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Es gibt Filme, die so nah sind, dass sie nach ihrem Ende ein großes Glas Rotwein und eine Schachtel Zigaretten geradezu zwingend einfordern. Annika Pinskes Debüt Alle reden übers Wetter berührt mit der präzise beobachteten Reflexion einer umfassenden, brutalen Heimatlosigkeit.

Alle reden übers Wetter (2022)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Hilflos in Heimatgefühlen

Alle paar Jahre gehört es sich, dass der deutsche Film mit den Institutionen von Wissenschaft, Kunst und Kultur abrechnet. Max Linz („Weitermachen Sanssouci“, 2019) oder Irene von Alberti („Der lange Sommer der Theorie“, 2017) haben dieses Feld zuletzt in selbstreflexiv gewundenen Filmen bestellt. Annika Pinske reiht sich mit ihrem Debüt „Alle reden übers Wetter“ nicht ein: Ihr Einfühlungsvermögen und ihre herausragende Fähigkeit zur Beobachtung zeigen eine völlig neue Facette in der akademischen Selbstbeobachtung, die es an der Suche nach einem Heimatgefühl zerreißt.

Clara (Anne Schäfer) ist Doktorandin in Berlin, sie promoviert zum Freiheitsbegriff bei Hegel. Ihre Welt ist aufgespreizt zwischen der Affäre mit einem Studenten (Marcel Kohler), dem emotionalen Druck ihrer autoritären Professorin (Judith Hofmann) und der Unmöglichkeit, zu ihrer Heimat in einem mecklenburgischen Dorf irgendeine Beziehung zu begründen, die nicht von auswegloser Enttäuschung und Hilflosigkeit gezeichnet wäre. Das vermeintlich einfache Leben ihrer Mutter (Anne-Kathrin Gummich) und die erdrückend-schwelende Feindseligkeit universitärer Sektempfänge sind nur zwei Seiten derselben Suche nach Heimat, in der es Atemluft und Geborgenheit gäbe.

Im Autoradio von Claras altem Opel laufen die Puhdys. Auf dem Empfang zur Emeritierung eines Professors an ihrem Institut spannt sich bei Champagner und oberflächlichen Diskussionen über den politischen Zustand der Welt ein Stacheldraht-Netz aus alten Feindschaften. Alle kennen alle, über ihre Eltern, die auch Professorensind, oder aus dem Studium, oder weil man sich eben kennt. Claras Mutter aber wohnt in der Provinz, was auch immer das sein mag. Angetrunken-amüsiert blickt man dorthin und fragt sich, wie das wohl sein mag, wenn nach der Wende die Biografie einen Riss bekommt. Clara erfindet einen Vater, der Diplomat gewesen sei.

Mit einer ungeheuren Gabe des Zuhörens und der Beobachtung trifft Alle reden übers Wetter den Ton dieser doppelbödigen Gespräche im Kampf um Stellen, Reisekostenabrechnungen, Büros, Aufsatzveröffentlichungen, Seminarplanungen und Karriereaussichten. Zwischen fast beiläufigen, wie im Scherz dahergesagten Gemeinheiten und der völligen Vereinsamung einer philosophischen Dissertation herrscht die Ödnis eines ganz und gar heillosen Strebens nach Sinn oder Nähe oder Wärme oder einfach nur danach, an einen Ort zu gehören.

Clara flieht aus Berlin nach Hause zu ihrer Mutter, zu irgendeinem Geburtstag, der am Wochenende groß in der ganzen Dorfgemeinschaft auf einem kleinen Festplatz gefeiert wird. Ein Exfreund aus ihrer Jugend (Max Riemelt) hat mittlerweile die Kneipe übernommen. In der kleinen Küche herrscht das geheimnisvolle Wissen der Kreuzworträtsel-Antworten, die Claras Mutter aus dem Stand kennt. Auf dem Dorfplatz spielt der Hobby-DJ Tage wie diese von den Toten Hosen. Alle kennen sich, aus der Nachbarschaft, oder aus der Schulzeit, oder weil man sich eben kennt. Die umfassende Zusammengehörigkeit, die kleinen Träume, die Zimmerpflanzen und der Blick über die Felder vom Nachbarn, die in diesem Jahr schon wieder von Staren heimgesucht werden – nichts daran ist weniger erdrückend als die stilvoll eingerichteten Altbau-Wohnungen und die lässige Verachtung der gerade nicht zusammengehörigen Welt an der Universität. Nur sind eben auch dort irgendwie alle aufeinander angewiesen, und sei es nur in der Sicherheit alter, pfleglich gehegter Abneigungen.

In diesen Riss wirft sich Alle reden übers Wetter rückhaltlos und ehrlich, mit einer fast nicht zu ertragenden Genauigkeit. Dass Clara noch eine mittlerweile fast erwachsene Tochter (Emma Frieda Brüggler) hat, die bei ihrem Vater (Ronald Zehrfeld) lebt und nur zwischendurch zu Besuch in Claras WG kommt, hätte der Film möglicherweise nicht zwingend gebraucht, um das verzweifelte und haltlose Greifen nach Familie und Heimat in alle Richtungen auszudehnen. Unabhängig davon besticht aber der Taumel einer unfassbaren Ferne, die inmitten aller Zwischenmenschlichkeit steht, und die von keinem noch so bedingungslosen Wunsch nach Liebe und Halt erfüllt werden kann. Alle reden übers Wetter ist ein Film, der Herz und Atem raubt, indem er mit der schärfsten Einsicht an einen Ort vordringt, an dem offen spürbar wird, was es heißt, eine Familie zu suchen, Eltern stolz zu machen, Vorgesetzte stolz zu machen, nach Hause oder wenigstens in einen Beruf zu gehören; eigentlich alles zu tun, um nur nicht so verloren zu sein.

Alle reden übers Wetter (2022)

Die 39-jährige Clara ist Philosophiedoktorandin in Berlin. Als sie zum Geburtstagsfest ihrer Mutter die mecklenburgische Provinz besucht, wird ihr bewusst, wie weit sie sich auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben von ihren Wurzeln entfernt hat.

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Meinungen

MariaNe · 29.11.2022

ein großartiger film. Fängt so banal und langweilig an, bis man aufschreckt und sich selbst wiedererkennr. Als verlorene Tochter, als hilflose Mutter, als reizlose Enkelin, als Oma, als heimgekehrte freundin, als ausgezogene zu „höherem“ bestimmte. Selbst die Dialoge sind auf den punkt genau. So genau, dass man erschrickt und gleichzeitig sich beruhigen möchte. Ist mein unbefriedigendes leben so allgemeingültig? Bin ich gar nicht so aussichtlos unglücklich? Entspanne ich mich und geb den ganzen streß einfach ab? Den streß, immer mehr machen zu müssen, damit einer stolz ist auf mich? Was dann doch wieder alles nur verkrampft und nicht richtig war? Immer nur weg? Dabei geht es um ankommen. Im RICHtIGEN leben. Bei mir selbst. Heimat. Mein Platz.
Das war großartig. Ein therapeutischer film. Generationsübergreifend. Zur selbstreflexion und zum Aufzeigen von Mustern und Beziehungsstörung, zu coabhängigkeit.
Danke dafür.

wignanak-hp · 14.02.2022

Toller Film, der um die Frage kreist, wo man eigentlich hingehört. Einer meiner Lieblingsfilme auf der Berlinale.