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Western trifft auf Realismus, Realismus auf Mystik: „Eureka“ führt auf einen meditativen Traumtrip durch Zeit und Raum.

Eureka (2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Zeit, aufgelöst

Wortkarg und bildgewaltig führt Lisandro Alonso das Publikum vom Genre in die Mystik, von Typen zu Figuren, vom Früher ins Heute und wieder zurück: „Eureka“ ist auf ungewöhnliche Art spannend, auf mysteriöse Art spielerisch, auf sehr exakte Art vage. 

Der Beginn: schwarzweiß und im 4:3-Format, ein Indianer trommelt, ein Revolverheld in einer Kutsche, neben ihm ein Kindersarg. Die Kutscherin wirft ihn raus, es ist nicht weit bis in die Wildweststadt, sie lacht sich danach ins Fäustchen. Über die Berge stolpert dieser alternde Westmann namens Murphy, gespielt von Viggo Mortensen, und Regisseur Alonso macht sich einen Spaß daraus, die Western-Genrestandards einerseits einer realistischen Version einer frontier town anzugleichen, mit Schnapsleichen und halbnackten Prostituierten, die die Glücksritter abfangen. Andererseits führt er dieses Western-Setting hinüber in seine Vision der Wirklichkeit als reine Übergangsstation, in der jeder Zustand nur temporär ist.

Im Saloon trifft Murphy auf eine revolverumgürtete Frau, El Coronel genannt und gespielt von Chiara Mastroianni. Er checkt in ein Hotel ein, das macht er besonders cool, mit einem Kopfschuss. In seinem Zimmer: zwei Leichen im Bett. Er sitzt am Fenster und guckt. Dann dringt er in ein Haus ein und erschießt alle, unter anderem Rafi Pitts in der Badewanne, weil er auf der Suche nach seiner Tochter ist. Aber da sind wir schon im Haus von Alaina, die sich gerade für ihren Dienst fertigmacht. Denn obwohl in diesem altmodisch schwarzweißen „Western“ ziemlich viel auf Kunstfilm hindeutet – lange Einstellungen und lange Blicke und das parodistisch-realistische Setting beispielsweise –, war es wohl einfach ein Fernsehfilm, der nun für den Wetterbericht unterbrochen wird. Alaina tritt ihren Dienst an, als Polizistin im Pine-Ridge-Reservat der Lakota-Oglala.

Wir sind ins zweite Filmkapitel hinübergeglitten, vom Wilden Westen geraten wir in das soziale Drama der Indigenen in den heutigen USA, wo Alkohol und andere Drogen die Perspektivlosigkeit nicht vergessen lassen können. Wo Alaina erst einmal ein junges Mädchen sucht und nur auf besoffenes Gebrabbel trifft, wo sie später einen Streit inklusive Messer zwischen einer 15-jährigen Schwangeren und ihrer Mutter schlichten muss, wo sie dann noch einen halbkomatösen Säufer aus seinem Auto zerren und im Casino einer Schießerei nachgehen muss. 

Parallel die Geschichte ihrer Nichte Sadie, Basketballcoach, aber mit deren Storyline führt sich die Filmhandlung dann langsam und absichtsvoll in ihre eigene Auflösung hinein. Alonso verwendet viel (subtile) Sorgfalt darauf, seine Figuren von sich selbst und vom Film entrücken zu lassen. Irgendwann meldet sich Alaina nicht mehr über Funk, sie starrt in den fallenden Schnee. Irgendwann wird Sadie von ihrem Großvater einen Trunk bekommen, der sie auflöst, in eine andere Sphäre enthebt. Die Einstellungen der Kamera, die Blicke der Protagonistinnen dauern immer länger, der Film strebt die eigenen Transzendenz an, denn, wie es einmal heißt: Space, not time. Zeit ist Fiktion, eine bloße Erfindung des Menschen.

Ein Marabu dient als Totem/Totenvogel, der brasilianische Dschungel Anfang der 1970er, ein Schamane, ein Gruppe, die ihre Träume teilt, ein Goldgräberlager… Lisandro erzählt von denen, die nicht in ihre Zeit passen, die nichts mehr erreichen können, weil es kein Ziel mehr gibt und die nichts mehr zu verlieren haben, weil sie selbst verloren sind. Er weiß genau, wohin er mit Eureka will, nämlich vom Konkreten ins Abstrakte, von der Genrestory in den Mythos, vom Realismus ins Geheimnis. Und er weiß, wie er all seine Episoden und Kapitel einander durchdringen lassen kann, um einen großen, traumähnlichen Film zu schaffen. Am Ende tritt erneut, in anderer Zeit und anderem Raum und in anderer Person, El Coronel auf. Und im Lakota-Reservat recherchiert eine Schauspielerin für eine Westernrolle — wahrscheinlich für den Western, der zuvor schon im TV gelaufen ist.

Eureka (2023)

Eureka ist ein Vogel, der über verschiedene Landschaften des amerikanischen Kontinents durch Raum und Zeit fliegt. Eureka mag die amerikanischen Ureinwohner. Mit etwas Glück werden wir dank ihrer Worte verstehen, wie schwierig es ist, zu Menschen zu werden.

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