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Anna Maria Mühe – Gesicht einer deutschen Kinogeneration

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

In „Die Geschichte einer Familie“ ist Anna Maria Mühe aktuell auf der Leinwand zu sehen. Wir blicken zurück auf den Werdegang einer Schauspielerin, die um die 2000er Jahre zur Entwicklung eines aufregenden jungen deutschen Kinos beigetragen hat.

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Anna Maria Mühe Feature
Damals und heute: Neben Karoline Herfurth in "Große Mädchen weinen nicht", in "Novemberkind" und in "Die Geschichte einer Familie"

Es gab eine Zeit, da meinte die 1985 in Ost-Berlin geborene Anna Maria Mühe, sie „habe noch nicht das Recht“, sich als Schauspielerin zu bezeichnen. Das war im Jahre 2007. Die Branche hatte sie da bereits mit diversen Nominierungen und Preisen bedacht, darunter die Goldene Kamera. Aber Mühe fand, sie müsse „noch ein bisschen älter werden“ und Erfahrungen sammeln, um dem Beruf gerecht werden zu können.

Als Kind aus einem künstlerisch aktiven Umfeld – als Tochter von Jenny Gröllmann (1947-2006) und Ulrich Mühe (1953-2007) und als Stieftochter von Susanne Lothar (1960-2012) – musste Mühe zunächst auch gegen das Vorurteil ankämpfen, sich den beruflichen Weg nicht selbst erarbeitet zu haben. Sie selbst bezog dazu indes immer ganz klar Stellung. Sie sei nicht durch ihre Eltern an den Beruf herangekommen: „Ich habe meinen Eltern nie irgendeine Frage gestellt und sie auch nie gefragt, ob ich eine Rolle spielen soll oder nicht.

Sturm und Drang auf großer Leinwand

Zu ihrem Kinodebüt vor der Kamera kam es, als sie von der Filmemacherin Maria von Heland im Alter von 15 Jahren in einem Berliner Lokal entdeckt wurde. In Große Mädchen weinen nicht (2002) agiert Mühe als Protagonistin neben Karoline Herfurth, die nach Auftritten in Werken wie Crazy (2000) und Mädchen, Mädchen (2001) gerade ebenfalls am Beginn einer Karriere als Nachwuchsstar stand.

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Mühe und Herfurth zählen, wie etwa auch Robert Stadlober, Tom Schilling, Julia Hummer, Jana Pallaske, Jessica Schwarz, Daniel Brühl und August Diehl, zu einer zwischen 1976 und 1985 geborenen Generation, die das junge deutsche Kino um die Jahrtausendwende maßgeblich prägte – ähnlich wie dies in den 1980er Jahren einer Brat Pack genannten Riege von Teen-Idolen (darunter Judd Nelson, Molly Ringwald, Ally Sheedy, Emilio Estevez, Anthony Michael Hall, Rob Lowe und Andrew McCarthy) in etlichen US-Coming-of-Age-Movies jener Dekade, wie The Breakfast Club (1985), St. Elmo’s Fire (1985) und Pretty in Pink (1986), gelungen war.

Der deutsche Film hatte dank der Energie von Mühe, Herfurth und Co. plötzlich etwas erstaunlich Frisches, das zuweilen viel Spaß machen, jedoch auch sehr intensiv und ernsthaft sein konnte. Große Mädchen weinen nicht und die Art, wie Mühe darin den Part der Schülerin Kati verkörpert, sind für diese spannende und glühende Phase des deutschen Kinos ein Paradebeispiel. Während Charakterdarsteller:innen wie Matthias Brandt und Gabriela Maria Schmeide als Elternfiguren im Hintergrund in Erscheinung treten, bringen Mühe und Herfurth als beste Freundinnen, die in einen Konflikt miteinander geraten und erste, oft schwierige Schritte des Erwachsenwerdens erleben, voller Leidenschaft das Auf und Ab an verwirrenden Gefühlen zum Ausdruck – ohne Halt und ohne das Bemühen, dabei immer absolut sympathisch und nett zu wirken.

Ambivalente Charaktere

Genau das spricht Mühe in einem Podcast-Interview an: Es gehe ihr nicht darum, Sympathieträgerinnen zu spielen, sondern Figuren, die sich verändern dürfen. An ihren Durchbruch mit Große Mädchen weinen nicht schloss sie als nächste Kino-Arbeit das historische Drama Was nützt die Liebe in Gedanken (2004) von Achim von Borries an. Auch hier vermittelt sie gemeinsam mit ihren Co-Stars Brühl, Diehl, Pallaske und Thure Lindhardt nachhaltig die juvenile Halt- und Orientierungslosigkeit.

Das Skript basiert auf der sogenannten „Steglitzer Schülertragödie“ aus dem Jahre 1927, bei der es zu einem Suizid nach vorausgegangenem Tötungsdelikt gekommen war. Der Film fängt die Entwurzelung der adoleszenten Figuren ein, zeigt die amourösen und sexuellen Ausschweifungen in einem Berliner Sommerhaus an einem heißen Wochenende – und begeht in der Darstellung des Milieus weder den Fehler, sein Personal und dessen Verhalten moralisch zu verurteilen, noch den rückhaltlos ausgelebten Rausch unreflektiert zu glorifizieren.

Diese Gratwanderung sowie der konsequente Stil sind zum einen das Verdienst des Drehbuchs, der Regie und der Bildgestaltung, und zum anderen dem nuancierten Spiel von Mühe und deren Leinwandpartner:innen zu verdanken. Die von Mühe verkörperte Hilde hat bei aller Offenherzigkeit zugleich etwas faszinierend Unnahbares. Sie ist Teil eines fatalen Liebespentagons, aus dem letztlich niemand glücklich hervorgehen kann. Die Presse lobte seinerzeit die Kompromisslosigkeit des Werks sowie die hervorragende Fotografie und die Leistungen des Ensembles.

Auch wenn Mühe es sich, wie anfangs erwähnt, an diesem Punkt selbst noch nicht zugestehen wollte: Ganz gewiss war sie da schon eine äußerst bemerkenswerte Schauspielerin – und ein Star, der nun auch über deutsche Grenzen hinaus zu strahlen begann. So wurde sie auf dem Copenhagen International Film Festival als beste Darstellerin mit dem Goldenen Schwan ausgezeichnet. Dass sie obendrein ein Multitalent ist, bewies sie, indem sie zum Soundtrack von Was nützt die Liebe in Gedanken zwei Lieder als Sängerin beitrug.

Karrierewege

Mühe trat in den folgenden Jahren – wie sie es auch bis heute noch tut – häufig in Fernsehproduktionen auf, etwa in Episoden der populären Krimi-Reihen Tatort und Polizeiruf 110 sowie in TV-Filmen wie Meine böse Freundin (2007). Dennoch blieb sie dem Kino treu – und vermochte mit ihren Rollen immer wieder Eindruck zu hinterlassen.

So beispielsweise in Ed Herzogs Schwesterherz (2006) an der Seite von Heike Makatsch und Sebastian Urzendowsky. Das von Makatsch mitverfasste Skript beschreibt das komplizierte Verhältnis zwischen den ungleichen Schwestern Anna (33) und Marie (18), das bei einem gemeinsamen Urlaub im spanischen Benidorm in Rivalität umschlägt.

Mühe kommt dabei der ruhigere Part zu: Marie ist deutlich stiller und zurückhaltender als ihre ältere Schwester, allerdings dennoch eine selbstbewusste Person. Sie ist überdies wesentlich zielstrebiger als die Figuren, die Mühe bis dato im Kino verkörpert hatte. Während Makatsch das Geschehen als gestresste und zur Aggression neigende Musikmanagerin dominiert, lässt Mühe uns durch Blicke und Gesten spüren, wie Marie allmählich die Bewunderung für Anna abhandenkommt. Nebenbei muss auch Marie, wie zuvor etwa schon Kati in Große Mädchen weinen nicht, diverse Hürden des Erwachsenwerdens überwinden.

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In Christian Schwochows Debütfilm Novemberkind (2008) übernahm Mühe dann sogar eine Doppelrolle: als junge Mutter (in Rückblenden) und als erwachsene Tochter. Das Werk schildert, wie eine Frau in den 1980er Jahren, zu DDR-Zeiten, zusammen mit einem russischen Deserteur aus dem mecklenburgischen Malchow in den Westen flieht – sechs Monate, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht hat, das sie bei den Großeltern zurücklassen muss.

Im November 2007 begleiten wir Inga, die Tochter, die im Glauben aufwuchs, ihre Mutter sei früh verstorben. Durch einen Literaturprofessor (gespielt von Ulrich Matthes) erfährt sie die Wahrheit (beziehungsweise einen Teil davon), woraufhin sie sich auf Spurensuche begibt. Mühe zeigt uns im Strang um Inga einen Menschen, der sich im eigenen Umfeld plötzlich einem Lügengeflecht ausgesetzt sieht. Sie drückt Ingas Wut und Enttäuschung aus – im Endeffekt jedoch auch deren Willen, sich die persönliche Geschichte und Vergangenheit nicht von anderen erzählen zu lassen, sondern sich diese zu eigen zu machen. Somit erfolgt in Novemberkind letztlich eine Emanzipation. Von der Kritik erhielt Mühe durchweg positive Reaktionen für ihr anspruchsvolles Spiel zweier Rollen auf zwei Zeitebenen.

Neue Herausforderungen

In komödiantischen Mainstream-Produktionen wie Peter Thorwarths Nicht mein Tag (2014) und Marc Rothemunds Mein Blind Date mit dem Leben (2017) sowie in kleineren Parts in Filmen wie Julie Delpys Die Gräfin (2009), Bernd Böhlichs Bis zum Horizont, dann links! (2012) und Alain Gsponers Jugend ohne Gott (2017) demonstrierte Mühe ihre Vielseitigkeit. Darüber hinaus war sie etwa in Hans W. Geißendörfers Liebes- und Suchtdrama In der Welt habt ihr Angst (2011) in einer Hauptrolle auf der Leinwand vertreten. In der 2016 gestarteten ZDF-Reihe Solo für Weiss ist Mühe als titelgebende Zielfahnderin beim LKA zu sehen – und auch in der österreichisch-deutschen Serie Totenfrau, die hierzulande auf Netflix streambar ist, steht sie im Zentrum. Durch die Netflix-Produktion Dogs of Berlin, in der Mühe die Geliebte des Anti-Helden spielt, ist womöglich noch mal eine neue Generation auf Mühe aufmerksam geworden.

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Und jetzt ist sie mit Karsten Dahlems Die Geschichte einer Familie im Kino zu erleben. Auch dieser Film schildert seinen Plot auf zwei Zeitebenen. Zwar verkörpert Mühe hier keine Doppelrolle – sie muss ihre Figur aber in zwei sehr unterschiedlichen Lebensabschnitten, mit einer Distanz von sieben Jahren, für uns zum Leben erwecken, in dicht erzählten 85 Minuten. Wir sehen zum einen in Rückblenden eine junge Frau, die kurz davorsteht, gemeinsam mit ihrem Freund der Provinz zu entfliehen – und zum anderen einen völlig desillusionierten Menschen, der durch eine Tragödie die Kontrolle verloren hat. Sowohl die jugendliche Leichtigkeit als auch die Schwere und Schuld, unter der die Protagonistin später leidet, bringt uns Mühe eindringlich näher.

Das nächste vielversprechende Kinoprojekt ist bereits angekündigt: Im Roadmovie Sophia, der Tod und ich, dem Spielfilm-Regiedebüt des Charakterdarstellers Charly Hübner, wird Mühe mit Dimitrij Schaad und Marc Hosemann eine unkonventionelle Reise antreten. Mühe sammelt nun schon seit vielen Jahren Erfahrung und bleibt dabei interessant und abwechslungsreich – und wir sehen ihr gerne weiter dabei zu.

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