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Schicht für Schicht arbeitet sich Cristian Mungiu in die Untiefen seines Dramas vor — und zeigt zwei kleine, stille Kriege.

Graduation (2016)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Schulabschluss für Korrupte

Seit Jahren beschreibt Cristian Mungiu (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, Jenseits der Hügel) den Zustand seines Heimatlandes Rumänien. Mit Graduation arbeitet er sich abermals an den heimischen Zuständen ab.

Alles beginnt mit einem Lichtblick: Eliza (Maria Dragus). Das Mädchen mit den langen, blonden Haaren und breiten Lächeln ist des Arztes Romeos (Adrian Titieni) ganzer Stolz. Sie, seine Tochter, wird gleich nach ihren Abschlussprüfungen nach Cambridge gehen und dort Psychologie studieren. Ihr ganzes bisheriges Leben ist auf diesen Moment ausgerichtet. Privatstunden, Nachhilfe, die besten Schulen. Denn ihr soll es nicht ergehen wie ihren Eltern, die 1991 dachten, sie könnten in Rumänien alles ändern und verbessern, und nun gestrandet sind in einem Land, das ihnen nichts zu bieten hat; im Gegenteil, es arbeitet stetig gegen sie.

Nur noch drei Prüfungen stehen der brillanten Zukunft im Weg. Doch einen Tag vor Beginn der Prüfungsphase wird Eliza überfallen und vergewaltigt. Ihr Arm, den sie zum Schreiben braucht, ist gebrochen. Genau wie ihre Konzentration. Eliza steht unter Schock, aber ihr Vater weiß es besser und drängt sie dazu, am nächsten Tag den ersten Test zu schreiben. Doch ihr Ergebnis ist nur gut. Sie braucht 9.5 von 10 Punkten, damit Cambridge sie aufnimmt. Also setzt Romeo alles daran, seiner Tochter zu helfen. Und zwar auf die einzige Art, die in Rumänien funktioniert: Er nutzt seine Kontakte und fragt Freunde und Bekannte um Hilfe. Hier ein kleiner Gefallen, da ein zugedrücktes Auge. Schon bald vermag er zu erreichen, dass Elizas weitere Prüfungsbögen „gesondert bewertet“ werden. Als er seiner Tochter die frohe Botschaft überbringt, ist diese aber eher geschockt als glücklich. Doch das ist nicht das einzige Problem in Romeos Leben. Irgendjemand schmeißt permanent die Scheiben seines Autos mit Steinen ein. Seine Frau Magda (Lia Bugnar) ist eindeutig depressiv und hat die Ehe mit ihm faktisch schon beendet. Ihr Ersatz, die alleinerziehende Sandra, mit der er seit einem Jahr eine Affäre hat, ist eventuell schwanger von ihm. Eliza ist verliebt in einen Tunichtgut. Und dann meldet sich plötzlich noch die Polizei bei ihm, denn den Deal für die guten Zensuren seiner Tochter hat er leider mit dem Falschen gemacht.

Ganz langsam, bedächtig und äußerst präzise arbeitet sich Graduation Schicht für Schicht in die Untiefen seines Dramas vor. Mit jedem Ereignis und jedem Versuch Romeos, die Situation in den Griff zu bekommen, bricht die Oberfläche ein wenig weiter auf und zeigt das darunterliegende verrottete Fleisch. Zwei kleine, stille Kriege sind hier zu finden. Der erste ist der der Aufrechten Rumäniens, die Dinge verändern wollten und ehrlich, ohne Korruption und Mogeleien ihr Heimatland wieder aufzubauen suchten. Diese Menschen, nunmehr ihn ihren 50ern, sind desillusioniert über die Zustände und verbittert darüber, dass das Land sie letztendlich verraten hat. Die Jugend wie Eliza hingegen versteht dieses Ressentiment und die Härte der Älteren nicht und wehrt sich dagegen, dass diese ihnen die Zukunft schon vorherbestimmen wollen, immer aus der Position ihrer eigenen Geschichte heraus. Sie wünschen sich – nicht zu Unrecht – eine Chance auf eine Zukunft, die nicht permanent in Abhängigkeit zur Vergangenheit Rumäniens steht, nichtsahnend, dass solch ein Zustand fast unmöglich ist. Doch es ist das Recht und die Aufgabe der Jungen optimistisch zu sein – und das ist schwer genug. Eliza wurde nie nach ihrer Vorstellung gefragt. Von Anfang an scheint klar, dass Cambridge nicht unbedingt ist, was sie will. Doch das Mädchen hat wenig Mitspracherecht. Gegen ihren Vater muss sie regelrecht aggressiv vorgehen und sich gegen ihn aufbäumen, um eine Chance auf Selbstbestimmung zu bekommen.

Dabei meint es Romeo gut. Er weiß um die Naivität seiner Tochter und möchte sie beschützen, sie bewahren vor dem Krieg, in den sie jetzt, ungeschützt, eintreten muss. Dieser Krieg ist ein stiller Bürgerkrieg. Seine aktiven Waffen sind Korruption und Vetternwirtschaft, seine passiven das Wegschauen, Ignorieren und Verrecken lassen.

Graduation bearbeitet sein Thema mit einer kühlen, entrückten Präzision. Stets unaufgeregt, beschreibt er die Bedingungen, in denen auch gute Menschen wie Romeo in ein System einsteigen, das sie eigentlich bekämpfen. Und sich darin, wie so viele andere, verstricken und unterzugehen drohen. Es ist auch ein Film über Schuldgefühle und Scham, der sich die Frage stellt, was eigentlich Gut und Böse ist und ob man diese zwei Pole überhaupt so dichotom sehen kann in einem Land wie Rumänien, in dem irgendwie immer alles grau ist.

Graduation (2016)

Ein Film über Eltern und Kinder in einer kleinen rumänischen Stadt, in der jeder jeden kennt. Es geht um die Heuchelei und die Kompromisse als Teil der Erziehung.

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