatisierten Helfern keineswegs die Sympathien zu. Vor allem auf der Erde, die als Drecksloch voller Arbeitsloser beschrieben wird, herrscht eine Antistimmung. Ein wütender Mob protestieret in den Straßen, stellt die eigene Überlegenheit heraus und hat keine Skrupel, Maschinen blindlings zu zerstören. Auf dem längst kolonisierten Mars sieht es etwas anders aus. Eine gewisses Skepsis ist zu spüren, die Interaktionen verlaufen jedoch entspannter. Für ein Gefühl der Sicherheit sorgen in die Programmierung eingeschriebene Regeln, die an die Robotergesetze des Scifi-Pioniers Isaac Asimov gemahnen.

Neuerdings geht auf dem Roten Planeten, dessen Hauptstadt Noctis unter einer gigantischen Kuppel liegt, aber die Angst vor synthetischen Wesen um, die sich plötzlich ihrer Zwänge entledigen. Genau damit müssen sich die Privatermittlerin Aline Ruby und ihr beruflicher Partner Carlos Rivera, ein Androide mit menschlichem Bewusstsein, beschäftigen. Das Verschwinden der Kybernetik-Studentin Jun Chow, die offenbar einen Roboter von seiner Codierung befreien konnte, führt das Duo auf die Spur einer Verschwörung mit weitreichenden Folgen.

Star des Films ist nicht so sehr der Plot. Der ist gelegentlich mit Actionakzenten angereichert, kann besonders auf der Zielgeraden Nervenkitzel produzieren, kommt aber manchmal ein wenig gehetzt daher. Nein, Eindruck macht vor allem das von Regisseur Périn und Ko-Drehbuchautor Laurent Sarfati erdachte Universum. Maschinenkatzen, deren Fell man abstreifen und waschen kann, telepathisch geführte Unterhaltungen, Selbsthilfegruppen für sogenannte Backups, Menschen, die nach ihrem Tod als Androiden weiterleben, geistige Verschmelzung von Robotern, die einem Sexakt ähnelt, die Möglichkeit, das eigene Gedächtnis zu vermieten, um nur ein paar Beispiele zu nennen – Mars Express malt das Bild einer aufregenden, irgendwie aber auch beunruhigenden Zukunft an die Wand. Beunruhigend nicht nur, weil die Technik in alle Lebensbereiche eingreift. Auch, weil zwischenmenschliche Beziehungen auf dem Rückzug sind. Künstliche Liebhaberinnen könne er, wenn sie ihm auf die Nerven gehen sollten, einfach abschalten, merkt der Professor der vermissten Jun im Gespräch mit Aline lapidar an. Eine Gesellschaft, die puren Narzissmus kultiviert? Nicht gerade erstrebenswert!

Kapitalismusexzesse und Klassenunterschiede greift der Film zwischendurch auf, verliert aber nie sein zentrales Thema aus den Augen: die Frage nach den Absichten und dem Freiheitsdrang der Maschinen. Aline und Carlos geben ein eingespielt wirkendes Team ab, wobei witzigerweise der Androide die reizvollere Backstory erhält. Der weiblichen Ermittlerin wird als Haupteigenschaft das kinotypische Detektivleiden Alkoholsucht angepappt. Sonderlich plastisch erscheint sie dadurch nicht. Bei Carlos hingegen schlummert eine schmerzhafte, dunkle Seite, die in einigen pointierten Szenen zu Tage tritt. Noch vor seinem Tod und dem Hochladen seines Bewusstseins in den Roboterkörper ging seine Ehe in die Brüche, unter anderem wegen häuslicher Gewalt – weshalb ihm seine inzwischen neu liierte Ex-Frau den Kontakt mit seiner Tochter verwehrt.

Beeinflusst vom japanischen Anime-Stil, schlägt auch die betont nicht fotorealistische Gestaltung in den Bann. Mars Express sieht anders aus als typisches US-amerikanisches Animationskino, ist optisch ein wenig mit der SuperheldenSerie Invincible auf Prime Video vergleichbar. Als Inspirationsquelle dürfte zudem die Ästhetik des klassischen Film Noir gedient haben. Denn wiederkehrend werden in Périns Detektivgeschichte Gesichter oder Körper von Schatten regelrecht zerschnitten. Einprägsame Bilder findet der Science-Fiction-Krimi nicht zuletzt für sein nachdenklich stimmendes Ende, das im Abspann mit dem sphärischen Song A Million Miles Away abgerundet wird.

Mars Express (2023)

Im Jahr 2200 verschwindet in der Mars-Stadt Noctis die Robotikstudentin Jun Chow spurlos. Privatdetektivin Aline Ruby und Android Carlos Rivera werden angeheuert, sie zu suchen – doch sie sind nicht die Einzigen. Während das Schnüfflerduo dabei immer tiefer in die Schattenwelt der Hauptstadt des Roten Planeten vordringt, kreisen die Ermittlungen um zwei Fragen: Welche Rolle spielt Juns Verschwinden im Kampf zwischen Robotern und Menschen, und wie gelingt es immer mehr Androiden, ihre Programmierung zu überwinden, um sich gegen ihre Besitzer aufzulehnen?

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