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Lebendige Kinolandschaft Deutschland

Der deutsche Film ist der deutsche Film ist der deutsche Film. Damit hätte es sich, oder? Mitnichten. Es tut sich was im Filmland und wir wagen angesichts des Kinostarts von „Anima – Die Kleider meines Vaters“ den Versuch einer Landkarte.

Meinungen
Deutsches_Kino

Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich eine Kritik, die lange Zeit durchaus berechtigt erschien, in ein Vorurteil verwandelt, das den Blick vernebelt. Reden wir nicht lange drumherum: Der deutsche Film ist besser, vielfältiger und mutiger als sein Ruf. Möglicherweise sind wir, das Publikum und Teile der Kritik stehen geblieben, während eine junge Generation von Filmemacher_Innen eine neue Form der Ernsthaftigkeit für sich entdeckt haben. Natürlich gibt es immer noch diese schrecklich auf Hochglanz getrimmten Filme, die wie großes Kino aussehen wollen, aber im Grund piefige Ware von der Stange sind: Man spanne einen Bogen von „Traumfabrik“ zu den formelhaften Werken von Sönke Wortmann. Daneben aber, darunter oder schräg gegenüber, dort liegen die spannenden Filme, die immer noch allzu oft untergehen und kaum gesehen werden. Filme, die nicht auf Nummer sicher gehen und Filmemacher*Innen, die eine eigene Haltung entwickeln. Was ist los im deutschen Film und wohin könnte die Reise gehen? Diese Frage wollen wir uns stellen und gleichzeitig ein paar Begriffe in den Ring werfen, mit denen sich das Bild ein wenig ordnen lässt. 

Das Potenzial der Provinz

Über Barbarossaplatz ist ein Fernsehfilm von Jan Bonny. Wer Köln kennt, der weiß, dass es schönere Orte in der Stadt am Rhein gibt. Der Barbarossaplatz gilt vielen gar als der hässlichste Platz der Stadt; ein Un-Ort oder gar ein Nicht-Ort, der auf keinen Fall zum Verweilen einlädt, sondern durch seine asphaltene Weite zur sofortigen Weiterfahrt drängt. Hier herrscht der Transit; man ist entweder verloren oder auf dem Weg von A nach B. Einen Film an diesem Ort spielen zu lassen, das zeugt für ein großes Interesse an der Hässlichkeit.

Dieser Jan Bonny hat als Filmemacher ohnehin einen ausgeprägten Hang zum grauen Alltag oder sagen wir: zur Schönheit in der Hässlichkeit. Seine Filme tauchen hinab in dieses Deutschland, über das wir uns alle immer gerne lustig machen, nur um den Blick nach Berlin oder Hamburg zu wenden. Aber sind diese Städte nicht todgesehen, leergeblickt und auserzählt. Filme, die dort entstehen, atmen selten eine echte Urbanität. Es ist eher Berlin, wie es sich das deutsche Kino in seiner Bürgerlichkeit immer gerne vorgestellt hat. Dieser Hang zur Wunschvorstellung ist schuld daran, dass der deutsche Film eine lange Zeit so austauschbar wirkte, weil die Geschichten nicht aus den Räumen dieses Landes kamen. Natürlich gab es da auch immer Ausnahmen. Gespenster von Christian Petzold kommt der Gegend um den Potsdamer Platz geisterhaft nah. Im Angesicht des Verbrechens, diese fiebrige Serie von Dominik Graf entfaltet die Welt der Mafia mit schonungslosem Realismus. Und Berlin Alexanderplatz von Burhan Qurbani wagt es Döblin durch Neon zu jagen und die Stadt in ihrer ästhetischen Verzerrung ganz und gar wahrhaftig werden zu lassen. 

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Letzteres wünscht man sich auch für andere Teile Deutschlands. Es muss ja nicht die rohe Form von Jan Bonny sein, wobei es schon fantastisch ist, wie dieser uns in „Wintermärchen“, seinem störrisch-brutalen Film über den rechten Untergrund und Radikalisierung, ein deprimierendes, durchschnittliches Köln abseits des Doms um die Ohren haut. Wer aber bringt das Land zum flirren? Wann akzeptieren wir, dass Provinzialität zu diesem Land gehört und es lediglich darauf ankommt, sie zum Leuchten zu bringen. Das ist es doch, was wir an den amerikanischen (Indie)Filmen lieben: die Kunst, die Eigenheiten der jeweiligen Bundesstaaten einzufangen. Auch dort ist vieles hässlich und roh. Die Weite der Highways, das ist für uns eben etwas Fremdes und unser Blick auf den Film, in den Film hinein, ist sehr von diesen Bildern des Fremden dominiert. Alles erscheint groß, aufregend und anders. Das müssen wir auch den Orten und Städten hierzulande erlauben, die kaum in unserem Kino vorkommen. Leverkusen. Regensburg. Schenefeld. Mügeln. Hier kann die Kamera noch etwas entdecken, indem sie eine Verbundenheit mit den Orten eingeht.

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Winter’s Bone von Debra Granik oder Wendy und Lucy von Kelly Reichardt haben eine solche Verbundenheit mit den Orten, erzeugen ein Raumgefühl für ein Land, das nicht einfach bloß zur Kulisse wird. In Deutschland scheint sich in diese Richtung auch etwas zu tun. Niemand ist bei den Kälbern von Sabrina Sarabi ist so ein Film, dem es nicht nur gelingt, den flirrend heißen Sommer einzufangen, sondern ein Dorf in all seiner Provinzialität einzufangen. Alle reden übers Wetter und Mittagsstunde, fangen die Schere zwischen Stadt und Land sehr gut ein, erzählen nüchtern und ohne Pathos. Keine Spur von lächerlicher Ironie, wie sie in den Vorabendserien bei ARD und ZDF so gerne über das ländliche Volk gelegt wird: Die Einfältigkeit der Protagonisten in der so gefeierten Serie Mord mit Aussicht ist jedenfalls schon immer unerträglich gewesen. Provinzialität ist nicht lächerlich. Es ist ein Blick auf das, was ist. Und sie kann großartig sein, wenn man sie mit eigenem Stil überformt, wie Marina Hufnagel in ihrem hybriden Solastalgia, der sich mit den Ängsten einer jungen Generation auseinandersetzt und politische Bewegung jenseits der Urbanität einfängt. Mehr davon.

Sebastian Seidler

Generation Diversity

Post-migrantische Erfahrungen und Geschichten von Einwander:innen und deren Familien werden im deutschen Kino allzu oft ausgeschlossen oder missrepräsentiert. Sie sind häufig entweder unsichtbar in einem durch und durch weißen Erzählkosmos oder dienen lediglich als Garnierung am Rande. Ein Film, der sich dieser Konvention voller Selbstbewusstsein und Originalität entgegenstellt, ist das autobiografische Regiedebüt von Faraz Shariat (Jahrgang 1994). Auf authentische und zugleich verspielte Weise schildert Futur Drei (2020) das Coming of Age des queeren Millennials Parvis, dessen Eltern einst aus dem Iran nach Deutschland kamen und sich in der Provinz in Hildesheim ein Leben im Wohlstand aufbauten. Als er nach einem Ladendiebstahl Sozialstunden in einer Unterkunft für Geflüchtete leistet muss, lernt Parvis dort das iranische Geschwisterpaar Banafshe und Amon kennen. Parvis beginnt zu begreifen, dass die Gegenwart und Zukunft in Deutschland für ihn als in zweiter Generation in Deutschland lebende Person of Color und für die beiden in vielerlei Hinsicht ungleich ist. Der Regisseur entwickelt daraus, gemeinsam mit Paulina Lorenz (Co-Buch und -Produktion) und Raquel Molt (Casting) als Filmkollektiv Jünglinge, ein energisches Plädoyer für Diversität.

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Ebenfalls mit existentiellen Fragen beschäftigen sich Autor/Hauptdarsteller Tucké Royale und Regisseur Johannes M. Schmit in ihrem Debütfilm Neubau (2020) über einen jungen queeren Mann in der Uckermark. Die Antwort findet das Duo in einem dezidiert nicht-normativen Lebensentwurf, frei von konservativen Vorstellungen, was Sex und Gender betrifft, und voller Fürsorge füreinander. Der Film entstand als unabhängige Produktion in einem Künstler:innen-Kollektiv, dem es um eine „Neue Selbstverständlichkeit“ geht: „Einen Lebensentwurf wie den der Hauptfigur mit Selbstverständlichkeit zu erzählen, ohne wiederum dessen Prekarität zu unterschlagen, scheint mir die dramaturgische wie politische Herausforderung der Stunde“, so Schmit in einem Statement.

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Neben Leonie Krippendorff, die in ihrem zweiten Film Kokon (2020) in sinnlichen Bildern vom sexuellen Erwachen und der ersten große Liebe der 14-jährigen Nora im multikulturellen Mikrokosmos rund um das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg erzählt, muss auch die Regisseurin Uli Decker in diesem Kontext der Generation Diversity genannt werden. In ihrem Dokumentarfilm Anima – Die Kleider meines Vaters (2022) bricht sie mit Denk- und Darstellungsklischees, indem sie in animierten und dokumentarischen Bildern ihre eigene Familiengeschichte zeigt, die mit Geheimnissen und einem Hinterfragen von Geschlechterrollen verbunden ist.

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Während sich Decker als Kind mit ihrer Weigerung, sich gängigen Gender-Stereotypen zu unterwerfen, noch als Außenseiterin der Familie fühlte, musste sie Jahre nach dem Tod ihres Vaters all ihre Erinnerungen ganz neu bewerten. Denn ihr Vater vererbte ihr eine Kiste mit hochhackigen Schuhen, künstlichen Fingernägeln, Make-up, einer Echthaarperücke – und somit einen Einblick in einen Teil seines Lebens, der ihr bis dato völlig unbekannt war. Wir hoffen, dass viele weitere dokumentarische und fiktionale Werke folgen werden, die einfühlsame Einblicke in derart diverse Welten geben.

Andreas Köhnemann

Grenzgänger*Innen

Zum Kino gehört immer auch die Frage, was eigentlich auf welche Weise erzählt wird; es ist eine Arbeit am Sehen. Das gilt für die Generation Diversity im Besonderen, ist aber nicht ausschließlich auf das Thema der Repräsentation von Gender, Race und Class zu beziehen. Die filmische Form selbst steht auch immer zur Debatte. Wo lassen sich Genregrenzen ziehen? Wird über Dialoge erzählt, oder dürfen die Bilder stehen bleiben? Wie ist das Verhältnis zwischen Fiktion und dem Dokumentarischen?

Die Zeit der großen Stilrichtungen scheint vorbei. Zumindest ist es in Deutschland schwer, eine einheitliche Erzählhaltung zu finden. Dabei ist natürlich klar, dass jedes Label immer nur der Versuch einer Ordnung ist. So war die Berliner Schule nie eine Einheit, hatte mehrere Klassen und lebte eher von der Ähnlichkeit als von klaren Übereinstimmungen: Christian Petzold erzählt wesentlich klassischer als Angela Schanelec, deren Filme von einer ungemeinen Entschleunigung der Stille leben, eine Erzählung aber eher gespenstisch verhallen lassen. Eine solche Schule aber lässt sich im Moment nicht finden. Das kurze Aufblitzen einer (German)-Mumblecore-Bewegung (Love Steaks, Beat Beat Heart, Blind & Hässlich) ist wieder etwas eingeschlafen. Die Momente, in denen sich der Genre-Film mit Der Bunker, Der Nachtmahr oder Luz extravagant aufgebäumt hat, sind auch wieder verhallt. Unbedingt sollte Der Samurai von Till Kleinert in diesem Zusammenhang Erwähnung finden. Da waren sie, die Nachtgestalten, die Schattengewächse und die Abgründe. Immer war da eine große Verneigung vor der Filmgeschichte im Spiel, aber durchaus eine eigene Haltung vorzufinden. Da war sie, die Hoffnung, dass es nun auch in Deutschland mit dem Genrekino klappen könnte. War dann eher nichts. Keine Bewegung für den Horrorfilm. Bislang jedenfalls.

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Im Moment dominieren die Singularitäten, die individuellen Handschriften und weniger das Kollektiv. Ein Manifest ist schonmal gar nicht in Sicht. Das allerdings erzeugt Grenzgänger*Innen, die sich in ihren radikalen Entwürfen immer auch ein Stück weit selbst exponieren. Die Regisseurin Helena Wittmann ist so eine Stimme im deutschen Kino der Gegenwart, die auf eine so freie Art und Weise erzählt, sich den klassischen Vorstellungen von Narration entledigt, dass die Bilder zu eigenständigen Einheiten werden, die ihre Atmosphären freilegen. Mit ihrem Meer-Reise-Film Drift brachte sie die reine Bewegung des Wassers auf die Leinwand, während ihr neuer Film Human Flowers of Flesh gar als posthumaner Entwurf durchgehen könnte, in dem der Mensch nur noch ein Vorkommnis ist.

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Der Bunker ist ja bereits gefallen. Nikias Chryssos hat nach diesem irren Film natürlich nicht aufgehört. Vielleicht, so der leise Glaube, löst sich das Genre-Versprechen eben nur sehr langsam ein. Sein A Pure Place spaltete die Kritiker in Deutschland. Der Sekten-Film schien einigen nicht genug Neues zu erzählen. Dabei hat doch die Reinheits-Metapher ihre Entsprechungen in einer sehr distinkten Form gefunden: visuell war der Film mehr als beeindruckend. Und diese todbringende, paranoid-faschistische Idee der Reinheit ist immer noch sehr wirkmächtig.

Neben dem Genre-Grenzgänger Chryssos arbeiten Max Linz und Julian Radlmeier an einem leichtfüßig-theoretischen Kino der Komödie, das sich mit Versatzstücken des Theaters ermächtigt, die Analyse der Gesellschaft mit dem absurden Schrecken zu verbinden. Ob nun Radlmeiers marxistische Vampire im herrlich-verblödelten Blutsauger oder die sich aufspreizende Sophie Rois in Linz’ L’état et moi – all diese Figuren sind immer an der Grenze zur Filmfigur überhaupt und stoßen uns damit auf Fragen, auf Text und verkörperte Verweise.

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Noch radikaler in ihrer Form war in dieser Hinsicht vielleicht Susanne Heinrich mit Das melancholische Mädchen, der dem Kunstfilm wesentlich näher steht als dem Theater und einen hoch reflektierten und wütenden Feminismus über die Leinwand zieht – Tableaus zum Niederknien. Bei all der Ironie dieser Werke: Es ist den Macher*Innen durchaus eine ernste Angelegenheit. Folgen wir den Grenzgängern, auf dass sie die Felder mischen, die Formen und Geschichten.

Sebastian Seidler

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