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Immagini magiche: Wer das moderne italienische Kino prägt

Die Bedeutung italienischer Filmemacher für die Kanons ist unbestreitbar. Keine Bestenliste kommt ohne Fellini, Antonioni oder Sergio Leone aus. Aber wie steht’s um das moderne italienische Kino? Hat es Markenzeichen? Bezieht es sich auf die (Film-)Geschichte? Zum Start von Matteo Garrones „Ich Capitano“ nehmen wir ihn und Zeitgenoss*innen unter die Lupe.

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Pietro Marcello: Dokufiktionale Fabeln

Pietro Marcello eint einiges mit seiner Kollegin Alice Rohrwacher: Er betrachtet Italien anhand von Fabeln oder anhand surreal überhöhter Vergangenheit. Dass die Filme über das Jetzt sprechen, wird besonders deutlich, wenn die Vergangenheit gar der Zeit enthoben scheint. Wann Martin Eden spielt? Unklar. Die historischen Markierungen in Glücklich wie Lazzaro? Widersprüchlich.

Auch Konflikte zwischen Tradition und Moderne ziehen sich durch beide Filmografien. Darin spiegeln sich die schon lange andauernden sozialen Konflikte zwischen dem städtischen Norden und dem landwirtschaftlich geprägten Süden Italiens. Pietro Marcello betrachtete zuletzt aber auch Europa: Die Purpursegel spielt in Frankreich, kurz nach dem Ersten Weltkrieg.

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Marcello studierte einst Malerei, war dann als sozialkritischer Dokumentarfilmer auf den Straßen Neapels unterwegs und entwickelte daraus schließlich den märchenhaften Stil seiner Spielfilme, was nur scheinbar ein Widerspruch ist und sich vielmehr als Update des Neorealismus verstehen lässt. Das zeigt etwa Bella e perduta – Eine Reise durch Italien. Das Projekt begann als Dokumentarfilm über einen einfachen Hirten aus Kampanien, der aber noch während der Dreharbeiten verstarb. Das greift nun eine fiktionale Handlung auf: Pulcinella, eine Figur aus der Tradition des Maskentheaters Commedia dell’arte, muss die Verantwortung für den Büffel des Verstorbenen übernehmen. Während der Maskierte und der Büffel durch Italien wandern, in auf sichtlich altem 16mm-Material gefilmten Bildern, dringen dazwischen Nachrichtenbilder aktueller politischer Proteste.

Pietro Marcellos Stil will also immer zugleich poetisch und politisch sein. Seine Filme haben eine schwebende Qualität, dennoch ist ihr Realitätsbezug deutlich spürbar. Das gelingt unter anderem, indem er ohne Scheu Gattungen und Formate vermischt. Und auch wenn er nun Spielfilme dreht, reflektieren sie sich selbst: In Die Purpursegel bricht die Magie in die Inszenierung der harten ländlichen Welt ein, als zugleich ein Bruchpilot als Symbol der Moderne in die Handlung fällt.

Mathis Raabe

Alice Rohrwacher: Zwischen Märchen und Gesellschaftskritik

Das surreal Überhöhte und das der Zeit Enthobene, das sich in der Arbeit von Pietro Marcello finden lässt, ist auch bei Alice Rohrwacher deutlich zu spüren – schon in ihrem Langfilmdebüt Corpo Celeste – Für den Himmel bestimmt (2011) über die 13-jährige Marta (Yle Vianello), die mit provinziellen Bräuchen konfrontiert wird, als sie nach dem Aufwachsen in der Schweiz mit ihrer Mutter Rita (Anita Caprioli) und ihrer älteren Schwester wieder zurück in ihre einstige Heimatstadt in Kalabrien zieht. Der Jugendlichen fällt es schwer, sich in der stark katholisch geprägten Gemeinde zurechtzufinden. Alsbald beginnt sie zu rebellieren. Basierend auf der gleichnamigen Essaysammlung von Anna Maria Ortese, wird die Selbstsuche eines Mädchens in einer heuchlerischen Welt geschildert.

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Rohrwachers aktuelles Werk La Chimera, in dem es um Grab- und Kunstraub in den 1980er Jahren geht, ist der Abschluss einer thematischen Trilogie, in der laut Rohrwacher die Frage behandelt wird: „Was tun mit der Vergangenheit?“ Eröffnet wurde diese Trilogie mit Land der Wunder (2014) über eine deutsch-italienische Familie, die auf einem Bauernhof lebt – gefolgt von dem märchenhaften Sozialdrama Glücklich wie Lazzaro (2018). Darin erzählt die Filmemacherin vom Betrug der Wohlhabenden an den Mittellosen – zunächst im ländlichen, später im urbanen Umfeld. Im Zentrum steht der titelgebende junge Mann (interpretiert vom Leinwand-Debütanten Adriano Tardiolo), der seiner Arbeit völlig ruhig und mit absoluter Selbstverständlichkeit nachgeht, bis es zu einer schicksalhaften Begegnung kommt.

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Rohrwacher beschwört in ihren Filmen die Magie des Kinos herauf, setzt dabei aber in perfekter Kollaboration mit ihrer (Stamm-)Kamerafrau Hélène Louvart in den körnigen Bildern im Super-16-Format nicht auf eine der Wirklichkeit gänzlich entzogene Nostalgie, sondern befasst sich kritisch mit der Historie des Landes.

Andreas Köhnemann

Ferzan Özpetek: Große Gefühle

Ferzan Özpetek wurde 1959 in Istanbul geboren, kam aber Ende der 1970er Jahre als Korrespondent türkischer Zeitungen nach Rom und studierte dort unter anderem Regie. Inzwischen gilt er als einer der profiliertesten Vertreter des neueren italienischen Kinos.

Sein Regiedebüt Hamam – Das türkische Bad aus dem Jahre 1997 ist ein Klassiker des Queer Cinema. Der Film folgt dem verheirateten römischen Innenarchitekten Francesco (Alessandro Gassmann) nach Istanbul, als dieser dort ein altes Hamam von seiner verstorbenen Tante erbt. Als ihm der attraktive Mehmet (Mehmet Günsür) bei der Renovierung des Gebäudes hilft, kommen die beiden Männer sich näher. Özpetek erzeugt hier eine einnehmende, sinnliche Atmosphäre.

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Dies gelingt ihm auch in seinen Folgewerken, darunter Die Ahnungslosen (2001) und Männer al dente (2010). Stets lässt er seine Figuren durch ein emotionales Chaos taumeln; im Zentrum stehen (Ersatz-)Familien und Liebende. In Männer al dente verhandelt Özpetek auf tragikomische Weise gleich mehrere Coming-outs sowie diverse amouröse Wirrnisse. Die hohen Gefühlstöne werden dabei von einer grandiosen Musikauswahl unterstützt, etwa von Nina Zillis Pop-Hit 50mila.

Andreas Köhnemann

Paolo Sorrentino: Fellinistische Männerträume

Filmemacher*innen, die sich offen und explizit auf ihre Vorbilder beziehen, gehen immer das Risiko ein, dass sie auf ein Epigonentum reduziert werden. De Palma sah sich gerne in der Nachfolge von Hitchcock und mitunter ging die Auseinandersetzung mit dem Amerikaner nicht über eine Parallelisierung hinaus. An den Filmen des sicherlich exzentrischen Italieners Paolo Sorrentino wird oftmals die schwelgerische Männlichkeit und das aufdringlich Metaphorische bemängelt (aber auch geliebt). Indem er gerade die intellektuellen Momente, die sich sicherlich in 8 1/2 verdichten und im Spätwerk von Fellini eine immer größere Rolle spielen, völlig selbstverständlich in die Gegenwart überträgt, arbeitet er durchaus gegen die Sehgewohnheiten der Gegenwart: La Grande Bellezza ist von barocker Überschwänglichkeit, stürzt sich in ein italienisches Lebensgefühl der High Society, die sich selbst überlebt hat, wie der Stil des Films selbst. Insofern erzählt Sorrentino nicht einfach von der Männlichkeit seiner Hauptfigur, sondern von einer sich selbst auslaugenden Gesellschaft, die sich nur noch mit vergangenen, gesellschaftlichen Emblemen schmückt.

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Überhaupt das Vergehen: Auf La Grande Bellezza folgte dann Ewige Jugend, der sich in der Tat als eine Rekomposition von 8 1/2 lesen lässt: Zwei alte Künstlerfreunde verbringen Zeit in einem eleganten Sanatorium und reflektieren über das Leben. Selbstverständlich drücken sich die Wünsche und Träume in den Träumen aus. Eine in Momenten altbackene Nostalgie durchzieht den Film, die aber durch die Form reflektiert wird: Sorrentino nutzt seine Bezüge auf Fellini als Zerrspiegel, zeigt, wie dieselben Mittel zu einer Metakritik werden. Schön sind die Filme ohnehin. 

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Diese traumwandlerische Logik überführt Sorrentino schließlich in Loro – Die Verführten, seiner Dekonstruktion der Person Silvio Berlusconi, in eine flirrende, beinahe perverse Wahnvorstellung: Der fantastische Realismus von Sorrentino wird in diesem Film, der zugegebenermaßen schwer verdaulich ist, zu einem Säurebad. Schicht für Schicht werden die verschlungenen Ablagerungen der Macht, der Illusionen und des Machismo in der Politik abgetragen.

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Immer geht es Sorrentino um das Vergangene, das weiterwirkt und in uns arbeitet: moderne Märchen oder moderne Mythologie des gar nicht so alltäglichen Alltags. In Die Hand Gottes gelingt dem Italiener schließlich die Verschränkung seines eigenen Coming-of-Age mit der italienischen Kultur – ein sich selbst träumender Film, wie als hätte sich jemand, der davon überzeugt ist, Fellini zu sein, einer filmischen Psychoanalyse unterzogen.    

Sebastian Seidler

Matteo Garrone: Der wandlungsfähige Neo-Neorealist

Zeichnet sich ein Filmemacher wie Paolo Sorrentino dadurch aus, dass er einen ganz unverwechselbaren Stil pflegt, ist bei Matteo Garrone eher das Gegenteil der Fall — nicht im Sinne der Abwesenheit einer klar umrissenen Ästhetik, sondern eher in deren Vielgestaltigkeit, die sich stets, so scheint es, dem jeweiligen Sujet unterordnet. Zwischen krassem Realismus, magischen Elementen und purer Fantastik ist Garrone ein cineastischer Gestaltwandler und ein Tänzer zwischen den Welten — von obsessiver Körperlichkeit wie in seinem Langfilmdebüt Körper der Liebe — Primo Amore (2004) über die minutiöse Darstellung der sozialen Umstände, die das Treiben der Camorra in Neapel ermöglichen (Gomorrha — Reise in das Reich der Camorra; 2008) und eine delirierende und schonungslose Analyse der medialen Verheerungen des Systems Berlusconi (Reality; 2012) reicht die erste Werkphase, die ihm Wettbewerbsteilnahmen bei der Berlinale und in Cannes einbringt.

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Garrones Interesse an der sozialen Wirklichkeit und am Leben der sogenannten „kleinen Leute“ sowie seine Angewohnheit, bisweilen bewusst Laiendarsteller*innen zu casten, haftet ihm schnell das Etikett an, ein Erneuerer des Neorealismo zu sein, jener italienischen Filmbewegung vom Ende des Zweiten Weltkriegs, die Meisterwerke wie Ossessione (1943, Luchino Visconti), Roma, città aperta (1945; Roberto Rossellini) und Fahrraddiebe (1948; Vittorio De Sica) hervorbrachte.

Ganz gewiss spürt man den Geist des Neorealismus in den Filmen Garrones, insbesondere bei Gomorrha, Reality, Dogman und nun auch in Ich Capitano, doch ihn allein darauf zu beschränken, verkürzt das Wesen und die Meisterschaft des Filmemachers sowie die Bandbreite seines Schaffens. In Filmen wie Das Märchen der Märchen (2015) und später auch in Pinocchio (2019) wendet sich Garrone Märchen zu und führt diese zu ihren Wurzeln als Volksgeschichten zurück — in all ihrer Banalität, aber auch Opulenz und Fantastik.

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Immer wieder kreuzen sich in seinen Filmen diese beiden nur scheinbaren Gegensätze, was sich auch in seinem aktuellen Film Ich Capitano beobachten lässt. Immer wieder mischen sich in die klar an Homers Odyssee angelehnte Migrationsgeschichte märchenhafte und fantastische Elemente, erheben sich Menschen in die Luft und widerfahren den beiden Protagonisten glückliche Fügungen, die nicht ganz aus dieser Welt zu sein scheinen. Und darin drückt sich ein weiterer Wesenszug des ebenso realistischen wie fantastischen Kinos Matteo Garrones aus: Seine Liebe zu den keineswegs nur guten Figuren, seine Neigung, ihnen als Meister ihrer Geschichten und dessen, was ihnen auf ihren Wegen widerfährt, helfend unter die Arme zu greifen, sie zu beschützen und zu führen in einer Welt voller Angst und Schrecken, aber auch voller Schönheit und kleinen Momenten des Glücks. 

Joachim Kurz

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