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Kunst, Punk, Straße. Laut, aber zitierbar. So begleitet „Berlin Utopiekadaver” den ewigen Kampf für Diversität im urbanen Chaos.

Berlin Utopiekadaver (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Kunst gegen Kapital

- Uto·pie

Wunschbild (von der Zukunft), das in der Vorstellung von Menschen existiert, aber [noch] nicht Wirklichkeit ist

- Ka·da·ver

toter, in Verwesung begriffener, Körper eines Tiers, auch menschliche Leiche

Was ist also ein Utopiekadaver? Mit einem Zitat von Schriftsteller Antonio Gramsci kann man sich annähern: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster”.

Berlin Utopiekadaver ist ein Porträt der linksautonomen Szene in Berlin. Der Dokumentarfilm begleitet die forcierten Auflösungen von sozialen Räumen wie der „Potse“, dem „Köpi“ oder dem „Liebig 43“. Bilder, Protagonist:innen und Ereignisse – Regisseur Johannes Blume verzichtet auf eine Stimme aus dem Off. Die Bilder sprechen für sich. Demonstrant:innen auf der einen Seite, Polizist:innen auf der anderen. Im Zentrum: die Frage nach Duldung. Berlin Utopiekadaver entscheidet sich bewusst dafür, ausschließlich eine dieser beiden Seiten zu Wort kommen zu lassen und will so eine Leerstelle im Diskurs schließen. Mehr als die spezifische Ideologie steht immer wieder die aus den Protesten gewachsene Kunst im Fokus.

Zwischen Punk-Konzerten und anarchistischen Hymen: Musik ist die Sprache des Protestes, und wir lernen die sonst so ominösen Räume kennen – sie werden lebendig. Ähnlich wie in Gaspar Noés Film Vortex (2021) beobachtet man bei den Räumungen den Tod eines Ortes. Ob tot oder lebendig, Berlin Utopiekadaver projiziert die zitierbaren Texte auf die Oberfläche der Sichtbarkeit.

Kameramann Andrej Johannes Thieme gelingt es, Aufnahmen von unfassbarer Zerstörung einzufangen und gleichzeitig jegliche Art von Gewalt gegen Menschen zu vermeiden. Die sichtlich aufgeregte Kamera fängt den Durchbruch der Polizei in den „Köpi Wagenplatz“ und dessen vollständige Vernichtung ein. Schwere Reifen rollen über im Verlauf von 30 Jahren produzierte Kultur. Ganz ruhig wird es dagegen, wenn schließlich auch die „Potse“ geräumt werden muss. Stumm sieht man die Protagonist:innen Erinnerungen und Patina von den Räumen kratzen. „Darf die Presse nachher hier rein?“, fragt eine der Besetzer:innen bezüglich der Schlüsselübergabe. „Nein“, lautet die Antwortet. Ein Aufatmen. Es geht nicht um Scham, die Potser:innen stehen stolz neben ihrem Werk; einem verwüsteten zweiten Zuhause. Die Frage zeugt vielmehr von einem universellen Misstrauen, einer Angst vor Presse, Öffentlichkeit und Medien. Zu Recht, so sind einseitige Narrative gegenüber den Autonomen nicht selten. Das macht die Errungenschaft des Regisseurs nur beeindruckender, nah heranzukommen, ohne das Subjekt ausbeuterisch gegen sich selbst auszuspielen.

Im Laufe des Films wird eines klar: Die Patina, die liegt nicht nur auf den bemalten Wänden der Jugendzentren. Manche der Linksautonomen führen diesen Kampf nicht erst seit gestern. Kraft schwindet, Geduld geht verloren; was bleibt ist eine Entfremdung von der Stadt, die „auch uns gehört“ – so einer der Protagonisten. Klassenkampf und Ausbruch aus der Verwertungslogik umspannt Generationen. Ein Taxifahrer, der dem Film einen örtlichen roten Faden verleiht, entpuppt sich schlussendlich als Ikone der Berliner Protestkultur, der großväterlich über den Prozess der Gentrifizierung aus erster Hand berichtet.

Dabei sind die Autonomen nicht die ersten, die von der Revitalisierung urbaner Strukturen träumen. In den 1960ern spross die New York Undergroundszene Fluxus um John Cage, Jonas Mekas oder Joseph Beuys aus den illegalen Kneipen und Hinterzimmern. Der Vergleich zur kämpferischen Ästhetik der Autonomen liegt eigentlich auf der Hand. Es lässt sich jedoch ein interessanter Unterschied feststellen: Das Kunstwerk ist zum rein sozialpolitischen Gestus geworden. Das Chamäleon (ein Werk einer der Protagonist:innen) zum Beispiel, eine große Skulptur, die über Straße und Autos hinweggezogen werden kann, soll den öffentlichen Raum dekontextualisieren. Geschaffen wird, um zu verändern. Alle Kunst ist Protestkunst. Betrachtet man die Fluxusszene, war diese ebenfalls hoch politisiert, geprägt vom „Dagegensein“, allerdings war das Werk dort Selbstzweck und politisch zog man nicht an einem Strang. 

Berlin Utopiekadaver schafft es teils nicht, sich von seinen starken Figuren zu lösen. Der Unmut einzelner verdeckt das große Ganze. Schaut man sich verwandte Filme über Protestkunst wie All The Beauty And The Bloodshed (2022) oder Moon Is The Oldest TV (2023) an, so fällt auf, dass es diesen Dokumentarfilmen besser gelingt, den Inhalt der Kunst oder des Protestes in der Form des Films unterzubringen. Man wünscht sich gelegentlich mehr Mut mit der Kamera. 

Berlin Utopiekadaver fügt dem öffentlichen Diskurs eine Seite hinzu, die häufig unter den Tisch fällt. Aus einer Schieflage wird eine Einseitigkeit – erfrischend, aber sicherlich unjournalistisch. Eine Reportage will der Film aber auch gar nicht sein, Berlin Utopiekadaver ist ein Dokumentarfilm mit klarer Meinung, und ein Appell gegen die Hufeisentheorie. Die alte Welt liegt im Sterben. Was ist nun ein Utopiekadaver? Eine Dystopie? Diese Frage muss das Publikum beantworten, begleitet von den Bildern der Kulturvernichtung in Berlin, 2021.

Gesehen auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis 2024.

Berlin Utopiekadaver (2024)

Eine „Räumungswelle“ erfasst Berlin. Die letzten linksautonomen Hausprojekte sollen aufgelöst werden und ihre Bewohner*innen aus der Stadt verschwinden. Der Film zeigt verschiedene Generationen einer Subkultur, die von sich erzählen, um ihre Existenz kämpfen, aber auch gemeinsam tanzen und weinen. (Quelle: Filmgalerie 451)

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