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Kolumnen

Mit dem Brechen brechen

Ein Beitrag von Alex Matzkeit

Man kann es nicht anders sagen: Im Kino wird ständig gekotzt. Selbst die harmlosesten Filme nutzen jede Gelegenheit, um bei ihren Figuren das Innerste nach außen zu kehren. Alexander Matzkeit erklärt, was dieser Trend mit Synästhesie zu tun hat und warum er aufhören sollte.

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mother! - Bild
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Wer sich schon einmal mit einer schwangeren Frau im ersten Trimester unterhalten hat, weiß, dass „Morgenübelkeit“ ein gemeiner Marketing-Euphemismus der Schwangerschaftsratgeber-Industrie ist. In den ersten Monaten der Schwangerschaft ist einem nicht nur morgens ein bisschen übel, sondern die kleinsten Trigger reichen aus, um das dringende Bedürfnis zu verspüren, die nächste Toilettenschüssel aufzusuchen. So war es zumindest bei meiner Frau im vergangenen September, weshalb wir regelmäßig Zuflucht im Kino suchten.

Dort fing das Elend aber erst an. Kaum saßen wir in The Party, läuft eine der Figuren auf der Leinwand aufs Klo, um sich dort genüsslich zu übergeben. Meine Frau war in diesem Moment froh, am Rand zu sitzen, denn sie musste ebenfalls spontan den Saal verlassen. Nur wenige Tage später in Atomic Blonde das gleiche. Die stark gebeutelte Heldin verschafft sich im Vomitorium Erleichterung. 

Danach schien es egal zu sein, in welchem Film wir saßen. Überall wurde gewürgt. In The Circle arbeitet eine Figur so hart, dass ihr der Stress wieder hochkommt. Sogar in Barfuß in Paris wird ein Charakter seekrank. Trauriger Höhepunkt war dann Darren Aronofskys mother!, in dem nicht nur etwas Undefinierbares ausgespien, sondern kurze Zeit später auch noch ein Neugeborenes zerfleischt und gegessen wird (auch nicht so super für Schwangere). Ich konnte irgendwann ein ungläubiges Kichern nicht mehr unterdrücken, aber im Sitz neben mir wurden echte Kämpfe ausgefochten. Erst Victoria & Abdul befreite uns über einen Monat später von der großen Kino-Kotzerei – oder vielleicht ist auch nur meine Erinnerung getrübt.

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Es klingt wahrscheinlich etwas albern, „Denkt denn niemand an die Schwangeren?!” zu rufen, aber mal im Ernst: Was geht eigentlich in Filmemachenden vor, dass sie ihre Protagonisten ständig losschicken, um den Porzellangott anzubeten? Handlungsbestimmend sind die intimen Begegnungen im Abort selten. Es geht vielmehr darum, die Charaktere schwach zu zeigen, am Ende ihrer Kräfte, und eigentlich unsichtbare innere Prozesse in Form von Erbrochenem sichtbar nach außen treten zu lassen. 

In mother!, in dem ja ohnehin aller Subtext Text ist, wird dies natürlich am deutlichsten. Der landläufigen Interpretation nach entfernt der von Javier Bardem gespielte Gott-Charakter Ed Harris (Adam) eine Rippe, um daraus eine Frau zu erschaffen. Kein Wunder, dass er Harris daraufhin die Haare aus dem Gesicht halten muss, während dieser sich auf der Toilette von der religiösen OP erholt. Im Kino gilt noch immer gerne die mittelalterliche Humoralpathologie: Menschen sind die Summe ihrer Säfte.

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Ich bin natürlich nicht der erste Kritiker, dem die Häufung des Rückwärtsessens auf der Leinwand aufgefallen ist. Schon 2007 startete Joe Queenan im Guardian einen Selbstversuch, in dem er fünf zufällige Filme auslieh, nur um festzustellen, dass in allen fünf gereihert wurde. Seitdem lässt sich mit ein bisschen Googeln fast aus jedem Jahr eine Kolumne finden, in der der Autor oder die Autorin die Film- und TV-Landschaft höflich bittet, ein bisschen weniger zu würgen. Anne Bilson spürte 2010 sogar schon den historischen Ursprüngen des Trends nach und stellte ein Siebengestirn des Spuckens im Spielfilm auf, das da lautet: Schwangerschaft, Trunkenheit, Krankheit (inklusive Vergiftung), Völlerei, Schock, Bulimie und Dämonen-Besessenheit. Ich setze also nur den Trend für 2018 fort.

Und versuche mich an einer Antwort auf das Warum: Denn, Charaktermomente hin oder her, eigentlich geht es beim Kotzen im Kino natürlich um die Zuschauerinnen und Zuschauer. In der berühmten Kino-Warteschlangen-Szene aus Woody Allens Annie Hall muss Allens Figur Alvy Singer mit anhören, wie hinter ihm ein Mann seiner Frau erklärt, warum er einen Regisseur nicht mag: „I admire the technique, but he doesn’t hit me on a gut level.” (Ich bewundere die Technik, aber er trifft mich einfach nicht in die Eingeweide). Singer raunt seiner Freundin zu: “I’d like to hit him on a gut level.” Und natürlich ist es nicht nur Alvy Singer, Allens Alter Ego, der das sagt. Sondern es ist auch Allen, der Regisseur. Filmschaffende wollen nicht, dass wir ihr Werk nur anschauen und andächtig nicken. Sie wollen uns mit voller Wucht in die Magengrube schlagen.

"I'd like to hit him on a gut level." Die Kinowarteschlangenszene aus Woody Allens Annie Hall.

Das Erzeugen von Ekel ist zu diesem Zweck ein erstaunlich effektives Mittel. In seiner Phänomenologie des Ekels im Kino hat Julian Hanich zusammengefasst, warum das so ist: Ekel erzeugt eine „aufdringliche Nähe“ des Films zum Zuschauer. Diese Nähe geht so weit, dass wir als Publikum irgendwann eine synästhetische Erfahrung haben. Das heißt: Obwohl wir den Film nur sehen und hören können, kann starker Ekel dazu führen, dass wir glauben, ihn auch mit anderen Sinnen wahrzunehmen. Da wir das ekelhafte Geschehen auf der Leinwand aber durch Schließen unserer Augen und Zuhalten unserer Ohren ganz leicht aussperren können, haben wir – im Gegensatz zum realen Leben mit seinen Gerüchen und Geschmäckern – die Wahl, auf dem schmalen Grat zwischen Ekel und Nicht-Ekel zu balancieren. Dieses prekäre Spiel kann dann wiederum sogar so etwas wie Vergnügen am Ekel hervorrufen. Auf jeden Fall aber spüren wir körperlich etwas, was wir ohne Ekelszene nicht spüren würden.

Mit anderen Worten: Eine gut platzierte Emesis ist ein einfacher, aber enorm wirksamer Trick, um uns als Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino sinnlich zu erreichen. Die Umsetzung ist denkbar einfach und im Gegensatz zu anderen Körperausscheidungen weniger tabuisiert, oft reichen ein paar Würgegeräusche sogar schon aus. Aber selbst wenn es ein bisschen mehr sein soll – schon John Waters bezeichnete Erbrochenes als den „billigsten Special Effect aller Zeiten”. Wo so viel filmemacherische Ökonomie aufeinandertrifft – in der Herstellung, in der Figurenpsychologisierung und dann auch noch in der Zuschauerbewegung – können einfach nur wenige Regisseurinnen und Regisseure Nein sagen.

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Was wir aber auch wissen ist, wie wichtig es ist, auch mal Nein zu sagen. Gute Kunst lebt davon, sich in entscheidenden Momenten gegen den Trend zu stellen und mit etablierten Normen zu brechen. Es mag nicht jeder so empfindlich sein wie meine Frau vor fünf Monaten, aber dafür hat sich der Rest des Publikums sicher längst am filmischen Vomieren sattgesehen. Bedenket also, liebe Filmschaffende, dass ihr nicht werdet, was ihr zeigt. Denn es lohnt sich, zu bemerken, dass auch Wiederkäuen letztendlich einen Akt des Erbrechens einschließt.

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