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Happy Birthday: Netflix wird 25

Der kalifornische Streaming-Gigant feiert Geburtstag. Doch die Erfolgsgeschichte gerät gegenwärtig ins Stocken. Oder doch nicht? Wo stehen wir mit Netflix heute, welche Veränderungen hat die Plattform gebracht, und was könnte die Zukunft bringen?

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Der Sog des Erzählens

Liebes Netflix,

25 Jahre bist du schon alt. Und ich habe sogar noch DVDs von dir zugeschickt bekommen. Genau genommen nicht ich, sondern die amerikanische Familie, bei der ich ein paar Monate gelebt habe. Die Idee, mit der du 1997 an den Start gegangen bist, das war schon revolutionär. Gerade in den USA, wo die Wege oft sehr weit sein können, konnte man nun überall Filme auswählen und in den eigenen vier Wänden genießen – ohne großen Aufwand. Hatte man sich für einen Film entschieden, dann kamen die DVDs irgendwann in diesen roten Umschlägen. Die Rücksendung war umsonst, und man bezahlte keine Gebühren, wenn man mal wieder ein wenig länger brauchte oder schlichtweg die DVD im Player vergessen wurde.

Doch ich muss auch zugeben: Ich bin ein Kind der Videothek und ja, du hast diesen wundersamen Orten den Todesstoß verpasst. Das arbeitet in mir. Jedoch muss ich auch zugeben, dass ich, als es dich dann 2014 auch in Deutschland gab, sofort ein Abo abgeschlossen habe. Ich war verführt von der Idee, alles sehen zu können, immer und jederzeit Zugriff auf tolle Filme und Serien zu haben. Aber irgendwann stellte sich dieses Alles als ziemlich begrenzt heraus. Mir fehlte etwas: der Zufall. Eine Videothek hat mich immer zum Flanieren eingeladen, was einem labyrinthischen Spaziergang gleichkam; eine Suche bei dir kann eine ziemlich zähe Angelegenheit sein. Vielleicht weil das Starten eines Filmes etwas Unverbindliches bekommt. Wenn ich zwei Filme in der Videothek ausgeliehen habe, dann war das auch ein Commitment. Sicherlich konnte man einen Film auch abbrechen, aber dann hatte man nicht sofort und klickbereit ein anderes Angebot. Langer Rede kurzer Sinn: Als ich für Filme noch aus dem Haus gehen konnte, wurde ich nicht selten überrascht, weil ich auf unerwartete Werke stieß – vorausgesetzt, es handelte sich um eine gut sortierte Videothek mit kuratorischem Anspruch. 

Früher, da konnte — musste! — man noch schlendern… (c) Arne Müseler / www.arne-mueseler.com, CC BY-SA 3.0 DE

Diesen lässt du leider vollkommen vermissen. Zunehmend werden deine Filme – der Zwang zur Eigenproduktion muss dich sehr schmerzen – beliebig, sollen allen gefallen: ein Spaß für Oma, Papa und die Kinder gleichermaßen. Alles rückt immer näher zusammen, wird durch deine Ähnlichkeitsmaschine gejagt. Nicht nur stellst du Filme aus völlig unterschiedlichen Zeiten und Kontexten völlig gleichwertig und ohne jede Einordnung nebeneinander, was zu einer filmhistorischen Unbildung führt. Du willst mein Seherlebnis perfektionieren. Das empfinde ich als Frechheit. Es ist übergriffig und vermessen. Die Enttäuschung, der schlechte Film und die Irritation gehören zum Film dazu. Diese Idee, dass man nur noch das sieht, was man gut findet, ist sehr gefährlich, wenn nicht gar ideologisch. Kunst und Kultur lebt davon, dass wir uns mit Welten auseinandersetzen müssen, die uns fremd sind. Du aber macht alles immer ähnlicher, noch künstlicher; wie am Reißbrett entworfen entblättern sich deine Geschichten. Vor allem deine Serien sind immer so gebaut, dass sie einen narrativen Sog entwickeln, der uns Bingen lassen will.

Dein CEO Reed Hastings hat einmal gesagt, dass der größte Feind von Netflix der Schlaf sei. Wahrscheinlich war es als Witz gedacht, zeigt aber sehr deutlich, wie ein Medium unseren Alltag durchziehen will, die Aufmerksamkeit durch immer neue Reize auf sich zieht: Der Cliffhanger ist eine verführerische Offenheit, die uns weiterschauen lässt, obwohl wir die Serie vielleicht gar nicht so gut finden. Da wir aber bereits mehrere Stunden investiert haben, wollen wir wissen, wie es ausgeht. Diese Serialität des Sehens scheint mir der Grund für die Sequel-Flut im Kino zu sein. Das Kino nähert sich der Serie an, weil es durch dich gelernt hat, dass es leichter ist, die Menschen in episch erzählten Welten zu fesseln, als durch die Kunst der Verdichtung in einem originären Film zu begeistern. Das ärgert mich. Aber ja. Happy Birthday, du ewiger Strom aus Bildern. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Grüße,

Sebastian Seidler

 

Netflix und das Marketing

Liebes Netflix,

dein Name steht nicht nur für die Streaming-Plattform an sich. Dein Name wird in den Mund genommen, wenn es um einen ganzen Lifestyle geht. Wenn man erwähnt, dass man in seiner Freizeit viel Netflix guckt, wissen alle, was gemeint ist. Immer wieder heißt es „Netflix and Chill“. Die Gründe für diese öffentliche Dominanz liegen auf der Hand: das riesige Repertoire an Eigenproduktionen und diese ausgefeilte Content Marketing Strategie.

Du hast es in den vergangenen Jahren perfektioniert, individuell auf die Kundschaft zugeschnitten zu sein. Unsere Empfehlungen auf der Startseite sind personalisiert und passgenau auf die Interessen jedes Einzelnen angepasst. Selbst die Anzeigebilder sind je nach Person und „Geschmack“ unterschiedlich. Wie gewitzt! So kommt es, dass man im Profil von Freund*innen vielleicht ganz andere Vorschläge sowie Anzeigebilder zu Gesicht bekommt. Der Algorithmus ist echt dein bester Freund…

Heutzutage sind Social-Media-Plattformen zu einem festen Bestandteil der digitalen Marketingstrategie geworden. Du hast die Funktionen moderner Marketingdienste verstanden und wusstest schon früh, dass das Publikum in den sozialen Medien sehr aktiv ist. Mit Memes und witzigen Filtern bekommst du uns eben.

Nehmen wir das Beispiel Stranger Things, Staffel 4, die im Mai 2022 startete. Stranger Things hatte von Anfang an eine enorme globale Reichweite. Diesem bereits gesetzten Trend folgend, erreichtest du erneut die Massen auf der ganzen Welt, indem du Inhalte mit regionalem Bezug herausbrachtest. Zu Beginn der neusten Staffel hast du überall auf der Welt das Upside Down auftauchen zu lassen. Die „Rifts“, Portale zum dem fiktiven Upside Down aus der Serie, wurden als visuelles Spektakel auf Wahrzeichen in den Großstädten dieser Welt projiziert. Mit dabei waren das Empire State Building in New York City, das Gateway of India in Mumbai oder auch das Guggenheim-Museum in Bilbao. Des Weiteren wurde mit großen Marken wie Dominos, MAC Cosmetics oder Coca-Cola zusammengearbeitet. Auf Social-Media gab es merkwürdige Ankündigungen, Behind-The-Scenes-Material und Memes mit Bezug zu den Figuren. Ganz besonders groß war die Kooperation mit Spotify. Wenn man einen Account besitzt, kann man über eine spezielle Playlist herausfinden, welcher Song einen selbst vor dem Bösewicht der Staffel retten würde (wie es in der Handlung auch passiert).

Aber warum machst du dir all die Arbeit, Netflix? Ganz einfach: Du willst uns noch stärker an dich binden. Je mehr Aufmerksamkeit du durch die Social-Media Kanäle, Werbekonzepte und Kooperationen mit anderen Marken erhältst, desto mehr verinnerlichen wir dich als Plattform, als Teil unseres alltäglichen Lebens und unserer Identität. Dabei bist du doch nur ein Streaming-Dienst. Vielleicht solltest du dich mehr auf das konzentrieren, was dich wirklich ausmacht.

Grüße

Sophia Derda

PS: Man sollte sich immer bewusst sein, dass die Plattform mit dem raffinierten Algorithmus zwar vorgibt, nur das Beste für die Kund*innen zu wollen, aber gleichzeitig eine riesige Datenkrake ist. Nur weil Netflix vorgibt, Dich und deinen Geschmack zu kennen, heißt es noch lange nicht, dass Du dich davon vereinnahmen lassen solltest.

 

 

Zum Schluss ein Dankeschön

Liebes Netflix,

ja, auch ich habe so meine Probleme mit dir — und den obigen Schreiben meinen Kolleg*innen diesbezüglich wenig hinzuzufügen. Deshalb, und weil es ja schließlich dein Geburtstag ist und man da auch ein paar nette Worte dalassen möchte, will ich an dieser letzten Stelle einmal Danke sagen. Danke für all die tatsächlich tollen Filme, die du in dieser Zeit finanziert und hervorgebracht hast, die du aufgekauft hast, weil sie ansonsten (vielleicht) in der Produktionshölle verschwunden wären, die du mit viel Trara zu deinen große Flaggschiffen zwischen ziemlich viel Mist gemacht hast.

  • Danke für Cary Fukunagas Beasts of No Nation, diesen erzählerisch wie visuell unheimlich eindrucksvollen Film über Kindersoldaten, der das Verhältnis zu ihrem Anführer ambivalent und doch mit klar kritischer Note zeichnet.
  • Danke für Bong Joon-hos Okja, der in seiner ökologischen und moralischen Botschaft derart radikal ist, dass er mich zumindest kurzzeitig zum Vegetarier machte.
  • Danke für Alfonso Cuarons Roma, dieses stille, berührende Schwarzweiß-Meisterwerk, das ich in seiner ganzen Pracht sogar auf der großen Leinwand sehen durfte.
  • Danke für die Millionen, die du für die Fertigstellung von Orson Welles‘ scheinbar verlorenem letzten Film The Other Side of the Wind locker gemacht hast, auch wenn dabei kein herausragend guter, sondern allem voran filmhistorisch bedeutender Streifen entstanden ist.
  • Danke für Noah Baumbachs Marriage Story, der das Thema Scheidung so herrlich klischeearm und unterhaltsam angeht.
  • Danke für Alexandre Lehmanns Paddleton, diese übersehene Perle über zwei unzertrennliche Freude, die im Angesicht einer tödlichen Krankheit Abschied nehmen müssen.
  • Danke für David Michôds The King, in dem Timothée Chalamet und Robert Pattinson auf einem düsteren Mittelalterschlachtfeld aufeinandertreffen.
  • Danke für Alex Garlands verstörenden SciFi-Thriller Auslöschung, der sich traute, seine Hauptrollen entgegen allen Genrekonventionen ausschließlich mit Frauen zu besetzen.
  • Danke für Martin Scorseses The Irishman, das letzte große Mafia-Epos alter Schule, das zugleich ein selbstkritischer Abschied von der Ära der alten weißen Männer ist.
  • Danke für Der schwarze Diamant von den Safdies, in dem Adam Sandler mal zeigen konnte, wozu er schauspielerisch tatsächlich in der Lage ist.
  • Danke für Spike Lees Da 5 Bloods, einen der politischsten Mainstream-Antikriegs- und -Antirassismus-Filme der vergangenen Jahre.
  • Danke für Rahda Blanks Mein 40-jähriges Ich über eine Schwarze Frau, die es aus dem Theater- ins Rap-Geschäft schaffen will und mir damit zwei unfassbar unterhaltsame Stunden beschert hat.
  • Danke für George C. Wolfes Ma Rainey’s Black Bottom, diesem so würdigen Abschied von Chadwick Boseman.
  • Danke für Aaron Sorkins The Trial of the Chicago 7, der mich mit seinen klassischen Sorkin-Maschinengewehr-Dialogen voll in seinen Bann ziehen konnte.
  • Danke für Sam Levinsons packendes und beeindruckendes Corona-Projekt Malcolm & Marie.
  • Danke für James Samuels All-Black-Western The Harder They Fall.
  • Und natürlich auch danke für bärenstarke Serien wie The Crown, Orange is the New Black, Sex Education, After Life und episodische Experimentierfelder wie Love, Death & Robots und Black Mirror.

In den nächsten 25 Jahren darf es von euch gern mehr Schaubares auf dieser Qualitätsstufe geben.

Grüße

Christian Neffe

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