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Lola Arias kombiniert Dokumentarfilm und Musical, Tränen und Tänze, Liebe und Lieder: ein berührendes Bühnenstück im argentinischen Frauengefängnis.

Reas (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Vertonte Schicksale

Im Gefängnis hat man einen Stempel auf dem Kopf; im Gefängnis darf es einem schlecht gehen, muss es doch sogar – Nein! Unser Bestrafungsapparat – der Menschenwürde teils verschwinden lässt – ist ein großer blinder Fleck im moralischen Verständnis. „Reas“ von Lola Arias zeigt genau das: Im Gefängnis leben Menschen. Nicht frei-, doch manchmal auch nicht widerwillig; wenn all der Glauben an eine Welt verloren ist, geben kalte Gitterstäbe eine Art Zuhause. Auf sich allein gestellt, kommt Yoseli (vermutlich unschuldig) ins Gefängnis. Zigaretten sind erst Währung, dann Weg der Annäherung; erst Kennenlernhilfe, dann: „Wir spielen in einer Band, willst du mitmachen?“. Und so bilden sich Freundschaften, eine Liebe und sogar eine Hochzeit.

Die sonst eher für ihre Theaterstücke bekannte Regisseurin plante zunächst die Insassen des argentinischen Frauengefängnisses mit ihrer Kamera zu begleiten; als das Covid und der damit verbundene Lockdown unmöglich machten, inszenierte sie die aus Erinnerung gezogenen Erfahrungen der Frauen vollkommen neu. Entstanden ist dabei ein Film, der mit unglaublichem Fingerspitzengefühl Schichten von Misshandlung und Ungerechtigkeiten entfernen kann. Ebenso wie die Mauer die Insassen von der Außenwelt trennt, gebar die Unmöglichkeit des ursprünglichen Konzeptes eine neue Kreativität – einen vermutlich weitaus interessanteren Film. All die nur zu erahnenden Emotionen, die unter der Oberfläche brodeln, dürfen endlich an die Luft und atmen. Töne dürfen unperfekt bleiben. Tränen sind echt und vorurteilsfrei.

Der Begriff des Dokumentarfilms ist ebenso vielschichtig, wie die Möglichkeiten seiner Ausführung. Während man unter einem „journalistischen Dokumentarfilm“, einen gewissen Wahrheitsanspruch vermuten kann, unterläuft das Medium per se jegliche Erwartung gegenüber der Wahrheit. Doch selbst dieser medialen Konstruktion steht wohl kein Genre so fern wie das Musical. Reas ist eine Vertonung von geschehenem Trauma, durch die verzerrende Linse des Kinos und sich dabei keine Sekunde zu schade, in bühnenhafte Musikstücke auszubrechen.

Ebenso bricht die Regisseurin aus ihrem eigenen Gefängnis aus, wenn sie selbst diesen abstrakten Rahmen eines „Musical-Dokumentarfilms“ sichtbar werden lässt und die Gemachtheit ihrer Szenen offenlegt. Statt postmodern-gestelzt wirkt dies hauptsächlich charmant – man kann nicht anders als zu lächeln, wenn die Protagonistin einem plötzlich mitten in die Augen schaut und sagt: „Ich habe meinen Text vergessen“.

Abgesehen von komödiantischem Aufatmen, zeigt sich Arias vollkommen bewusst darüber, dass das Durchspielen spielen und Wiederdurchleben der traumatischen Erinnerungen keineswegs akkurat, sondern Theater ist. Deswegen ist es umso spannender, dass Reas wohl ein reines Theaterstück geplant hat – und dies bald ebenfalls  aufgeführt werden soll. Ob dies auch in Deutschland zu sehen sein wird, steht allerdings bisher nicht fest.

Während die Beziehung, Identität und das Begehren der Charaktere ständig in Bewegung bleiben, ist nur das Gesetz starr. Die einzige Spur dieser Gewalt lässt sich im kurzen Auftauchen von Händen erhaschen, die Yoseli das Schuldbekenntnis zum Unterschreiben vorlegen. Diese Hände – die auf den unsichtbaren Staatsapparat verweisen – sind das einzige Zeichen der Gewalt von außerhalb der Mauern. Aber das spielt keine so große Rolle. Hier im Gefängnis herrschen eigene Regeln.

Die Gruppendynamik der Insassen leuchtet unberührt von Kategorisierung und Stempeln. Die Kamera blickt dabei zwar auf einzelne Schicksale, doch stellt die Linse vielmehr auf die Struktur des Gefängnisses scharf, und leistet damit eine feine Beobachtung eines ganz spezifischen Ortes. Im letzten Augenblick fliegt die Kamera davon, und Mauern sind plötzlich nicht viel mehr als dünne Striche, umzingelt von der restlichen Stadt, in der das Gefängnis wie eine Insel untergeht.

Gesehen auf dem internationalen Frauenfilmfest Köln+Dortmund

 

Reas (2024)

Sanft — kantig, blond — rasiert, cis — trans; erfahren oder neu: Im „Caseros“-Knast von Buenos Aires re-enacten Frauen ihre Leben, in Trance-Balance, beim Voguing und in der Band. Empowerment im Kollektiv.

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