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Liebe für die Multiversen

Die Menge an Filmen über Multiversen ergibt selbst ein Multiversum. Weil „Die Theorie von Allem“ aber gar so schön ist, gehen wir dem Reiz dieser Welten mal etwas auf den Grund. 

Meinungen
Multiverse
Die Theorie von Allem / Mr. Nobody

Superhelden sind nicht die einzigen, die glauben, Quantenphysik verstanden zu haben. Auch die deutsche Produktion Die Theorie von Allem, die diese Woche in die Kinos kommt, fragt sich: Was wäre, wenn mit jeder Entscheidung, die getroffen wird, und mit jedem Zufall, der geschieht, ein neues Universum entsteht? Everything Everywhere All At Once wurde letztes Jahr mit derartigen Überlegungen gar zum weltweiten Überraschungserfolg. Auch wenn uns schon jetzt vor dem nächsten Ending-Explained-Video zu einem Marvel-Multiversumsfilm graut: Es lohnt sich wohl, über den Schatten des Hier und Jetzt zu springen und uns an ein paar wirklich originelle Weltenwandler-Filme zu wagen. Wir tun das anhand bestimmter wiederkehrender Motive und Logiken.

Über die Leere des Donuts

In jedem Moment unseres Lebens spinnen sich unzählige Fäden, die in ganz unterschiedliche Richtungen verlaufen können. Und doch ist es immer nur eine Linie, die sich entfaltet. All die anderen Möglichkeiten bleiben wie ein Traum, in die Ferne gerückt und dennoch nah. Wir sind wirklich die Summe all unserer Entscheidungen; auch die nicht realisierten Handlungen sind darin aufgehoben. Wenn man die Dinge so betrachtet, kann man schon einen Knoten im Hirn bekommen – oder man dreht einen Film, einen großen Spaß wie Everything Everywhere All At Once.

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Unter all dem Tanz, dem Konfetti und dem bunten Durcheinander dieses wahnwitzigen Films liegt eine zarte Melancholie. Jede Entscheidung, die Evelyn (Michelle Yeoh) in ihrem Leben getroffen hat, eröffnet eine eigene Welt, ein eigenständiges Universum, mit einer anderen Evelyn. Statt in einer drögen Ehe festzustecken, hätte sie vielleicht auch ein Actionstar sein können, eine talentierte Köchin, oder sie hätte eine Beziehung mit einer Frau führen können. All das ist in der Idee des Multiversums aufgehoben. Das klingt schön und erhält in diesem so unterhaltsamen Film eine dunkle Wendung. Die Bedrohung, mit der sich Evelyn buchstäblich herumschlagen muss, ist das Nichts oder die Sinnlosigkeit – das Loch im Donut. 

Nun wäre aber der Donut kein Donut, wenn er dieses Loch nicht hätte. Wenn wir uns allerdings zu sehr auf die verfluchten Möglichkeiten, diese unzähligen Alternativen fokussieren, wenn wir statt des leckeren Teigs nur das Loch in der Mitte sehen, stürzen wir in eine Leere. Wenn Everything Everywhere All At Once einen tiefen philosophischen Sinn birgt, dann jenen: Es gibt nur das Hier und Jetzt, unsere gegenwärtige Geschichte, die ohne eine existentielle Notwendigkeit zu einem fürchterlichen Unglück zusammenschrumpft und ohne Wert ist.

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Filme, die auf eine ernsthafte Weise mit der Idee des Multiversums umgehen, tragen in sich immer eine bedrohliche Traurigkeit, eine existentielle Schwere. Das ist der Grund, warum der atemberaubende Spider-Man: Across the Spider-Verse mehr als ein Superhelden-Actionfilm ist: in jeder Welt hadern die Figuren mit den gleichen Problemen, auf unterschiedliche Weise: Der Tod ist unumgänglich, das Leben hat seinen Preis.

Selbst Spider-Man: No Way Home, der aus den unterschiedlichen Comic-Welten vor allem einen Fan-Service ableitet, um alle Figuren der unterschiedlichen Filme zusammenzuführen, endet damit, dass Peter (Tom Holland) alles wieder in eine feste, in sich geschlossene Welt zurückdrehen muss, in der niemand ihn kennt. Nur so kommt nicht die Versuchung auf, alles immer wieder anders haben zu wollen. Die Vermeidung des Unglücks wird nur neues Unglück hervorbringen.

Sehr gelungenen veranschaulicht dies auch The Flash von Andres Muschietti. Der Held will den Tod der Mutter verhindern, reißt (rennt) in der Zeit zurück und löst eine neue Kette an unerwünschten Ereignissen aus. Mit jeder Zeitreise, jedem Eingriff in die Linearität türmen sich alternative Welten auf, die sich kreuzen, überschneiden und schließlich auflösen, weil die Notwendigkeit schwindet, die für unser Leben so wichtig ist. Denn nur, weil wir die Zeit nicht zurückdrehen können, erhalten unsere Entscheidungen einen Sinn – alles andere führt in die Willkürlichkeit. Man lebt nicht mehr im Jetzt, sondern im Dazwischen. 

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Der vielleicht beste Film über das Multiversum ist indessen Synecdoche, New York von Charlie Kaufman. Darin versucht ein depressiver Theatermacher, die Welt, ja sein Leben in einem enormen Theaterstück zu verdoppeln und dadurch zu reflektieren. Schauspieler sollen darin aufhören, zu spielen, indem sie ihre Rollen leben. Über die Zeit hinweg entsteht eine Welt in der Welt, in der wiederum Welten entstehen und die Frage, wer eigentlich echt und was gespielt ist, nicht mehr zu entscheiden ist. Und so existieren Varianten neben Varianten – ohne, dass man auf einen Kern der Existenz stoßen würde.

Der Philosoph Gilles Deleuze hat einmal folgende Formel geprägt: Man muss die Wunde zu seiner eigenen machen, so als hätte man sie immer schon gehabt. Damit, indem man die Bestimmung akzeptiert, die Unvermeidbarkeit des Geschehens aktiv bejaht, holt man sich die wahre Freiheit zurück – sich in die eigene Zukunft bewegen zu dürfen, die immer nur die eigene gewesen sein wird. Nicht das Loch ist von Bedeutung, sondern die Füllung des Donuts. Darauf einen guten schwarzen Kaffee. 

Sebastian Seidler

Knotenpunkte und Kanon-Ereignisse – wo sich Welten kreuzen

Der Verlag Marvel Comics stellte im Jahr 2000 ein Problem fest. Die Kontinuität, also dass die verschiedenen Serien nie zu einem Status Quo zurückkehren, sondern allesamt im selben Universum spielen und eine fortlaufende Geschichte erzählen, ist ein großes Markenzeichen und Verkaufsargument des Superheldengenres. Für Neueinsteiger allerdings kann es abschreckend wirken, dass etwa die Serie The Amazing Spider-Man 700 Ausgaben erreichte, bevor sie schließlich ersetzt wurde. Die Lösung: Der Verlag schuf eine Gruppe neuer Reihen mit dem Attribut Ultimate. Diese erzählten die Geschichten der Superhelden wieder von vorne, in modernisierter Form. Selbstverständlich musste auch bei Ultimate Spider-Man Onkel Ben sterben und ein Spinnenbiss stattfinden, auch wenn die Spinne nun genmanipuliert und nicht mehr radioaktiv war. Andernfalls wären die Fans, die man sich herangezogen hatte, die großen Wert auf Werktreue legen, wohl auf die Barrikaden gegangen. So kommt es dazu, dass die „Plot Points“ – die kanonischen Teile der Geschichte, die die Handlung vorantreiben – nicht verändert werden dürfen. Ursprünglich steckt also ein rein geschäftlicher Antrieb dahinter. Weil Marvel aber seine persistente Welt ein bisschen zu sehr liebt und nicht widerstehen konnte, zu behaupten, die Ultimate-Serien spielten ja gar nicht wirklich außerhalb der regulären Kontinuität, sondern nur in einem Paralleluniversum, sind diese „Plot Points“ inzwischen auch Kanon, sind Teil der Fiktion.

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Der vielleicht einzige Kritikerliebling unter den Marvel-Multiversumsfilmen war der dieses Jahr erschienene Spider-Man: Across the Spider-Verse. Das rührt unter anderem daher, dass diese merkwürdige Verquickung von Fiktion und Plot-Theorie darin auf kluge Weise thematisiert wird, und dann auch noch in einen emotionalen Figurenkonflikt mündet. Wenn bestimmte Ereignisse nicht eintreten, könne es das Raum-Zeit-Kontinuum zerreißen, wird gesagt. Allerdings betreffen diese Ereignisse nun mal den Tod lieber Verwandter. Der „Kontinuitätspolizist“, der diese Regel ausspricht, wird somit zu einer Verkörperung der vormals erwähnten Comic-Fans, deren Forderung unbedingter Werktreue mitunter giftige Züge annehmen kann. Denn im Gegensatz zu den Versuchen vieler Filme, Multiversumslogik mit Quantenphysik oder mit Verweisen auf Schrödingers Katze zu verwissenschaftlichen, lässt sich der Glaube an Kanon-Ereignisse nicht richtig begründen, wirkt beinah religiös. Ob Spider-Man versucht, sich gegen die Plot-Ordnung zur Wehr zu setzen, wird man hoffentlich im nächsten Film erfahren.

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Freilich finden sich auch jenseits der Welt der Comic-Adaptionen viele Filme, die ihren eigenen Plot betrachten und dabei auf Knotenpunkte stoßen. Wenn es oft gerade die Momente wichtiger Entscheidungen sind, in denen unterschiedliche Welten entstehen, dann kann man alle derartigen Gabelungen als Knotenpunkte begreifen. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch eine ganze Gruppe von Filmen, in denen fast jedes Element invariabel ist, bis auf ein bestimmtes, das es für die Figuren zu finden gilt: Bei allen Zeitschleifenfilmen nach Prinzip von Und täglich grüßt das Murmeltier (zuletzt etwa Palm Springs und Happy Death Day) ist das der Fall.

Ein unterschätzter Multiversumsfilm ist Coherence (2013). Mit einem Budget von nur 50.000 US-Dollar und kaum mehr als einer Location, ist der Film vor allem deshalb so effektiv, weil er beide Ansätze verbindet. Der Film wurde nicht nur klug konzipiert, vermutlich in Form von Grafiken mit ganz vielen hin- und herweisenden Pfeilen, und dann von den Schauspielenden größtenteils improvisiert. Er zieht Unbehagen daraus, dass die Figuren nie sicher sein können, ob sie die ihnen bekannte Realität bereits verlassen haben, und ob sie den anderen noch vertrauen können, denn die Gabelungspunkte sind keine dramatischen Ereignisse, sondern klein und unscheinbar. Der Film erreicht damit ein Konzept von „Plot Points“, das dem, was der Begriff ursprünglich in der Drehbuchlehre meint, radikal entgegensteht. Anstatt diverse Handlungsstränge durchzudeklinieren, konzentriert er sich auf das „sich selbst begegnen“ als Gefahr und Urangst und auf den Kampf der Figuren um die Kontrolle über ihre eigene Geschichte.

Mathis Raabe

Mr. Many People – Ein paar Gedanken über Schiebetüren

Zwei Filme über Paralleluniversen haben mich besonders beeindruckt und geprägt. Zum einen Jaco van Dormaels Science-Fiction-Drama Mr. Nobody (2009). Das Werk spielt im Jahre 2092, in dem die Menschheit zur Unsterblichkeit gefunden hat. Der 118-jährige Nemo (Jared Leto) ist der letzte sterbliche Mensch – und lässt sein Leben Revue passieren. Dabei zerfließen die Grenzen zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können. Neben den Eltern nehmen drei Frauen (verkörpert von Sarah Polley, Diane Kruger und Linh Dan Pham) Schlüsselrollen in Nemos Dasein ein. Was wäre, wenn Nemo sich nach der Scheidung der Eltern für den anderen Elternteil entschieden hätte? Und wenn er statt Anna eher Elise oder Jeanne näher gekommen wäre? Ein Mann, drei Leben – so lautet der treffende deutsche Untertitel des Films.

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Und zum anderen ist da Peter Howitts Sliding Doors (1998), der hierzulande den leider ziemlich banalen Titel Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht trägt. Darin eilt Helen (Gwyneth Paltrow), nachdem sie entlassen wurde, zur U-Bahn. In einer Variante des Plots verpasst sie diese – und bekommt deshalb nicht mit, dass ihr Freund Gerry (John Lynch) sie in der gemeinsamen Wohnung mit einer anderen Frau betrügt. In der zweiten Variante führt ihre verfrühte Heimkehr dazu, dass sie Gerry im Bett mit seiner Geliebten vorfindet.

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Aus zwei Gründen faszinieren mich diese Geschichten. Der erste ist gewissermaßen beruflich. Als Filmkritiker finde ich es spannend, wie diese Filme durch ihre dramaturgische Auffächerung gleich mehrere Filme in einem sind. Mr. Nobody bietet nicht nur eine tragische Lovestory, sondern drei. Statt sich jeweils für eine einzige Auflösung einer genretypischen Standardsituation (vom Kennenlernen über die Phase der Verliebtheit bis zum Ende) zu entscheiden, können diverse Pfade eingeschlagen werden. Und auch Sliding Doors verdoppelt seine Möglichkeiten, von (Selbst-)Betrug, unglücklicher Liebe und den Versuchen der Befreiung zu erzählen.

Der zweite Grund ist persönlich. Denn diese Filme lassen mich (mehr als andere) über mein eigenes Leben nachdenken. Wenn es alternative Universen gibt, in denen ich zum Beispiel jeweils mit all den Leuten, die irgendwann (aus Gründen) nicht mehr Teil meines Lebens waren, noch immer in einer Beziehung oder freundschaftlich verbunden bin – welchen Einfluss hätte das? Wie sähen diese Versionen von mir aus? Was würden sie heute tun?

In einigen Fällen hätte ich womöglich nicht den Studiengang gewählt, für den ich mich (nach einer Irrfahrt ins Jurastudium) entschieden habe. Ich hätte einen anderen Job. Ich würde wahrscheinlich nicht in Berlin wohnen. Ich besäße weniger DVDs. Ich hätte manches über mich nie erfahren, aber vielleicht andere Dinge gewagt, die ich mich in „meinem“ Universum nie getraut habe. Ein bisschen muss ich meinem Kollegen Sebastian widersprechen: Irgendwie würde ich diesen alternativen Ichs gerne mal begegnen. Manche von ihnen würde ich womöglich beneiden, andere belächeln; auf ein paar wäre ich stolz, andere würde ich verachten. Wäre das vielleicht ein guter Filmstoff? Mir selbst fehlt die Energie, um das zu beurteilen. Soll doch ein anderes, selbstbewussteres Ich das mal pitchen.

Andreas Köhnemann

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