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Oscars

And it goes to...? – Das Oscar-Orakel 2024

Die Oscars stehen vor der Tür. Wer wird das Rennen machen? Die Redaktion spekuliert und legt ihre Wünsche offen.

Meinungen
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Sandra Hüller, Oscar-Queen

Es ist wirklich eine ganze Weile her, dass mich die Oscars derart beschäftigt haben. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Listen der Nominierten eine ziemlich interessante Mischung ergeben. Man nehmen nur mal die Kategorie Bester Film: Neben den Großproduktionen Killers of the Flower Moon, Barbie und Oppenheimer dürfen sich ambitionierte Arthousefilme große Hoffnungen machen. Zwischen dem völlig zu Recht umjubelten Anatomie eines Falls und dem ebenso gefeierten The Zone of Interest gibt es mit The Holdovers wärmende Nostalgie. In welche Richtung das Pendel in dieser Konstellation ausschwingt: sehr schwer zu sagen.

Sandra Hüller in Anatomy eines Falls. © Alamode

Vieles spricht für die hochkomplexe Versuchsanordnung Anatomie eines Falls, in dem die Frage der Schuld völlig in einer Ambivalenz der Perspektiven zerfällt. Welch kühne Linien Justine Triet auf der Leinwand zieht, verfolgt einen noch Wochen nach dem Kinobesuch. Das würde bedeuten, dass The Zone Of Interest das Rennen bei den fremdsprachigen Filmen machen und sich gegen den besten deutschen Film der letzten Jahre durchsetzen wird: Das Lehrerzimmer von İlker Çatak wird sich – und das bricht mir das Herz – nicht gegen das historische Gewicht und den unheimlich konsequenten Ansatz von Jonathan Glazers Film durchsetzen können. Dabei ist dem deutschen Regisseur und seinem Team ein grandioser Film gelungen, der das Kleine in einem druckvollen Filmraum komprimiert, bis der Schrecken der Schule zu einer Lawine wird.  

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Wobei auch der Regie-Oscar an Glazer gehen und diese Möglichkeit das Stimmenverhältnis zugunsten des Lehrerzimmers verschieben könnte. Damit bleibt aber immer noch Poor Things übrig, der in jeder Hinsicht faszinierend ist, jedoch eher bei Kostüm, Kamera und Drehbuch punkten wird. Die Dringlichkeit der anderen Filme ist größer, Lanthimos Film zu verspielt – zumindest wenn es um diesen Preis geht. Könnte ich es mir wünschen: Das Lehrerzimmer sollte ausgezeichnet werden. Allein, weil der Film sich nicht aufdrängt, in seiner zurückhaltenden Art jedoch ganz nah heranrückt, ohne dass das Gewaltpotenzial an Schulen zum Effekt verkommt. Das ist eine große Kunst der Zurückhaltung, die ein Christopher Nolan leider nicht mehr lernen wird. Sollte dessen prätentiös aufgeblasener Oppenheimer gewinnen oder gar der schrecklich liberal-feministische und letztlich reaktionäre Barbie das wäre eine fatale Botschaft an die Branche: Big makes big. Nein, danke!

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Es wird deutlich: Die Planspiele führen in die Sackgasse. Dennoch spiele ich alle Varianten seit Wochen durch – weil es einfach Spaß macht. Sicher bin ich mir nur bei einer Sache: Sandra Hüller erhält die Auszeichnung in der Kategorie Beste Hauptdarstellerin. Warum? Ihre Leistungen in Anatomie eines Falls (für den sie nominiert ist) und in The Zone of Interest sind großartig, die Rollen derart unterschiedlich, dass die ganze Bandbreite des Hüller’schen Schaffens deutlich wird. In ihrem Spiel liegt ein inwendiges Geheimnis, ein dunkler Grund: Niemals legt sie ihre Figuren vollständig offen, was auch der Grund dafür ist, dass man sich ewig an ihr abarbeiten kann.

Daher folgt nun meine ganz subjektive Wunschliste, für die mir wichtigen Kategorien:

  • Bester Film: Anatomie eines Falls
  • Bester fremdsprachiger Film: Das Lehrerzimmer
  • Beste Regie: Jonathan Glazer
  • Bester Hauptdarsteller: Cillian Murphy
  • Beste Hauptdarstellerin: Sandra Hüller
  • Bester Nebendarsteller: Mark Rufallo
  • Beste Nebendarstellerin: Da’Vine Joy Randolph
  • Beste Kamera: Robbie Ryan (Poor Things)
  • Bestes Originaldrehbuch: Justine Triet, Arthur Harari (Anatomie eines Falls)
  • Bestes adaptiertes Drehbuch: Tony McNamara (Poor Things)
  • Bester Dokumentarfilm: 20 Tage in Mariupol
  • Bester animierter Spielfilm: Spider-man: Across the Spider-Verse
  • Bester Schnitt: Yorgos Mavropsaridis (Poor Things)

     

Sebastian Seidler

Großmeister, Schauspielkino, gähn

Den Spaß am Tippspiel, den Sebastian formuliert, kann ich gut nachvollziehen. Lange Zeit interessierte man sich (oder war das nur in meiner Bubble so?) als Filmliebhaber mit europäischen Sehgewohnheiten und gesunder Skepsis gegenüber US-Selbstbeweihräucherung eigentlich nur für eine Kategorie: bester fremdsprachiger Film. Seit es aber in den letzten Jahren mit Parasite oder Everything Everywhere All At Once einige überraschende Oscar-Abräumer gab, die (für Hollywood) frische Perspektiven einnehmen, ist das anders.

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Auch dieses Jahr sind ein paar Filme nominiert, die ihr Publikum politisch oder formell herausfordern. Yorgos Lanthimos geht zwar für mein Gefühl ein bisschen Fokus und Biss verloren, je größer sein Budget und je knalliger die Farben werden. Trotzdem würde ich mich für den Venedig-Gewinner Poor Things freuen. Unter anderem ist der Film für sein adaptiertes Drehbuch nominiert. Darüber kann man interessant diskutieren: In der Romanvorlage nimmt die Sexarbeit weniger Raum ein als im Screenplay von Tony McNamara, dafür andere Beziehungen zwischen Körpern und Kapital umso mehr.

Besonders herausfordernd ist aber The Zone of Interest, und eine Nominierung, bei der die Formulierung „ein wichtiger Film“ einmal ausnahmsweise keine hohle Phrase ist. Ein Film, der für das Erzählen vom Holocaust auf der Leinwand einen radikal anderen Ansatz präsentiert. Dass der wirklich als bester Film ausgezeichnet wird? Ich kann es mir noch nicht so recht vorstellen. Immerhin: Die Kategorie „Bester Fremdsprachiger Film“ ist leicht zu tippen, wenn nur dieser eine Nominierte zugleich auch in der Hauptkategorie antritt.

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Killers of The Flower Moon wurde von meinem Vorredner noch nicht genannt. Möglich, dass der zum besten Film gekürt wird – immerhin liebt die Academy Auseinandersetzungen mit der US-Geschichte. Und man muss Scorsese zugutehalten, dass er seine Position als Außenstehender dieser Geschichte über Native Americans immerhin durch einen Epilog reflektiert. Trotzdem bin ich es ganz persönlich müde, solche Geschichten von irgendwelchen Regie-Großmeistern als überlanges Schauspielkino und noch dazu aus Täterperspektive inszeniert zu sehen. Es gibt ja junge indigene Stimmen im US-Kino – Kali Reis etwa, Sterlin Harjo und natürlich Lily Gladstone, deren Performance in Killers of The Flower Moon ihr auch eine Nominierung als beste Hauptdarstellerin eingebracht hat. Dabei hat sie in meiner Erinnerung weniger Leinwand- und Redeanteil als Robert De Niro. Wie gesagt: Großmeister, Schauspielkino, gähn. De Niro aber ist als Nebendarsteller nominiert – vielleicht eine symbolpolitische Entscheidung. In diesem Sinne möchte ich dann auch fordern, dass für diesen Film wenn, dann Gladstone ausgezeichnet wird. Die alten Männer haben es nicht nötig.

"Ryan Gosling als Ken"
© Warner

Über Barbie und Oppenheimer ist schon viel gejammert worden und wird noch viel gejammert werden, ich muss dem nichts hinzufügen. Tatsache ist nun mal: Die Oscars sind eine Industrieveranstaltung. Den Filmen, die letzten Sommer als Retter des Kinos aus einer Finanzkrise Schlagzeilen machten und die dabei, das gilt vor allem für Barbie, breite Bevölkerungsschichten an die Kassen lockten, denen wird ein komplett mit Leuten aus der Industrie besetzter Stimmkörper tendenziell wohlgesonnen sein. Von einer Auszeichnung gehe ich sogar ziemlich sicher aus: der für den besten Song. Es ist zwar etwas ärgerlich, dass von einem feministisch ambitionierten Film schließlich durch Memes und Social-Media-Trends die Hymne einer männlichen Figur am meisten hängengeblieben ist. „I’m Just Ken“ hat damit aber geschafft, was viele Hollywood-Filmschaffende mit neidischem Blick auf die Musikindustrie vergeblich versuchen: den Sprung zu TikTok, zur Gen Z, auf die Schulhöfe, in die Halloween-Kostümläden und in die weltumspannende Popkultur.

Mathis Raabe

What’s your story?

Ist typisches Oscar-Kino aus Hollywood zum Gähnen? Ja, vermutlich schon. Während meines Studiums war es unter meinen Freund:innen allerdings Tradition, sich in der Nacht der Oscar-Verleihung richtig schick zu machen und die Show gemeinsam live zu verfolgen. Die Fotos, in denen edle Outfits und Glamour-Posen mit liebevoll gebastelter Pappstatue auf den Hintergrund einer Mainzer Studierenden-WG treffen, gehören bis heute zu meinen liebsten Deko-Items. Außerdem war es unser Ziel, sämtliche nominierte Werke (sofern möglich) im Vorfeld im Kino zu sehen. Mediokre Dramen, konventionelle Biopics und pompöse Kostümfilme zwischen 2006 und 2012? I’ve seen them all!

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Seither haben die Academy Awards für mich allerdings auch an Reiz verloren. Der hörenswerte Podcast This Had Oscar Buzz von Joe Reid and Chris Feil, den ich im letzten Jahr für mich entdeckt habe, hat mein Interesse ein bisschen zurückgebracht. Darin habe ich gelernt, dass es etwa beim Gewinn in der Schauspielkategorie nicht nur um die jeweilige Leistung geht, sondern auch um das aufgebaute Oscar-Narrativ. An welchem Karrierepunkt steht die nominierte Person gerade? Welche Geschichte bringt sie mit? Das Narrativ aller vier Schauspielgewinner:innen des Jahres 2023 war eine Comeback-Story mit spätem Triumph, von zwei Genreveteraninnen über ein Ex-Sexsymbol bis zu einem Ex-Kinderstar. Eine derart klare Linie lässt sich für 2024 nicht erkennen; womöglich wird sich diese aber auch erst im Nachhinein erschließen.

Ein spannendes Narrativ sehe ich in diesem Jahr bei den Schauspielerinnen insbesondere bei Emma Stone und Sandra Hüller. Für Stone wäre es der zweite Oscar, der ihr Standing als Lead-Actress untermauern würde. Ihren Sieg für La La Land (2016) konnte ich seinerzeit gar nicht nachvollziehen; ihre Performance in Poor Things fand ich nun wiederum wirklich umwerfend. Der Oscar wäre absolut verdient. Für Hüller könnte es ähnlich laufen wie damals für Marion Cotillard: Diese war in Frankreich, wie Hüller heute in Deutschland, bereits eine etablierte Künstlerin, als Hollywood sie durch La vie en rose (2007) als Entdeckung aus Europa feierte und prämierte. In Anatomie eines Falls ist Hüller (ebenso wie in The Zone of Interest) großartig. Ich wäre mit einer Entscheidung für sie sehr happy. In der Nebenrollen-Kategorie scheint derweil Da’Vine Joy Randolph aus The Holdovers als Gewinnerin nahezu gesichert.

© Disney

Bei den Schauspielern könnte Cillian Murphy und Robert Downey Jr., den Stars aus Oppenheimer, das „Längst überfällig“-Narrativ zum Vorteil gereichen. Downey Jr. war schon zweimal für einen Oscar nominiert, Murphy wurde trotz eindrücklicher Darbietungen in Werken wie Breakfast on Pluto (2005), The Wind That Shakes the Barley (2006) oder The Party (2017) bis dato immer übergangen. Gefährlich werden könnten ihnen wohl am ehesten Paul Giamatti und Mark Ruffalo. Ich würde Murphy als Haupt- und Ruffalo als Nebendarsteller bevorzugen. Ersterer hat mit seinem ausdrucksstarken Gesicht einen wesentlichen Teil der Erzählarbeit in Oppenheimer verrichtet – und Ruffalo hat mich in einem ohnehin schon witzigen Film sehr zum Lachen gebracht. Herzensgewinner ist für mich Andrew Scott in All of Us Strangers, der leider gar nicht zur Auswahl steht.

© Disney

Beim internationalen Film schließe ich mich meinem Kollegen Sebastian an: Über Das Lehrerzimmer von İlker Çatak würde ich mich extrem freuen, aber ich tippe auf The Zone of Interest (der nicht minder brillant ist). Bester Film wird vermutlich Poor Things; auch bei der Regie rechne ich mit Yorgos Lanthimos. Vielleicht kommt jedoch auch alles ganz anders. Womöglich räumt Killers of the Flower Moon in etlichen Kategorien ab. Der hat – da ich ihn weder auf einem Festival noch in einer Pressevorführung erwischen konnte – als 206-Minuten-Epos irgendwie nie in meinen Alltag gepasst. Erfahren werde ich die Ergebnisse, wenn ich am Morgen nach der Verleihung müde in mein Handy schaue. Fotos wird es von diesem Moment nicht geben. Die Oscars und ich – eine echte Glow-Down-Story.

Andreas Köhnemann

Barbie macht’s

Immer wenn es um die Voraussage der nächster Oscar-Gewinner geht, klopfe ich mir auf die stolzgeschwellte Brust, während ich davon berichte, wie ich als einziger in der 15-köpfigen Tippgruppe, an der ich damals teilnahm, den Sieg von Parasite voraussagte. Kurzum: Auf mein Wort kann man sich verlassen. Und so tut es mir leid, alle deutschen Hoffnungen prompt zu zerschlagen: Weder Sandra Hüller noch Das Lehrerzimmer werden Trophäen am Ende mit nach Hause nehmen. Beide haben qualitativ Beachtliches, vielleicht sogar Herausragendes geleistet. Erstere aber wird Hollywood-intern völlig von Emma Stone überstrahlt. Und Zweiteren werden, ob des lokal so eingeschränkten Themas (wie viele US-Filmemacher*innen interessieren sich für den Arbeitsalltag an einer deutschen Durchschnittsschule?), einfach zu wenige in der Academy gesehen haben. Stattdessen geht der Preis für den besten internationalen Film an Wim Wenders’ Perfect Days – und da isser dann, der diesjährige Preis für einen Deutschen.

Als Favoriten für die Hauptkategorie gelten in meinem Umfeld Oppenheimer und Poor Things. Ich hingegen sage: Barbie macht’s. Zu sehr hat dieser Film im vergangenen Jahr polarisiert, auf zu vielen Stimmzetteln wird er vielleicht nicht ganz oben, aber doch hoch genug landen, um ihm letztlich den Sieg zu sichern. Wo Teile der Kritik (zum Teil zu Recht, zum Teil doch recht absurd) sich geradezu empört zeigen von Greta Gerwigs rosarotem Puppenabenteuer, kam er in der breiten Masse und zweifellos auch innerhalb der Academy zu gut an. Letztlich dürfte auch der Sturm der Entrüstung angesichts der Nicht-Nominierung von Gerwig den letzten Tropfen des Fasses füllen.

„Barbie“ macht’s. (c) Warner Bros.

 

Oppenheimer wird stattdessen die Regie- sowie die allermeisten Technik-Auszeichnungen bekommen. Paul Giamatti erhält die Trophäe als bester Hauptdarsteller – eine klassische „Sehr lange sehr viele Nebenrollen, jetzt endlich mal im Spotlight“-Prämierung. Und so sehr ich Hayao Miyazaki auch einen letzten Triumph für Der Junge und der Reiher gönnen würde: Am Ende wird’s Spider-Man als bester Animationsfilm machen.

Am spannendsten sind für mich in diesem Jahr jedoch die Drehbuch-Preise, die traditionell für Überraschungen gut sind. Da rechne ich fest mit zwei Gewinnern, die abseits dessen leer ausgehen werden: Past Lives und American Fiction. Ersterer für seine so ungewöhnlich gewöhnliche Liebesgeschichte und deren Struktur, Zweiterer für sein ausgezeichnetes Verschränken von Realität und Fiktion (und ein bisschen Hollywood-Selbstkritik ist auch nicht schlecht, sofern in Maßen ausgeübt).

Letzte Prognose in aller Kürze: Killers of the Flower Moon, Anatomie eines Falls, The Zone of Interest und Maestro werden leer ausgehen. 

Christian Neffe

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