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Kolumnen

Das Versprechen der Endlosigkeit

Ein Beitrag von Alex Matzkeit

Vor genau zehn Jahren erschien mit „The Avengers“ der große Startschuss für das Marvel Cinematic Universe - und einen neuen Standard für serielle Blockbuster, dem alle großen Studios nacheiferten. Heute sind sie fast durchgängig gescheitert. Was ist passiert?

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Bild zu Avengers: Infinity War von Anthony Russo, Joe Russo
Avengers: Infinity War von Anthony Russo, Joe Russo - Filmbild 1

Das neue Jahrzehnt war gerade mal etwas mehr als sechs Monate alt, als seine größte Erfolgsstory im kommerziellen Kino ihren Anfang nahm. Am 24. Juli 2010 präsentierte Marvel Studios, seit einem Jahr Teil des Disney-Konzerns, auf der San Diego Comic Con erstmals den kompletten Cast seines für 2012 geplanten Films „The Avengers“. Robert Downey Jr., Chris Evans, Chris Hemsworth, Mark Ruffalo, Samuel L. Jackson, Scarlett Johansson, Jeremy Renner und Clark Gregg standen gemeinsam auf der Bühne und empfingen den frenetischen Jubel des Publikums. Die Premiere des Films folgte am 11. April 2012.

So etwas hatte es im Blockbusterkino noch nicht gegeben. Die Protagonist*innen aus sechs Filmen trafen sich Jahre später in einem Crossover-Film und bestanden Seite an Seite ein Abenteuer, das bewies, dass sie alle im gleichen filmischen Universum existieren. Damit adaptierte Marvel zum ersten Mal nicht nur die Held*innen und Geschichten aus Superheldencomics, sondern auch deren Veröffentlichungsstrategie. Und weil in den Comics der Name Marvel Universe für die geteilte Welt der maskierten Rächer längst etabliert war, nannten Fans dieses neue Kinokonstrukt schnell Marvel Cinematic Universe.

 

Gegen alle Regeln des Kinos

The Avengers war ein erstaunlicher Moment, selbst für Menschen wie mich, die dezidiert nicht mit Superheldencomics aufgewachsen waren. Die Figuren aus verschiedenen Filmen so konzertiert aufeinandertreffen zu sehen, widersprach allen Regeln des Kinofilms als singuläre Einheit, selbst in einer Zeit, in der endlose Fortsetzungen und auf mehrere Filme aufgesplittete Geschichten à la Matrix oder Der Herr der Ringe bereits normal waren. Zur regulären Ästhetik des Films gesellte sich eine Metaebene hinzu, eine operationelle Ästhetik, also der pure Spaß daran zu sehen, wie die Zahnräder der Produktion ineinandergriffen. 

Zum Glück war der Film aber auch unabhängig davon gut gelungen, in den Händen eines Regisseurs und Drehbuchautors, der mit seriellem Erzählen Erfahrung hatte. Joss Whedon schrieb in The Avengers auch ein bisschen die Regeln der vernetzten Filmuniversen fest. Er ließ sich von den Figuren leiten und paarte sie in Konstellationen, die für gute Kontraste sorgten. Er garantierte einen Einstieg, den auch jene verstehen, die die bisherigen Filme nicht gesehen hatten. Und er sorgte für ein heroisches Finale, in dem endlich das ganze Ensemble zusammenarbeitet — und anschließend wieder auseinandergeht, jeder zurück in seine eigene Filmreihe.

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Avengers: Infinity War (c) Marvel Deutschland/The Walt Disney Company

 

Jeder bekommt ein Cinematic Universe

Als The Avengers 2012 mit diesem Modell über eine Milliarde Dollar einspielte, beeilten sich Marvels Konkurrenten, es zu kopieren. Noch im gleichen Jahr gab Disney als neuer Eigentümer von George Lucas’ Produktionsfirma Lucasfilm bekannt, ab 2015 jedes Jahr einen neuen Star-Wars-Film ins Kino zu bringen. Einige Filme in gewohnter Episoden-Abfolge, andere mit weiteren Geschichten aus dem Star-Wars-Universum. Hinzu kamen mehrere Serien. 2013 versprach Man of Steel von Marvels Erzrivalen DC Comics und seinem Eigentümer Warner Bros., alsbald auch andere Superhelden aufeinandertreffen zu lassen. Sony kündigte an, auf sein Spider-Man Reboot The Amazing Spider-Man ein ganzes Spiderversum folgen zu lassen, und selbst Universal kramte in der Mottenkiste seiner Intellectual Properties und verlautbarte ein „Dark Universe“, in dem sich die klassischen Monster des Studios aus den 1930er Jahren in neuen Inkarnationen begegnen würden.

 

Ein schreckliches Versprechen

Das schreckliche Versprechen hinter diesen Ankündigungen war immer das gleiche: Endlosigkeit. Wired-Autor Adam Rogers schrieb 2015, im peak year der Cinematic-Universe-Pressemitteilungen, eine der besten Analysen des Phänomens mit dem bezeichnenden Titel You won’t live to see the final Star Wars movie. Darin beschreibt er, dass das Modell der Cinematic Universes eine wirklich neue Idee in Hollywood darstellt, perfekt zugeschnitten auf das Zeitalter transnationaler Konglomerate, denen es vor allem um Markenstrategien geht. Durch Cinematic Universes gehe im besten Fall die brand awareness (Marken-Wiedererkennung) durch die Decke, während dem Publikum eine stetige Parade bereits bekannter Charaktere wie aus einer Infusion in die Adern tropft.

Inzwischen lässt sich zum Glück sagen, dass dieses Publikum zwar einiges über sich ergehen lassen musste, es aber insgesamt nicht ganz so schlimm kam wie befürchtet. Mit Ausnahme von Marvel mussten alle Cinematic Universes im Laufe der letzten Jahre herbe Rückschläge einstecken. DC/Warners düstere Grummelfestivals Batman v Superman und Suicide Squad blieben ebenso hinter den Erwartungen zurück wie das auf halbem Weg ummodellierte Zwischenfinale Justice League, ein monströser Frankensteinfilm aus den kombinierten Visionen von Zack Snyder und Joss Whedon. Inzwischen haben DC und Warner sich vom Zwang des kohärenten Filmuniversums verabschiedet und mit für sich stehenden Produktionen wie Joker, The Batman und The Suicide Squad größere kommerzielle wie auch kreative Erfolge gefeiert.

Das Spiderman-Universum hat sich trotz Venom ebenfalls längst von allen Plänen verabschiedet und wurde stattdessen größtenteils vom Marvel Cinematic Universe geschluckt, wenngleich die Idee des Multiversums in Spider-Man: No Way Home wiederbelebt wrude. Und je weniger Worte man über Dracula Untold und Die Mumie, die beiden geplanten Startschüsse von Universals Horrorgalerie-Universum verliert, desto besser. Das Star-Wars-Universum wird uns wohl noch eine Weile erhalten bleiben, aber nach der katastrophalen Produktion und den mauen Einspielergebnissen von Solo sowie dem Fan-Backlash von Der Aufstieg Skywalkers wahrscheinlich anders als ursprünglich geplant.

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Justice League (c) Warner Bros.

 

Scorsese hat recht

Nur Marvel, das O.G. Cinematic Universe, dampft fröhlich vor sich hin und zeigt der Konkurrenz, was es für kontinuierlichen Erfolg braucht: Klare kreative Kontrolle, meist personifiziert durch Studioboss Kevin Feige, Schauspieler in langfristigen Verträgen, die sich als Teil einer Familie fühlen, und eine einzigartige Kombination aus Weitblick und Konzentration darauf, den einzelnen Film so gefällig wie möglich zu machen. 

Martin Scorsese hat recht mit seinem bei manchen Fans wutschnaubend aufgenommenen Statement, Marvel-Filme seien kein „Cinema“ im klassischen Sinne. Diese Filme sind manchmal wirklich mehr Brand Management als Kino, wie Auteurs es mal verstanden haben. Sie sind in den meisten Fällen keine „ästhetische, emotionale und spirituelle Offenbarung“ über die Komplexität des Menschen. Sie erlauben aber andererseits auch etwas so Erstaunliches wie Avengers: Endgame, in dem die Charaktere mit einer Zeitmaschine zuerst in ihre eigenen, zurückliegenden Filme reisen, um eine Reihe MacGuffins zu erjagen und anschließend mit dutzenden Charakteren aus noch einmal anderen Filmen gemeinsam gegen einen großen Oberbösewicht kämpfen. So etwas gab es einfach vorher nie, noch nicht einmal im Fernsehen. Daher ist es auch kein Wunder, dass Endgame Stand heute das meiste Geld aller Zeiten eingespielt hat.

 

Gibt es die „Infinity Saga“ wirklich?

Das Konzept des Cinematic Universe als echte serielle Erzählung, wie es zu Avengers-Zeiten noch erschien, war auch für Marvel nie mehr als eine Marketingstrategie. Die ersten 23 Filme, die als Teil des Marvel Cinematic Universe erschienen sind, mag das Studio im Nachhinein The Infinity Saga nennen, aber sie haben mitnichten einen Spannungsbogen, der sich über alle Filme erstreckt. Vielmehr wirkt der Infinity-Stone-Plot, die Suche nach sechs magischen Objekten, mit denen man das Universum kontrollieren kann, an mehreren Stellen eher an den restlichen Film angeklebt oder mit Gewalt hineingequetscht. In Infinity War, dem ersten Teil des großen Finales, beginnt die Geschichte im Grunde noch einmal von vorne. 

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Das Kino-Universum hat nun allerdings einen etablierten Stall voller Charaktere und Figuren, die jederzeit in all seinen Ecken auftauchen können. In den Jahren nach Endgame hat Marvel viele Filme produziert, die fernab der bekannten Heldinnen und Helden spielen, etwa Shang-Chi oder Eternals — aber es ist immer möglich, dass plötzlich ein bekanntes Gesicht auftaucht, wie Falcon (Anthony Mackie) in Ant-Man oder Tony Stark (Robert Downey Jr.) in Spider-Man: Homecoming. Andere Figuren, etwa Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen), Vision (Paul Bettany) und Loki (Tom Hiddleston) leben in Fernsehserien (Wandavision, Loki) auf Disney Plus weiter. Das Universum bleibt bestehen, aber es zerfasert zusehends.

 

Von den zufälligen Universen lernen

Vielleicht ist das aber auch gerade die richtige Taktik. Es erlaubt Kinobesuchern, nicht mehr das Gefühl zu haben, jeden Film sehen zu müssen, um im Universum auf der Höhe zu bleiben — was inzwischen eher abschrecken dürfte. Fans hingegen können weiterhin jeden Schnipsel nach Hinweisen und Verbindungen untersuchen und der operationellen Ästhetik frönen. 

Ein augenzwinkerndes Video des YouTubers Patrick Willems zeigt, wie weit dieser Gedanke reicht: Willems identifiziert „zufällige“ Filmuniversen wie das „U. S. Space Program Cinematic Universe“ (Filme von Apollo 13 bis First Man) oder das „Britain during World War II Cinematic Universe“ (The King’s Speech, Die dunkelste Stunde, Dunkirk et al.), positioniert sie aber als gute Beispiele dafür, wie Kinouniversen funktionieren sollten. Aufgehängt an zentralen Ereignissen und Figuren hat dennoch jeder Film seine eigene Sprache und einen individuellen Fokus — ganz anders als die zunehmend ermüdend gleichförmigen Presswürste aus der Marvel-Fabrik. 

Willems’ Video zeigt also nicht nur auf, wie sehr das Konzept des Cinematic Universe sich über die vergangenen zehn Jahre bereits festgesetzt hat, es eröffnet ihm auch eine gangbare Zukunft für die nächsten zehn. Natürlich nur, wenn Studiokonglomerate bereit wären, sich darauf einzulassen. Und wir können uns alle denken, wie groß diese Bereitschaft ist.

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