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Der Regisseur Pietro Marcello verlegt die Handlung des gleichnamigen Romans von Jack London nach Neapel. Dort wagt der Titelheld den Aufstieg in einer rigiden Klassengesellschaft unbestimmt vergangener Zeit. Dabei trifft er auf ein borniertes Bürgertum, das für sozialen Fortschritt nicht bereit ist. 

Martin Eden (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Vom Matrosen zum Schriftsteller 

Der Amerikaner Jack London hatte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen beispiellosen sozialen Aufstieg geschafft. Aus dem jugendlichen Fabrikarbeiter, dem Austernräuber, Wanderarbeiter, Matrosen und Goldsucher war der bestbezahlte und berühmteste Schriftsteller seiner Zeit geworden. Über 100 Jahre nach seinem Tod 1916 wird Jack London fast nur mit Tier- und Abenteuerromanen in Verbindung gebracht, wie Wolfsblut, Ruf der Wildnis, Der Seewolf. Kaum jemand weiß noch, dass London Mitglied der Sozialistischen Partei der USA war und die Ungerechtigkeiten der Klassengesellschaft äußerst kritisch betrachtete. Der Titelheld seines autobiografisch gefärbten Romans Martin Eden von 1909 bezahlt den sozialen Aufstieg mit dem Verlust seiner Illusionen und seiner Liebe. 

Nun hat der italienische Regisseur Pietro Marcello (Bella e perduta – Eine Reise durch Italien) dieses Werk neu verfilmt und die Handlung nach Neapel und Umgebung verlegt. Auch ihr Zeitpunkt ist ein anderer, späterer. Aber er bleibt vage und scheint zwischen den Epochen zu schwimmen, mal wähnt man sich in den 1920er Jahren, dann könnten es die 1930er sein oder die Nachkriegsära. Der Titelheld selbst scheint manchmal über seine ohnehin diffuse Zeit hinauszublicken. Luca Marinelli wurde für die Hauptrolle auf dem Filmfestival in Venedig 2019 als bester Schauspieler ausgezeichnet. 

Der Matrose Martin hat im Hafen einen jungen Mann (Giustiniano Alpi) aus den Fängen eines rabiaten Wachmanns befreit. Zum Dank lädt der Sohn aus gutem Hause Martin zu sich ein. In der Villa der Familie Orsini entdeckt der Matrose die Lebensweise einer bürgerlichen Klasse, zu der er bislang keinen Zugang hatte. Wer hier verkehrt, liest Bücher, kennt die Gedichte von Baudelaire, fragt nicht, ob der Mann noch lebt. Wer hier zu Mittag isst, tunkt sein Brot nicht in die Sauce und erzählt nicht von der letzten Schlägerei.

Martin wird sich seiner mangelnden Bildung und Kultiviertheit schmerzlich bewusst und fasst augenblicklich den Plan, ein anderer Mensch zu werden. Zugleich verliebt er sich in Elena (Jessica Cressy), die Tochter des Hauses, die er auch als sein geistiges Vorbild und seine Mentorin betrachtet. Elena ist für sein männliches Charisma nicht unempfänglich und so leiht sie ihm gerne Bücher, rät ihm, die Schule nachzuholen — und verlobt sich nach ein paar Treffen mit ihm.

Martin wird zum Autodidakten, er liest und liest, landet bei den Lehren Herbert Spencers. Der englische Philosoph stellte eine Theorie sozialen und kulturellen Fortschritts auf, die von der Darwinschen Evolutionstheorie inspiriert war. Martin weiß nun, dass er Schriftsteller werden will. Er übernimmt Spencers Thesen und vertritt einen vehementen Individualismus, schreibt Geschichten aus der Welt der Besitzlosen und der Abenteurer, aber auch Liebesgedichte. Von seinem Talent überzeugt, schickt er die Arbeiten an Zeitschriften, aber sie werden ihm mit schöner Regelmäßigkeit zurückgeschickt. Elena und ihren Kreisen ist der Griff Martins nach den Sternen suspekt, sie erkennen weder sein Talent noch können sie seinen unkonventionellen Gedanken folgen. 

Als Pendler zwischen zwei sozialen Klassen macht Martin die Erfahrung, dass sie sich beide in ihrer fehlenden geistigen Offenheit ähneln. Sowohl Elena als auch seine abgehärmte Schwester Giulia (Autilia Ranieri) finden, dass seine Literatur zu wenig erbaulich und heiter sei. Und als er als Redner auf einer Versammlung sozialistischer Arbeiter in einem Zeitungsartikel erwähnt wird, stößt er ebenfalls auf beiden Seiten auf Ablehnung. Elena reagiert empört und zuhause auf dem Land bei den einfachen Leuten wird er im Laden nicht mehr bedient. Dabei ist er ein Gegner des Sozialismus und staatlicher Reglementierung, obwohl ihn die ungleiche Verteilung sozialer Chancen sehr beschäftigt. Wie er diese Widersprüche in seinem Weltbild zu vereinen versucht, bleibt unklar. Es fehlen auch filmische Verweise auf eine Ära, in der das Thema der sozialen Evolution Denker verschiedener Richtungen wie Marx oder eben den Liberalen Spencer beschäftigte.

Martins Glaube, mit Bildung Zugang zur bürgerlichen Elite zu bekommen und bei ihr Gehör zu finden, ist auf Sand gebaut. Er merkt, dass er die formal gebildeten, arrivierten Leute als freigeistige Intellektuelle idealisiert hat. Als der Erfolg schließlich kommt, hat Martin jeglichen Respekt vor den Menschen verloren, die ihn nun feiern.

Marcello inszeniert die Geschichte eigentümlich verhalten. Der Film offenbart seine Reize erst auf den zweiten Blick, weil die Wucht fehlt, mit der der Roman den hart erkämpften Aufstieg des Helden schildert. Wie schwer Martin vor dem künstlerischen Erfolg arbeiten muss, wird allenfalls kurz in einer Gießerei gezeigt. Die bei London zentralen Szenen des kräftezehrenden Schuftens in einer Wäscherei fehlen ganz. Aber ohne diese Betonung des täglichen Überlebenskampfs kommt auch die Fallhöhe in Martins Entwicklung nicht mehr so deutlich zum Vorschein.

Bei Marcello wirkt der Held wie auf einer Reise, auf der er sich, schließlich ist er ja Schriftsteller, auch selbst zusieht. Luca Marinellis Spiel hat etwas Vergeistigtes, es passt gut zu dieser leicht entrückten Atmosphäre. Besonders eindringlich stellt er dar, wie der Verlust der Träume Martin schließlich psychisch aushöhlt. Die Liebesgeschichte legt wenig Wert auf Leidenschaft und Romantik, aber so wird auch spürbar, dass sie eher in der Vorstellung als in der Realität lebt. Martin ist ein filmischer Held, der Einfühlungsvermögen verlangt.  

Im Kontrast zur schönen Villa der Orsinis stehen die engen Gassen in den Armenviertel Neapels, die Martin durchwandert. Diverses eingestreutes Archivmaterial, beispielsweise sepiafarbene Bilder der Armut oder ein Segelschiff in monochromem Blauton, geben Einblick in seine innere Welt. Er ist ein visionärer Wanderer. Die Einrichtungen und teilweise auch die Kostüme sind in der Vergangenheit verhaftet, aber einige Male könnte Martin in unscheinbar salopper Kleidung auch als Passant aus heutiger Zeit durchgehen. Als Individualist durchbricht er im Geiste die Schranken der Klassengesellschaften. Vielleicht würde er sich auch heute ereifern über soziale Ungerechtigkeit und festgefahrenes Denken.

Martin Eden (2019)

Basierend auf dem Roman von Jack London erzählt „Martin Eden“ die Geschichte des gleichnamigen Seemanns, der sich in die aus gutem Hause stammende Elena verliebt, eine Frau, die sozial weit über ihm rangiert. Martin beschließt, den mühsamen Weg nach oben anzutreten und Schriftsteller zu werden. Doch dieser Weg bringt ihn in Konflikt mit Elena und ihrer bürgerlichen Herkunft. 

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