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François Truffaut - Das Kino und das Leben

Ein Beitrag von Simon Hauck

Anlässlich der Wiederaufführung vieler seiner Filme auf LaCinetek, widmen wir uns einem der aufregendsten Regisseure der Filmgeschichte und seinem umfangreichen Werk: François Truffaut.

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François Truffaut
François Truffaut
  • Es war irgendwann im Jahre 1942. Ich wollte unbedingt den Film Les Visiteurs du Soir von Marcel Carné sehen, der endlich in unserem Viertel, im Cinéma Pigalle lief. So beschloß ich, die Schule zu schwänzen. Der Film gefiel mir sehr. (…) Ein Jahr später gab es dann Le Corbeau von Clouzot, der mich noch mehr begeisterte; ich muss ihn von seinem Start im Mai 1943 bis zur Befreiung, als er verboten wurde, etwa sechs oder sieben Mal gesehen haben; als er dann wieder freigegeben wurde, habe ich ihn jedes Jahr mehrmals wiedergesehen, bis ich die Dialoge auswendig konnte. (…)

Wer über François Truffaut nachdenkt, sinniert im Grunde automatisch über seine eigene Liebe zum Kino und die Liebe zum Schreiben über Film. Und die begann bei mir im Falle Truffauts bereits im Jugendalter, als ich eines Abends und ohne große Vorkenntnisse dessen ersten Meilenstein Sie küssten und sie schlugen ihn (Originaltitel: 400 Coups) aus dem Jahr 1959 im Fernsehen sah. Und damit nicht nur das erste Mal in das atemberaubende Jungengesicht von Truffauts schauspielerndem Alter ego Jean-Pierre Léaud blickte, sondern im tieferen Sinne zugleich auch in Truffauts gigantisch großes Kinoherz.

In jener unvergesslichen Schlussszene rennt Antoine direkt zum Meer – und damit in Richtung Fluten. Zugleich sprintet er ebenso um sein junges Leben als ungeliebtes Kind, wie auch Truffaut eines war. Minutenlang folgt Henri Decaës Kamera dem schwarz gekleideten Jungen mit der wilden Sturmfrisur, der kurz zuvor aus einer Heimanstalt für minderjährige Kriminelle geflohen ist. Er läuft weiter, immer weiter – bis er das Wasser spürt, nass wird an den Füßen. Dann hält er an – mit ihm die Kamera – und Antoine dreht sich plötzlich in Blickrichtung des Zuschauers.

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Geradezu mitten ins Objektiv hinein scheint der unnachahmliche Blick des 14-jährigen Jean-Pierre Léaud zu gehen. Dann setzt François Truffaut einen seiner berühmtesten Freeze Frames: Jene berühmte, ganz und gar meisterliche Einstellung friert sozusagen den aufgewühlten Blick des Zuschauers kurzzeitig mit ein, während parallel Decaës Kamera von einer Nahen in eine unvergessliche Close-up-Einstellung wechselt. Und dann folgt: Fin. Welch ein Schluss, welch ein Film – und gleichzeitig welch hohe Messlatte für alle weiteren 21 Langfilme Truffauts!

  • Meine ersten zweihundert Filme habe ich im Stande der Heimlichkeit gesehen, im Schutz der Schule, die ich schwänzte, indem ich mir durch den Notausgang oder die Toilettenfenster des Kinos freien Eintritt verschaffte, oder auch, indem ich abends die Abwesenheit meiner Eltern ausnutzte – wenn sie zurückkamen, musste ich wieder im Bett liegen und tun, als ob ich schliefe.
     
  • Ich bezahlte dieses große Vergnügen also mit argen Bauchschmerzen, Magendrücken, Angst im Kopf und Schuldgefühlen, die die von dem Schauspiel ausgelösten Gefühlsbewegungen natürlich noch steigerten. Ich verspürte ein großes Verlangen, in die Filme einzudringen, und das gelang mir, indem ich immer näher an die Leinwand heranrückte und so den Zuschauerraum hinter mir versinken ließ.

Sie küssten und sie schlugen ihn ist gerade deshalb so gut und der ideale (Wieder-)Einstieg in Truffauts offen autobiografisch konnotierten Kosmos als Filmemacher von Weltrang. Denn jene traurige wie aufrüttelnde Erfahrung, die Antoine als Kind erlleben oder besser: erleiden musste, kannte Truffaut selbst schmerzlich genug, da er weder bei seiner Großmutter noch bei seiner biologischen Mutter wirklich Halt fand. Und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst in den Armen André Bazins, seines Ziehvaters und wesentlichen Mentors, zu dem wurde, was ihn später jahrzehntelang auszeichnete: ein unerschütterlicher Cineast.

Sie küssten und sie schlugen ihn / © Studiocanal

Wer einmal jenes grandiose Finale von Sie küssten und sie schlugen ihn (1958/59) gesehen hat, wird bei dem Namen François Truffaut fortan stets zuallererst an jenes gleichsam elegante wie emotional wuchtige Debüt des damaligen Endzwanzigers denken: Mit diesem ewig jugendlich leuchtenden Kristall der Filmgeschichte enterte der junge Kinoenthusiast Truffaut den Festivaltanker von Cannes, den er – als bissiger Filmkritiker – ein Jahr zuvor noch als „Hort der Mittelmäßigkeit“ und gar als Totenhaus des französischen „Qualitätskinos“ jener Zeit verspottet hatte. Derselbe Mann, dem ein Jahr vorher noch die Akkreditierung verweigert worden war, grüßte nun von eben jenem Filmfestival, mit dem Preis für die beste Regie in der Hand. Hier war es das erste Mal für alle Welt zu sehen: Truffauts schelmenhaftes Jungsgesicht, das ihm bis zum Ende auszeichnete. Und zwischendrin auch mal melancholisch-traurig sein konnte, aber niemals ohne besonders viele Funken Leben.

  • Man hat mich oft gefragt, in welchem Moment meiner Kinopassion sich bei mir der Wunsch einstellte, Regisseur oder Kritiker zu werden. Um ehrlich zu sein: Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich dem Kino immer näher kommen wollte. Ein erstes Stadium bestand also darin, möglichst viele Filme zu sehen, ein zweites war, dass ich mir beim Verlassen des Kinos den Regisseur merkte, ein drittes, dass ich dieselben Filme immer wieder sah und meine Auswahl dabei vom Regisseur abhängig machte. Das Kino wirkte in diesem Abschnitt meines Lebens wie eine Droge, und zwar so sehr, dass der Filmclub, den ich 1947 gründete, von mir den anspruchsvollen, aber aufschlussreichen Namen „Cercle Cinémane“ erhielt.“

In diesen rückblickend Goldenen Zeiten der französischen Kinogeschichte begann der internationale Durchbruch der Nouvelle Vague-Autorenfilmer – und zugleich die Weltkarriere des beliebtesten französischen Filmemachers des letzten Jahrhunderts: François Truffaut (1932 – 1984), dessen Filme Hymnen auf das Leben wie den Tod waren. Dessen gesamtes Oeuvre vom Wunsch, als Filmregisseur geliebt zu werden, bestimmt war, weshalb ihn die Filmkritik wie das breite Publikum gleichermaßen verehrte: Trotz oder gerade wegen männlicher Antihelden und sinnlich-schönen Frauen als dominierenden Figuren? Und zugleich auch wegen seines ungestümen Mutes als Regieikone (analog zu Rainer Werner Fassbinder), auf einen großen Film stets einen kleinen folgen zu lassen, was sein Œuvre ebenso kennzeichnet.

Schießen Sie auf den Pianisten /  © Studiocanal

Zusammen mit seinen ehemaligen Cahiers du cinéma-Kritikerkollegen Godard, Rohmer, Chabrol und Rivette, die nacheinander allesamt auf dem Regiestuhl landeten, revolutionierte er das französische (wie das Weltkino) nach 1945 in hohem Maße. Sein immenser Erfolg – jede seiner Lang- wie Kurzfilmproduktionen spielte en gros zumindest die Produktionskosten wieder ein – begründetet sich speziell in der Leidenschaft Truffauts für sein Publikum, das er von Grund auf liebte: Mit ihm spielt er nicht, wie andere seiner Regie-Kolleg*Innen. Mit seinen Zuschauern steckte der französische Starregisseur quasi am liebsten unter der Decke: Bündnisgleich.

  • War ich ein guter Kritiker? Ich weiß es nicht; ich weiß aber, dass ich immer auf der Seite der Ausgepfiffenen gegen die Auspfeiffer war und dass mein Vergnügen oft da anfing, wo das meiner Kollegen aufhörte: bei Renoirs Stilbrüchen, bei Orson Welles‘ Exzessen, bei Pagnols oder Guitrys Schlampereien, bei Cocteaus Anachronismus, bei Bressons Nacktheit. Ich glaube, meine Neigungen waren frei von Snobismus. (…) Es gab für mich Gradunterschiede zwischen ihnen, aber keinen Wesensunterschied, ich hegte für Singing‘ in the rain von Kelly/Donen dieselbe Bewunderung wie für Ordet von Dreyer.

Im selben Maße liebte er es, seine weltweiten Verehrer immer wieder aufs Neue zu überraschen: Mit neuen Genres und Versatzstücken aus der Filmgeschichte, aber auch im realen Leben, mit neuen Liebschaften an seiner Seite (u. a. Jeanne Moreau, Catherine Deneuve, Jacqueline Bisset oder Fanny Ardant), die im Anschluss oft als Stars seiner Filme dienten: Eine klassische Win-win-Situation, die ihn zeitweise zum bedeutendsten Aushängeschild des französischen Kinos der 1970er Jahre machte, als er längst ein Autorenfilmer von internationalem Rang war und sich selbst im fernen, kunstfeindlichen Hollywood einen Namen erfilmt (und erschrieben) hatte.

Die letzte Metro / © Studiocanal

Truffaut selbst lernte schon in jungen Jahren sehr gut, wie man ein Kinopublikum für sich gewinnen konnte. Ab dem achten Lebensjahr rannte der junge Truffaut, den seine Mutter nie richtig liebte und der seinen Vater nicht kannte – wiederum eine Analogie zu Fassbinder – regelmäßig ins Kino: Allein bis zum Ende seiner aktiven Zeit als Kritiker soll er gut 3000 Filme auf der Leinwand gesehen, besser gesagt: inhaliert haben!

  • Solange ich Kritiker war, glaubte ich, ein gelungener Film müsse zugleich eine Vorstellung von der Welt und eine Vorstellung vom Kino ausdrücken; Die Spielregel und Citizen Kane entsprachen genau dieser Vorstellung. Heute verlange ich von einem Film, den ich mir anschaue, dass er entweder die Freude am Filmemachen oder die Angst vor Filmemachen ausdrückt, alles dazwischen interessiert mich nicht, das heißt alle die Filme, in denen man das nicht spürt. Ein weniger guter Film von Hawks ist allemal interessanter als der beste Film von Huston.“ (Sämtliche Zitate aus François Truffaut: Die Filme meines Lebens, S. 11)

Als Autodidakt im Selbststudium eignete er sich in diesem Sinne die Handschriften anderer an: Besonders Hitchcock, Hawks, Rossellini, Ophüls, Welles, Gance, Lang, Lubitsch und Renoir standen dabei auf seinem Kinostundenplan in der Pariser Kinemathek – seiner zweiten Heimat – ganz oben. Von ihnen rührt Truffauts Interesse als Filmmaniac wie Regisseur für sehr unterschiedliche Genres her. Egal ob Liebesfilm, Film noir, Melodram, Komödie, Historienfilm oder Drama: François Truffaut verstand es wie wenige seiner Altersgenossen aus allerlei diversen Genrezutaten großes Starkino mit unverwechselbarer persönlicher Handschrift zu formen. Im Gegensatz etwa zu Resnais, Marker, Rohmer oder Godard, mit dem ihn bis zuletzt eine Hassliebe verband, zählte sich Truffaut niemals zu den kühnen, manchmal arg intellektuellen Erneuerern der Filmsprache, sondern stets zu dessen verlässlichen Unterhaltungskünstlern, ohne je seicht oder oberflächlich zu sein.

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Sein Gesamtwerk gleicht daher eher einer prall gefüllten Pralinenschachtel, mit Konfekt in allen Geschmacksrichtungen: Von zart-süßlich bis bitter-herb reichen hier die fein austarierten Nuancen. Jene Truffautsche Mischung schmeckt im Speziellen nach Jugend (Jules und Jim), nach Erwachsenwerden (Sie küssten und sie schlugen ihn), nach Selbstreflexion (Die amerikanische Nacht), nach Aufbruch (Antoine und Colette) und Abschied (Die letzte Metro). Kurzum: Sie duftet nach Leben, sie riecht nach Liebe – diese Pralinenschachtel. Und mitunter auch nach Tod, weil in vielen Filmen Truffauts Gevatter Tod eine heimliche Hauptrolle spielt: Friedhöfe wie Beerdigungen sind in vielen Filmen ziemlich präsent (z. B. in Schießen Sie auf den Pianisten / Die süße Haut / Der Mann, der die Frauen liebte) – und der Tod mindestens einer Hauptfigur ist bei Truffaut fast schon inklusive.

Paradoxerweise durchflattert der Geist jugendlicher Frische und enthusiastischer Liebe in allen ihren Schattierungen genauso alle Werke des Franzosen: Von heiter-lieblich über tragisch-komisch bis melancholisch-trüb reicht die Spannweite der Mise en Scène in Truffauts Kosmos. Anspielungsreich in puncto Filmgeschichte waren sie allesamt, zudem intelligent im Tonfall der Erzählung – und technisch-künstlerisch stets brillant gestaltet (fast immer mit Raoul Coutard oder Nestor Almendros hinter der Kamera und mit der musikalischen Vielfarbigkeit von Georges Delerue). LaCinetek bietet nun die Möglichkeit, das Genie Truffauts ein weiteres Mal kennenzulernen: Verliebter ins Kino war kaum ein anderer Filmemacher seiner Zeit. Der Zögling André Bazins zitierte im Laufe seines kurzen, aber sehr produktiven Lebens vielfach seinen Lehrmeister wie folgt: „Ich dagegen glaube, dass man sich vor jeder Genre-Hierarchie hüten und ganz einfach das für Kultur halten sollte, was uns gefällt, uns unterhält, uns interessiert und zu leben hilft.“ Besser lassen sich Truffauts Filme gar nicht in Worte fassen.

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