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Anne Ratte-Polle – Jenseits des Sichtbaren

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Gerade ist die Schauspielerin Anne Ratte-Polle in der Tragikomödie „Alle wollen geliebt werden“ zu sehen – und beweist darin erneut ihr großes Talent, einer fiktiven Figur nachfühlbares Leben einzuhauchen.

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Anne Ratte-Polle
Alle wollen geliebt werden / Sibylle / Es gilt das gesprochene Wort

Eine permanente Schlichterin zwischen harten, rücksichtslosen Fronten. Eine Person, die es allen irgendwie recht zu machen versucht und sich deshalb unentwegt in den Konflikten anderer aufreibt. Ein Mensch, der seinen persönlichen und beruflichen Ärger, seine Frustration und seine Wut immer wieder hinunterschluckt – bis sich all die unterdrückten Gefühlsäußerungen im denkbar ungünstigsten Moment Bahn brechen. Das ist Ina in „Alle wollen geliebt werden“ (2022).

Kurz angebunden, klar und bestimmt. Sachlich und pragmatisch. Streng mit sich selbst und mit anderen. Bitte keine Gefühlsduselei, kein Kitsch (Traumhochzeit? – „Gruselkabinett!“). Bloß keine emotionalen Bindungen – und auf gar keinen Fall Mitleid. Das ist Marion in Es gilt das gesprochene Wort (2019).

Es gilt das gesprochene Wort © X Verleih AG

Eine Prä- und Post-Credit-Existenz der Figuren

Zwei ziemlich unterschiedliche Frauen, auch äußerlich. Mit rotem Lockenkopf und in hellen, pastellfarbenen Outfits stolpert Ina durch einen brütend heißen Sommertag. Mit oft streng zusammengebundenem dunklem Haar und Klamotten in eher gedeckten Tönen bewegt sich Marion durch die kalt wirkende und häufig verregnete Stadt.

Was diese beiden Figuren jedoch gemeinsam haben, ist zum einen die Schauspielerin, die sie verkörpert: die 1974 in Cloppenburg geborene Anne Ratte-Polle. Und zum anderen ist es eine Qualität, die sowohl durch ein gutes Drehbuch als auch durch die darstellerische Leistung von Ratte-Polle entsteht: Wir haben den Eindruck, dass diese Figuren auch schon vor Beginn der Filmhandlung ein Leben geführt haben und dass sie dieses nach dem Abspann fortsetzen werden – dass sie „echt“ sind.

Alle wollen geliebt werden © Camino

Comedy, Drama – und alles dazwischen

Alle wollen geliebt werden, inszeniert von Katharina Woll, die zusammen mit Florian Plumeyer auch das Skript verfasst hat, ist eine Tragikomödie. In vielen Passagen kann Ratte-Polle ihr humoristisches Talent demonstrieren. Ohne ihre Rolle zur clumsy successful woman trope verkommen zu lassen, legt sie die Psychotherapeutin Ina als leicht fahrige Person an, die wiederholt mit der Tücke des Objekts zu kämpfen hat. Da sind etwa Schuhe beim Betreten der Wohnung im Weg, da ist ein Wasserglas ganz fatal deplatziert, da bereiten die Stühle, die es zu schleppen gilt, erhebliche Probleme.

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In zahllosen RomComs finden sich solche Szenen, da diese dort das Ziel verfolgen, die Protagonistin möglichst liebenswert und charmant erscheinen zu lassen; sie muten dabei aber meist völlig aufgesetzt und gewollt an. In Ratte-Polles Spiel hingegen ist jedes Stolpern, jeder Griff in die falsche Richtung, jede Überwindung von Hindernissen ein kleines Stück Biografie von Ina. Wenn Ina am Morgen von der Praxis ihrer Ärztin wachgeklingelt wird und schlaftrunken am Telefon hängt, gibt Ratte-Polle uns nicht das Gefühl, sich gerade perfekt vorbereitet am Set in dieses Bett drapiert zu haben, sondern eben tatsächlich nach kurzem, unruhigem Schlaf, mit verrutschter, zerknitterter Nachtwäsche und mit wirren Gedanken im Kopf mit einem Anruf konfrontiert zu werden – und auch an etlichen Tagen zuvor mit vergleichbarer Unbill aus den (Alb-)Träumen gerissen worden zu sein.

Bei İlker Çataks Es gilt das gesprochene Wort, dessen Buch Çatak gemeinsam mit Nils Mohl geschrieben hat, ist das ähnlich, wenn auch in einem anderen Genre, dem Drama, verankert. Wie die Pilotin Marion ihrem unaufmerksamen Co-Piloten mit bissigen Kommentaren begegnet, wie sie nach einem Arbeitstag im Haus ihrer verstorbenen Eltern, in das sie gezogen ist, eher wie ein Gast umherläuft oder wie sie an späterer Stelle eine potenziell heikle Situation auf einem Polizeipräsidium erstaunlich unbeeindruckt und souverän löst – all das erzählt uns dank Ratte-Polles glaubhafter und geerdeter Darstellung so viel mehr über Marion, als es für den Plot unbedingt nötig gewesen wäre.

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Marions familiäre Hintergrundgeschichte (die Mutter starb an Krebs, der Vater „folgte ihr“) und die bald eintreffende Nachricht, dass sie selbst schwer krank ist – das könnte eine Schauspielerin wohl dazu bringen, den Part stets mit tränenden Augen und mit melancholischem Blick auszustatten. Dies ist bei Ratte-Polle allerdings gar nicht erforderlich. Sie nutzt den trockenen Humor, den das Drehbuchduo eingebaut hat, um aus Marion einen zähen Charakter mit kaum zu durchdringender Panzerung zu machen.

Jedes Genre wäre möglich

Eine zusätzliche beachtliche Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Figuren ist, dass wir sie uns ohne Weiteres in diversen anderen Genres vorstellen könnten – weil Ratte-Polle ihnen eine Komplexität verleiht, die gängige Muster auf spannende Weise durchbricht. In der Art, wie sie Ina verkörpert, könnte Alle wollen geliebt werden zum Beispiel jederzeit in einen Psychothriller kippen. Beziehungsweise wäre es absolut vorstellbar, dass sich Inas Vergangenheit oder Inas Zukunft in dieser Form schildern ließe. Wenn sich Inas egozentrische Mutter als Opfer gebärdet, wenn ihre pubertäre Tochter ihr hässliche Dinge an den Kopf wirft, wenn ihr Partner sie zu einer Entscheidung bezüglich eines Umzugs nach Finnland und einer Neuorientierung ihrer Karriere drängen will und wenn ihre Patient:innen wenig Einsicht zeigen – dann lässt uns Ratte-Polle wunderbar subtil und leise das Potenzial zur Eskalation spüren.

Diese (hyper-)empathische Frau, die die Grenzen anderer respektiert, obwohl ihre eigenen von diesen ständig missachtet werden – sie könnte in jedem Augenblick explodieren. Eine Ahnung davon, wie (interessant) das dann aussehen würde, vermittelt uns Ratte-Polle in einer virtuosen Sequenz, in der Ina von ihrer Mutter auf deren Geburtstagsfest zum Singen genötigt wird: You Sexy Thing von Hot Chocolate, im schön geschmückten Garten, vor versammelter Verwandt-, Bekannt- und Nachbarschaft.

Es ist – ohne Übertreibung – ein Ereignis der Schauspielkunst, in wie viele unterschiedliche Stimmungen Ratte-Polle ihre Figur hier in kurzen, intensiven Abständen fallen lässt: von Scham über Ermattung bis hin zum finalen Aufbegehren und Ausbruch. Wäre Ina eine dieser klischeehaft geschriebenen und gespielten Komödienfiguren, wäre diese Passage einfach ein netter Gag und zugleich der erreichte Höhepunkt einer Entwicklung. Bei Ratte-Polle wird es derweil zu einem konsequenten Schritt, bei dem wir sehr sicher sein können, dass nach dem Filmende einige weitere – mal in diese, mal in jene Richtung – folgen werden. In Ratte-Polles Interpretation wirkt nichts nur wie ein Plot Point, sondern alles wie ein prägnanter Ausschnitt aus dem komplizierten (und daher niemals lediglich in ein einziges Genre passenden) Leben eines Menschen.

Marion aus Es gilt das gesprochene Wort könnte wiederum in einem anderen Universum auch eine herrliche Sitcom-Heldin sein, die ihr Umfeld mit ihrem Witz und ihrer Schlagfertigkeit in die Schranken zu weisen verstünde. Wie sie die Vorurteile abschmettert, mit denen sie sich durch ihre Scheinehe mit einem jüngeren kurdischen Mann plötzlich auseinandersetzen muss – das greift Ratte-Polle so treffend auf, dass uns als Publikum ohne nähere Erklärungen bewusst wird: Dieser Galgenhumor kommt nicht von ungefähr, er reicht tief in Marions Vergangenheit, er ist seit langer Zeit ein Teil von ihr – und wird ihr gewiss auch weiterhin erhalten bleiben.

Bühnen- und Leinwanderfolge

Vor ihrer aktuellen Hauptrolle in Alle wollen geliebt werden und ihrer Darbietung in Es gilt das gesprochene Wort, für die sie mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet und für den Deutschen Filmpreis nominiert wurde, war Ratte-Polle neben ihrer umfangreichen und ebenfalls preisgekrönten Arbeit am Theater in diversen anderen zentralen Parts zu sehen. So brachte sie etwa in Interaktion mit Frank Giering in Romuald Karmakars Die Nacht singt ihre Lieder (2004) die hart zerbrechende Beziehung eines jungen Paares auf die Leinwand. Von Eva Behrendt wurde sie im Zusammenhang mit diesem Werk in einem lesenswerten Porträt in der taz aus dem Jahre 2004 als „Gänsehauterzeugerin“ charakterisiert.

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In Carolina Hellsgårds Wanja und in Michael Krummenachers Sibylle (beide aus dem Jahre 2015) verkörperte sie die durchaus sperrigen Titelheldinnen – eine Ex-Bankräuberin, die nach ihrer Gefängnisentlassung eine neue Existenz aufbauen muss, und eine verheiratete Architektin mit Kindern, die im Italienurlaub Zeugin eines Suizids wird und daraufhin ihr eigenes (Familien-)Dasein mit zunehmender Befremdung wahrnimmt. Hinzu kommen zahlreiche Auftritte in TV-Produktionen und Serien, wie beispielsweise Tatort (zwischen 2009 und 2021) oder Dark (2017-2020).

Sibylle © eksystent distribution filmverleih

Maximale Wirkung auch bei geringer Screentime

Dass Ratte-Polles Begabung, einer Figur ein gefühltes Leben abseits der sichtbaren Bilder zu geben, sich nicht auf große, im Mittelpunkt eines Films stehende Rollen beschränkt, lässt sich etwa an ihrem kleinen Part in Christian Petzolds Undine (2020) aufzeigen. Mit der tragischen Liebesgeschichte zwischen dem titelgebenden Elementargeist, der im heutigen Berlin als Historikerin tätig ist, und dem Industrietaucher Christoph hat die von Ratte-Polle verkörperte Figur Anna herzlich wenig zu tun.

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Anna ist Undines Vorgesetzte – und kämpft in ihrem Alltag vermutlich mit anderen Sorgen als alten Racheflüchen. „Du schaffst das schon“, entgegnet sie Undine, als sie dieser einen eher unliebsamen Last-Minute-Auftrag ohne Gnade zuschiebt – und zack, verschwindet sie nach kurzer Verabschiedung aus der Tür. „So, ich muss“, meint sie dann an späterer Stelle ein bisschen schroff zu Christoph, als dieser sie nach Undines Verbleib fragt. „Geht weiter jetzt, hm“, wirft sie noch hinterher, nachdem sie hastig ihren Kaffee ausgetrunken hat. Und schon ist sie wieder raus aus der Handlung. Wir wissen nicht, was Anna eigentlich so umtreibt. Aber Ratte-Polle lässt uns ahnen, dass sich daraus bestimmt ebenfalls ein reizvoller Film machen ließe – mit einem spannenden Vor- und Nachleben der Figur.

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