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Jahresrückblick

Jahresrückblick 2023: Die übersehenen Filme

Jedes Jahr gibt es eine Vielzahl an Filmen, die entweder gar nicht ins Kino kommen oder am Publikum vorbei laufen. Wir schauen auf die kaum gesehenen Perlen von 2023.

Meinungen
R.M.N. / Stop-Zemlia / Die Purpursegel
R.M.N. / Stop-Zemlia / Die Purpursegel

R.M.N. von Cristian Mungiu

Cristian Mungiu hat in seiner Karriere viele sehr gute Filme gedreht. Für sein Abtreibungsdrama 4 Monate 3 Wochen 2 Tage hat er 2007 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Danach folgten so intensive Filme wie Jenseits der Hügel oder Graduation. Letzterer war schon kaum zu sehen. Der letzte Film, der durch und durch grandiose R.M.N. hat es nicht ins Kino geschafft. Selbst auf DVD oder Bluray ist das Thriller-Drama nicht erhältlich. Eine Schande!

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Ein rumänischer Arbeiter kehrt aus Deutschland in sein kleines Dorf im Siebengebirge zurück. Von der Ehefrau entfremdet, gerät der Mann immer mehr zwischen Fronten des ausbrechenden Fremdenhasses: Die örtliche Brotfabrik hat Schwarze Arbeiter eingestellt. Wer ohnehin schon ganz unten ist, kann immerhin noch tiefer treten.

In seinem kühlen, immer jedoch eindringlichen Film baut der rumänische Regisseur eine Spannung auf, lässt Rassismus und Xenophobie zu einer geisterhaften Bedrohung werden – es ist kaum auszuhalten. Wie immer gibt Mungiu keine einfachen Antworten, erzählt mit einem fantastischen Naturalismus von den inneren Ängsten und Einbildungen, von Sexismus und Armut.

Es gäbe so viel zu diskutieren.

Sebastian Seidler

Die Purpursegel von Pietro Marcello

Nachdem Pietro Marcellos Martin Eden immerhin im Kreis der Filmliebhabenden ein echter Achtungserfolg war, lief der Nachfolger dieses Jahr in den deutschen Kinos leider am Publikum vorbei. Dabei präsentiert der italienische Regisseur darin einmal wieder eine wunderbare Mischung aus märchenhaften Elementen und historisch verorteter Sozialkritik. Das fügt sich auch in seine Filmografie auf interessante Weise ein, denn Marcello drehte vormals Filme, die die Grenze zwischen Drama und Dokumentarfilm aufweichen und dabei ebenfalls das Politische mit dem Poetischen verbinden.

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Die Purpursegel erzählt eine Zeitspanne von gut zwei Dekaden. Zunächst folgen wir Raphaël (Raphaël Thiéry), einem gegerbten, bärigen Mann, der vom Ersten Weltkrieg nach Frankreich zurückkehrt und erfährt, dass er seine Frau verloren, nun aber eine Tochter namens Juliette hat. Von ihr inspiriert, beginnt er, aus Holz Spielzeuge zu fertigen und damit sein Geld zu verdienen. Im Dorf erfährt er Ablehnung – auf Grund von Geheimnissen aus der Zeit des Krieges, aber auch, weil auf dem Hof, auf dem Raphaël und seine Tochter nun leben, eine Art matriarchale Patchwork-Familie entsteht. Später wandert der Fokus des Films zu Juliette (Juliette Jouan) und der Liebe zu einem mäßig begabten Piloten, gespielt von Louis Garrel, der ihr im wahrsten Sinne des Wortes vor die Füße fällt.

Der Einbruch der Moderne wird hier ebenso verhandelt wie Familienstrukturen und Vorurteile und die Frage, ob man seine Träume nun durch körperliche Arbeit, durch neue Technik oder doch durch Magie am besten verwirklichen kann. Währenddessen findet Marcello eine vielseitige, aber nie disparate und immer leicht unwirklich schwebende Bildsprache, die allein ein Publikum verzaubern müsste.

Mathis Raabe

Opponent von Milad Alami

Wie stark das iranische Kino auf den Filmfestivals der Welt vertreten ist, das muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, ist ob der eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten iranischer Filmschaffender absolut beeindruckend. Dieses Jahr bedeutete das auch, dass etwa Milad Alami nach dem Screening von Opponent bei der Berlinale seine Bühne nutzen konnte, um auf die mutigen feministischen Proteste aufmerksam zu machen, die gleichzeitig 4000 Kilometer südöstlich stattfanden. Alami ist als Kind geflohen, arbeitet in Schweden. Andernfalls hätte er einen Film wie Opponent, der sich mit unterdrückter Homosexualität auseinandersetzt, nicht drehen können. Trotzdem riskiert auch er, oder etwa der in Dänemark lebende Holy Spider-Regisseur Ali Abbasi, durch kritisches Kino seine Sicherheit – Geheimdienste operieren weltweit.

Außerhalb von Festivals ist Opponent bislang in Deutschland nicht zu sehen gewesen. Schweden hat den Film als Oscar-Beitrag nominiert – vielleicht verschafft ihm das doch noch Aufmerksamkeit. Man muss ja hoffen können.

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Milad Alamis Filme heben sich ab von anderen Sozialdramen, weil er gerne mit Genreanleihen und spezifischen Settings arbeitet. In seinem Debütfilm Der Charmeur ist die Hauptfigur ein Gigolo, Opponent zeigt einen Ringer, der mit seiner Familie in einer Geflüchtetenunterkunft auf engem Raum leben muss. Beim Training kommt seine unterdrückte Homosexualität zum Vorschein. In Schweden wäre die nun endlich legal. Die Verantwortung gegenüber der Krisengemeinschaft, die zuhause auf ihn wartet, sowie internalisierter Selbsthass hindern ihn aber daran, sich auszuleben. Er reagiert mit Gewalt.

Seine Ehefrau währenddessen war im Iran Klavierlehrerin, nun ist sie auf eine Hausfrauenrolle zurückgeworfen. Schließlich will sie gar die Familie trennen und in den Iran zurückkehren. Man sieht das selten im Kino, obwohl es für viele Geflüchtete Realität ist: dass die ach so tollen Freiheiten und Aufstiegschancen des globalen Nordens eben nicht für alle greifen, vor allem wenn Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden oder gar keine Arbeitserlaubnis besteht während des nie enden wollenden Kampfs ums Aufenthaltsrecht.

Mathis Raabe

Stop-Zemlia von Kateryna Gornostai

Der Coming-of-Age-Film der ukrainischen Debüt-Drehbuchautorin und -Regisseurin Kateryna Gornostai (Jahrgang 1989) erzählt mit hoher Sensibilität vom Jungsein und von den vielen Unsicherheiten, mit denen sich Menschen im Jugendalter befassen müssen. Das Werk verzichtet auf dramaturgische Zuspitzungen und Klischees und setzt stattdessen auf Improvisation.

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Ähnlich wie die Figuren driftet Stop-Zemlia umher, wirkt mal ernst und mal heiter – und widmet sich dadurch treffend dem emotionalen Befinden von Heranwachsenden. Gornostai zeigt eine ganze Abschlussklasse und rückt einige Figuren deutlicher ins Zentrum. Wir begleiten diese im Unterricht, auf dem Schulflur, beim Rauchen in der Kälte, auf einer Hausparty, beim Klassenausflug oder bei einer Tanzveranstaltung in der Sporthalle. Es geht nicht darum, dezidierte Botschaften zu vermitteln, sondern empathisch am Dasein der adoleszenten Held:innen teilzuhaben. Auch die Kommunikationswege über soziale Netzwerke werden stimmig integriert, ohne aufdringlich zu wirken.

Stop-Zemlia wurde bereits 2021 in der Sektion Generation auf der Berlinale gezeigt; anschließend lief er auf etlichen weiteren Festivals. Im Februar 2023 kam er hierzulande offiziell ins Kino — und hätte mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt. Bei Kino on Demand lässt sich der Film als Stream leihen.

Andreas Köhnemann

The Mother of All Lies von Asmae El Moudir

Zugegeben: Normalerweise spielen Dokumentarfilme — mit wenigen Ausnahmen und dann vor allem, wenn sie von großen Namen des Dokumentarfilms stammen oder von Filmstars, die sich nun auch mal als Regisseur*in versuchen — keine große Rolle beim Filmfestival in Cannes. Umso größer war das Glück, dass es Asmaes El Moudirs ebenso persönliche wie spannende filmische Familienaufstellung und Vergangenheitsbewältigung The Mother of All Lies an die Croisette schaffte. Dort lief der Film der früheren Fernsehjournalistin in der Reihe Un Certain Regard und gewann dort prompt den Preis der Nebenreihe für die beste Regie.

The Mother of All Lies (2023) von Asmae El Moudir; (c) Autlook Filmsales

Mit Hilfe ihres Vaters, eines Maurers, begibt sich die Regisseurin auf die Suche nach den Spuren einer verdrängten Episode in der Geschichte Marokkos und ihrer Heimatstadt Casablanca: Im Jahre 1981 brachen dort die sogenannten Brotaufstände aus (so genannt, weil die Erhöhung der Brotpreise für soziale Unruhen sorgten), die von der Polizei blutig niedergeschlagen wurden. Die offiziellen Todeszahlen werden von Regierungsseite her mit 66 angegeben, inoffizielle Schätzungen belaufen sich auf gut das Zehnfache der amtlich verlautbarten Zahlen. Weil kaum Bilder aus dieser Zeit existieren, erschafft Asmaes Vater ein naturgetreues und maßstabsgerechtes Modell des eigenen Viertels, das damals stark von der Revolte und deren Niederschlagung betroffen war, kleine Figuren aus Ton symbolisieren die Beteiligten — und zwar die Lebenden wie die Toten. Und so treffen schon bald im Keller, wo das Modell aufgebaut ist, Verwandte, Freunde und Bekannte ein, erinnern sich und geraten ins Reden. Doch der auf diese Weise losgetretene Erinnerungsprozess ist ein schmerzlicher, besonders für Asmaes eigene Großmutter Zahra

Seit seiner Premiere ist der Film viel herumgekommen und war auf zahlreichen Festivals zu sehen, wo weitere Auszeichnungen folgten. Nur regulär in die deutschen Kinos hat er es noch nicht geschafft und es ist gut möglich, dass dies auch nicht mehr geschehen wird. Immerhin aber ist The Mother of All Lies Marokkos Einreichung für die Academy Awards und vielleicht so etwas wie ein Geheimfavorit. Mehr Aufmerksamkeit hätte der Film auf jeden Fall verdient, davon berichten unzählige begeisterte Stimmen von Besucher*innen auf Festivals. Sollte sich doch noch ein Verleih finden, erfahren Sie es hier natürlich sofort.

Joachim Kurz

The Five Devils von Léa Mysius

Filme, die sich nicht so wirklich einordnen lassen, sogenannte Genre-Hybride, haben es im Kino häufig sehr schwer. Eigentlich müsste man meinen, dass die Regisseurin Léa Mysius, vor allem, nachdem sie bereits mit ihrem ganz wundervollen Coming-of-Age-Film Ava (2017) begeistern konnte, nun mehr Aufmerksamkeit bekommen würde. Dann aber war es ein Wunder, dass MUBI den Film überhaupt ins Kino gebracht hat. The Five Devils scheint auf ganz eigentümliche Art und Weise ein flüchtiger Film zu sein.

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Das Flüchtige aber passt auch zum Thema. Auf der ersten Ebene erzählt der Film von einer Familie in der Krise: Joanne (Adèle Exarchopoulos), ihr Ehemann Jimmy (Moustapha Mbengue) – ein Feuerwehrmann – sowie ihre kleine Tochter Vicky (Sally Dramé) werden aus dem drögen Kleinstadtleben gerissen, als Jimmys Schwester Julia (Swala Emati) aus dem Gefängnis kommt. Mit dieser Frau hatte Joanne eine Liebesbeziehung, die mit einem schrecklichen Vorfall endete.

Hinzukommt, dass Vicky mittels Gerüchen in die Vergangenheit reisen kann: So wird das sensible Drama über Ausgrenzung und Homophobie zu einem feministischen Zeitreise-Geisterfilm, der eine ganz eigene mythische Welt schafft. The Five Devils mag spröde sein, sich in Bildern eines Sozialrealismus kleiden – darunter aber pocht eine wütende Leidenschaft, eine rebellische Kraft voller unheimlicher und unheimlich-emanzipierten Bildern.

Sebastian Seidler

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