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Alice Rohrwacher richtet ihren Blick auf einen Grabräuber in der Toskana und lotet dabei erneut mit märchenhaft anmutenden Bildern und sozialkritischer Note so manche Zwischenräume der italienischen Gesellschaft aus.

La chimera (2023)

Eine Filmkritik von Bianca Jasmina Rauch

Die Magie der Zwischenräume

Alice Rohrwacher entführt uns in ihrem neusten Film erneut in die Vergangenheit Norditaliens, um ihren eigenen Blick auf Gesellschaftsbereiche zu werfen, die kaum Aufmerksamkeit bekommen. „La Chimera“ folgt dem britischen Grabräuber Arthur, der in den 1980er Jahren in der Toskana  etruskische Schätze quasi intuitiv aufspürt und in seinem Alltag zwischen Realität und Sehnsucht dahinschwebt. Die Gedanken an seine alte Liebe und das Eindringen in tausende Jahre alte, für Tote erbaute und geschmückte Räume vermischen sich zu einer einzigartigen Melange aus Vergangenheit und Gegenwart, Träumen und Wachsam-Sein. Erneut durchdringt Rohrwacher das Zusammenleben in unserer kapitalistisch-ungleich organisierten Gesellschaft, um diesmal implizit die Frage nach dem Besitzanspruch auf Bodenschätze zu stellen.

Beschrieben Fans der Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Rohrwacher ihre letzten Filme bereits gern als „magisch“ und „zauberhaft“, macht ihr neuestes Werk ein weiteres Adjektiv möglich: (s)chimärisch. Damit bezeichnet man, abgeleitet vom Mischwesen der (S)chimäre aus der griechischen Mythologie, eine trügerische Wahrnehmung. Von tagträumerischen Abschweifungen wird der Protagonist Arthur (Josh O’Connor) immer wieder begleitet, wenn er an seine verstorbene Liebe Beniamina denkt. Meist hält sie einen roten (Ariadne-)Faden zwischen den Fingern, mit dem Arthur scheinbar eine Verbindung zum Reich der Toten aufzunehmen versucht. In der realen Welt dringt er mit anderen Tombaroli, Grabräuber*innen, unaufgefordert in die Reiche der Toten ein: Zusammen verkaufen sie Schätze aus etruskischen Gräbern an Museen und Händler*innen. Dabei kann so manch eine Statue nur stückweise herausgehoben werden. Arthur hat als Einziger ein unerklärliches Gespür dafür, die verborgenen Grabeingänge zu finden – mal im Wald, mal in einem Industriegelände am Strand oder neben einer Baustelle. Da Grund und Boden Staatsgebiet sind, bleibt auch den Fündigen nur, ihre Aktionen illegal durchzuführen und sich so ihr Einkommen zu sichern, womöglich einen Aufstieg aus Armutsverhältnissen zu schaffen, denn Arthur bewohnt in seiner Wahlheimat nur eine improvisierte Wellblechhütte am Rande eines Hügels.

Seit langem habe sie bereits eine Faszination für die Tombaroli verspürt, sagte die selbst in der Toskana aufgewachsene Rohrwacher anlässlich der Premiere ihres Films bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes. Wie bereits in Land der Wunder und Glücklich wie Lazzaro setzt sie sich mit Lebensbereichen auseinander, die vom filmischen Blick noch wenig beachtet worden sind. Neben Arthur spielt auch Italia (Carol Duarte) eine wesentliche Rolle: Sie arbeitet als Assistentin seiner Schwiegermutter (Isabella Rossellini), die als Gräfin Flora ein nicht mehr allzu glanzvolles Schloss bewohnt. Italia hält ihre beiden Kinder so lange wie möglich vor ihrer Arbeitgeberin geheim, bis sie schließlich entlassen wird und mit anderen Frauen und deren Nachwuchs das verlassene Bahnhofsgebäude besetzt. Mit den wenigen Einstellungen, in denen diese Gemeinschaft zu sehen ist genauso wie zuvor ein illustres Fest mit bunten Verkleidungen, erzeugen Rohrwacher und ihre Kamerafrau Hélène Louvart analoge Filmbilder von Geborgenheit und Wärme. 

Märchenhaft erscheinen Rohrwachers Filme schlussendlich nicht nur durch das körnige Material, die satten Farben und einige Traumsequenzen, sondern auch, weil sich La Chimera eben nicht an der postmodernen Vereinzelung unser gegenwärtigen, digitalisierten Gesellschaft abarbeitet, sondern immer wieder einen nostalgisch geprägten Blick auf das Verbindende, das Soziale, auf unser „analoges“ Leben im Netz von Arbeits-, Liebes- und Familien-Beziehungen wirft. Konkret wählt die Regisseurin für La Chimera zwar die 1980er Jahre aus, übertragen lässt sich der sozialkritische Blick aber genauso ins Heute sowie in andere Regionen der Welt. So erinnert die Jagd auf Schätze unter der Erde an die Ausbeutung unseres Planeten, aber auch an großen Aufbruch der Erde durch koloniale Herrscher, der bis heute globale Lebensverhältnisse bestimmt.

Wären die Etrusker nicht verdrängt worden, dann wäre in Italien auch nicht der Machismo ausgebrochen, kommentiert Melodie, die Assistentin der mysteriösen Spartaco, einmal am Rande. Eine Kritik auch am heutigen Italien und seinen großen Machisten, und ein Anreiz, sich über die Lebensweisen der Etrusker zu belesen, denn über diese Andeutung hinaus erfahren wir nichts über die historischen Kontexte. Bei Spartaco (Alba Rohrwacher) handelt es sich um jene Kunsthändlerin aus der Upper-Class, die es auf die Schätze der Räuber*innen abgesehen hat. Durch den kurzen Strang um Spartaco weitet die Erzählung ihren Blick auf Besitzanspruch und Hierarchien des illegalen Handels mit Kunstschätzen – zwischen den Räuber*innen, die die Gräber finden und hinunterklettern und jenen, die schick gekleidet ihre Auktionen ausrichten.

Von diesen und noch mehr Räumen des Dazwischen lebt La Chimera: zwischen Realität und Fantasma, Ober- und Unterwelt, arm und reich. Bild und Montage sind ausgerichtet auf ein Erzählen, das uns staunen lässt, wenn Gräber sich öffnen, und unsere Herzen erwärmt, wenn Italia und Arthur Blicke und kleine Gesten austauschen. In diesen Momenten hält das Alltägliche Einzug in das Fantastische und so manche Szene erhält eine in ihrer Zwischenmenschlichkeit zeitlose Note. So wirkt Rohrwachers Film am Ende greifbarer als ihr felliniesker Stil es auf den ersten Blick vielleicht vermuten lässt.

Gesehen bei der Viennale 2023.

La chimera (2023)

Eine Reise zwischen den Lebenden und den Toten: In ihrem neuesten Film taucht Alice Rohrwacher in die Welt toskanischer Grabräuber ein. Sie haben alle ihre eigene Chimäre — ein Trugbild, das sie erreichen möchten, aber nie finden. Für die Bande der Tombaroli, die Diebe antiker Grabbeigaben und archäologischer Kostbarkeiten, bedeutet die Chimäre die Erlösung von der Arbeit und der Traum von leichtem Reichtum. Für Arthur (Josh O’Connor, The Crown), einen jungen Engländer, sieht sie wie die Frau aus, die er verloren hat: Benjamina. Um sie zu finden, fordert Arthur das Unsichtbare heraus und begibt sich in die Erde — auf der Suche nach der Tür zum Jenseits, von der die Mythen sprechen.

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