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Spiegel der Gesellschaft: Psychiatrie und Psychotherapie im Film

Ein Beitrag von Harald Mühlbeyer

Der diesjährige Berlinale-Gewinner ist jetzt im Kino. „Auf der Adamant“ ist ein Dokumentarfilm über eine schwimmende psychiatrische Tagesklinik in Paris. Das Psychiatrische im Film hat eine lange Tradition. Harald Mühlbeyer zieht Linien durch die Geschichte, von Schwelgereien im Abnormen hin zu Gesellschaftskritik.

Meinungen
Psychiatrie im Film: Das Cabinet des Dr. Caligari / Einer folg über's Kuckucksnest / Auf der Adamant

Auf der Adamant hat den Goldenen Bären der Berlinale 2023 gewonnen: Ein Dokumentarfilm, wie man ihn selten erlebt, in dem Regisseur Nicolas Philibert auf der titelgebenden schwimmenden Pariser Klinik ganz offen, ganz frei die Patient*innen und die Pfleger*innen porträtiert. Er muss mit großer Geduld und großer Freundlichkeit deren Zutrauen gewonnen haben, um nun mit seiner Kamera und mit gelegentlichen Fragen den Alltag im psychiatrischen Therapievollzug begleiten zu können. Musik- und Malkurs, ein Filmclub, Tagesbesprechungen – es ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, wer Psychiaterin, wer Pfleger, wer Patient ist. Unaufdringlich evoziert Philibert eine Atmosphäre der Normalität – und das, wo doch im Lauf der Geschichte psychisch Erkrankte eigentlich vor allem Ausgrenzung erfahren haben. 

Auch in der Filmgeschichte hat das Psychiatrische eine lange Tradition, und auch in der Filmgeschichte wird zumeist lustvoll im Abnormen, im Wahnsinn geschwelgt, von „Mad Scientists“ bis zu Opfern falscher Psychopathologisierung; das beginnt schon im Stummfilm.

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Von Caligari zu Hitler

Cesare wandelt in der Nacht, doch nicht aus eigenem Willen; die Welt, die er durchstreift, gleicht seinem bizarr verschobenen inneren Weltbild, und dem seines Meisters Dr. Caligari. Schrägen und Schatten, Über- und Unterproportionen, Über- und Durcheinander – das psychovisuelle Design hat Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920) zur weltweiten Blaupause für die Verschränkung von seelischen Vorgängen und äußerer Handlung gemacht. Dass die gesamte Geschichte, die der Film erzählt, sich am Ende als Fantasiegespinst eines Wahnsinnigen in der Irrenanstalt herausstellt, sieht zugegebenermaßen angepappt aus – nimmt dem Ganzen aber wenig von seiner Wirkung, und verdeutlicht noch einmal ganz explizit den psychologischen Aspekt der Geschichte um einen hypnotisiert-schlafwandelnden Mörder, verbindet Psychiatrie und Wahnsinn unauflöslich; und pfählt das fantastische Geschehen in eine weit weniger stilisierte Realität ein.

Ganz konkret in die Gegenwart ihres Kinopublikums gebunden sind Fritz Langs Dr. Mabuse, der Spieler-Filme, die 1922 in zwei Teilen veröffentlicht wurden: „Ein Bild der Zeit“ hieß der erste, „Inferno, ein Spiel von Menschen unserer Zeit“ der zweite Teil. Mabuse, Arzt und Psychoanalytiker, führt im Geheimen eine weltumspannende Terror-Verbrechensorganisation; einmal tritt er im Varieté auf und führt eine Massenhypnose durch, am gesamten Publikum gleichzeitig… Das Sequel Das Testament des Dr. Mabuse, Premiere im April 1933 in Budapest und im Deutschland der Nazis nie freigegeben, zeigt, wie der wahnsinnige Verbrecher Mabuse selbst nach seinem Tode die Herrschaft des Verbrechens weitertreiben kann, indem sein Geist in den Anstaltsleiter der Nervenklinik gefahren ist, in die er zwischenzeitlich eingewiesen war.

Das Psychologische interessierte den Film schon früh, insbesondere in Deutschland. Schon 1913 in Der Andere spaltet sich die Hauptfigur in zwei Persönlichkeiten – angelehnt natürlich an die Schauerromane (nicht nur) des englischen viktorianischen Zeitalters, in diesem Fall speziell Stevensons „Dr. Jeckyll und Mr. Hyde“. (Dr. Caligari, der seinen mörderischen Schlafwandler durch Suggestionen seinem Willen unterwirft, wirkt wie ein Echo des mysteriösen Coppola in ETA Hoffmanns „Der Sandmann“, und für diverse Charakterisierungen in anderen Filmen könnte der Erzähler aus Edgar Allan Poes „A Tell Tale Heart“ Pate gestanden haben…) Diese literarischen Einflüsse wurden zusammengeworfen mit den Erkenntnissen vor allem Sigmund Freuds über die unbewussten seelischen Vorgänge des Menschen, und so bildete sich in den 1920er Jahren das deutsche Kino als „dämonische Leinwand“ heraus, wie es Lotte Eisner nannte. Die Seelenwissenschaft und die Literatur, aber auch der verlorene Weltkrieg und die Spannungen der Weimarer Republik, das alles floss zusammen zu einem Kino, dessen Stoffe sich gerne an psychischen Abgründen abarbeiteten. Siegfried Kracauer spürte denn auch in seiner essayistischen Studie „Von Caligari zu Hitler“ genau diesen untergründigen Seelenströmungen in der deutschen Filmlandschaft nach und schloss sie kurz mit den Strömungen der Zeit; in den Filmen bereitete sich, so Kracauer, die Nazityrannei vor.

Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie im Film sind gemeinhin Komponenten des Thriller- bzw. Horrorkinos; Die Saat legte das Weimarer Kino, spätestens die deutschen Exilanten, die dem Hitlerregime entfliehen mussten, brachten sie aber dann in die USA, wo in den 1940ern sowieso eine Art Freud-Jung-Psychoanalysehype losging. Von dieser Warte aus pflanzte sich das Psychiatrische in die ganze Filmgeschichte, von Dr. Mabuse, dem psychologisch geschulten Superverbrecher, hin zu Dr. Hannibal Lecter, dem psychologisch geschulten Kannibalen.

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Serienmörder und Stadtneurotiker

Wobei Das Schweigen der Lämmer sich als Psychohorror-Thriller durchaus von der Realität hat inspirieren lassen, Stichwort Ed Gein: Der wurde als einer der schrecklichsten Serienkiller zu so etwas wie einem Popphänomen. Auf ihm basiert nicht nur der Killer Buffalo Bill, den Jodie Foster als Clarice Starling mit Hilfe von Anthony Hopkins‘ Dr. Lecter zu finden hofft, sondern auch Norman Bates, der stilbildende schizophren-paranoide Mörder aus Hitchcocks Psycho – offensichtlich üben die unberechenbaren, grausamen Taten von Killern, und was wohl in ihren Gehirnen vorgehen muss, eine unbändige Faszination aus. Das hat mit dem besagten freudschen Unbewussten zu tun, das zum Populärmythos gewordenen ist; mit dem unbekannten Es, das aus dem Nichts, mitten im Alltag hervorbrechen kann mit mörderischen Untaten. Die Faszination für Abgründe war auch zu diesem Zeitpunkt schon nicht neu. Neben Ed Gein diente etwa Peter Kürten schon als Vorbild für Peter Lorres Rolle in Fritz Langs M von 1931.Vor der filmischen Form allerdings waren derartige Verbrechen eher metaphorisch verbrämt, etwa als böser Wolf im Märchen.

Im Suspense und im Grusel also begegnen uns häufig psychiatrische Erkrankungen, in der Fiktion wohlgemerkt, die sich nur so ganz ungefähr (und im Falle von B- und C-Filmen eher alibimäßig) an der Realität anlehnt – das Reißerische ist hier immer möglich und wird eher durch die Kunst der Inszenierung (Hitchcock! Demme!) transzendiert als durch den bloßen Filmstoff. Was freilich auch möglich ist: Beispielsweise im Gewand eines Film Noir von posttraumatischen Belastungsstörungen zu erzählen, wie George Marshalls Die blaue Dahlie von 1946 (Originaldrehbuch: Raymond Chandler), in dem einer der Protagonisten, mit kriegsbedingter Metallplatte im Kopf, äußerst aggressiv auf laute Musik reagiert und sich nur noch sehr bruchstückhaft erinnern kann, am Tatort eines Mordes gewesen zu sein. 

Dieser Film erscheint wie ein Übergang zwischen dem (Psycho- oder Horror-)Thriller und dem Drama, das sich seinerseits immer wieder mit Auswirkungen psychologischer Erkrankungen beschäftigt: Auch hier war wieder Hitchcock Vorreiter mit Ich kämpfe um dich (Spellbound), der sich 1945 explizit mit Freuds Psychoanalyse beschäftigte und mit einer Traumsequenz besticht, die Salvador Dalí, der Surrealist par excellence, gestaltet hat. In James Mangolds Durchgeknallt (Girl, Interrupted, 1999) geht es um das vielfältige Drama im Inneren einer psychiatrischen Klinik der 1960er, Ron Howards A Beautiful Mind heimste 2001 vier Oscars in Hauptkategorien ein. Russell Crowe verkörpert den Mathematiker Jon Nash, bei dem Genie und Schizophrenie nah beieinander lagen; ähnlich beim ebenfalls oscargekrönten Rain Man Dustin Hoffman. Die publikumswirksame Filmfiktion konnte ein breiteres Bewusstsein für Autismus schaffen.

Eine Nebenschiene des Film-Psychiatrischen, die von diesen Krankheitsporträts und Erzählungen psychiatrischer Einzelschicksale wegführt: Die komödiantische Aufarbeitung der Psychoanalyse-Manie in den USA. Woody Allen beschrieb mit seinen vielfältigen Porträts von Stadtneurotikern, häufig genug von ihm selbst (selbstironisch) gespielt, immer wieder ein bestimmtes Milieu von (Pseudo-)Intellektuellen, bei denen die jahrelange Psychotherapie nicht nur zum guten Ton, sondern als veritables Statussymbol zählt.

Die Komik im Psychiatrischen und im Psychotherapeutischen findet sich insbesondere, wenn dabei zwei gänzlich unterschiedliche Typen aufeinandertreffen: In Reine Nervensache etwa bekommt es Billy Crystal als Therapeut (mit Rollengeschichte Harry und Sally) mit Robert De Niro als Gangster zu tun (mit einschlägiger Rollengeschichte seit den 70ern). Mafia und Therapie – das ist auch das Leitmotiv in Die Sopranos, ziemlich zeitgleich mit Reine Nervensache 1999 angelaufen; keine Komödie, aber durchaus mit komischen Momenten. 

Eine andere Art der Therapie muss Adam Sandler in Die Wutprobe durchstehen – als Weichling gerät er bei einem Flug ins Visier eines autoritären Sky Marshal und wird gerichtlich zu einem „Anger Management“-Kurs verdonnert – ausgerechnet bei Jack Nicholson, der als Therapeut fungiert und die vielen inneren Dämonen, die er in seiner langen Filmrollengeschichte angesammelt hat, genussvoll serviert. Die Wutprobe ist damit im Jahr 2003 tatsächlich einer der ersten Filme, die das 9/11-Trauma und deren Folgen für die Gesellschaft aufarbeiten: Ohne die Terroranschläge gäbe es keine Sky Marshals, die harmlosen Passagier in die Pfanne hauen könnten, und, so suggeriert der Film, auch weniger Wut und Hysterie im sozialen Miteinander.

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Macht Kapitalismus krank?

Ob Thriller, Drama oder Komödie – das Psychiatrische, das psychische Krankheitsbild, das dabei explizit dargestellt wird, ist immer auch ein Porträt der Gesellschaft, in der die Filme entstanden sind; mal subtil und implizit, mal offensiv und explizit. Miloš Formans Einer flog über das Kuckucksnest fungierte 1975 als durchaus gegenkultureller Spiegel, mit Jack Nicholson, dessen unbedingter Freiheitswille pathologisiert und struktureller Unterdrückung ausgesetzt wird. Nicht unähnlich sind einige Sequenzen in Terry Gilliams 12 Monkeys (1995), wenn der Zeitreisende Bruce Willis in der Psychiatrie auf den hyperaktiven Brad Pitt trifft – der ist nämlich hochgradig paranoid, und das bedeutet in dieser Welt wiederum eine hochgradige Klarsichtigkeit, was die gesellschaftlichen Verhältnisse von Kapitalismus und Konsum angeht: „Buy a lot of stuff, you’re a good citizen. But if you don’t, what are you then? Mentally ill.“ Die israelische Fernsehserie BeTipul und ihre Remakes In Treatment (USA, 2008) und In Therapie (Frankreich, 2021) verknüpfen wöchentliche Therapiesitzungen mit den Wunden der Gesellschaft, in der sie spielen; die französische Fassung verweist ganz explizit auf die Pariser Terroranschläge von 2015.

Gerd Kroskes Dokumentarfilm Der SPK Komplex von 2018 behandelt direkt die Wechselwirkungen von Gesellschaft und Psychiatrie: Es geht um das Sozialistische Patientenkollektiv. 1970 in Heidelberg gegründet, sollte – auf Basis der generellen gesellschaftlichen Freiheitsutopie dieser Zeit – die Psychiatrie, die Pathologisierung, die Verkrankheitung des Menschen überwunden werden. Die Idee dahinter: Psychische Erkrankungen würden von der (kapitalistischen) Gesellschaft ausgehen – siehe die Aussage von Brad Pitt in Twelve Monkeys. Kroske steigt mit seinem Film ein in diese Form antipsychiatrischer Therapie, insbesondere deren politische Radikalisierung, auch in Richtung RAF. Es geht um Medizin- und Zeitgeschichte, um die Notwendigkeit des Umdenkens, um den Versuch einer Alternative und um deren Scheitern.

Kroskes Film ist von seiner Anlage her ganz anders als Nicolas Philiberts Auf der Adamant: Die SPK, wie Kroske sie porträtiert, setzte auf den radikalen Ansatz der Umkehrung von „normal“ und „unnormal“; die Adamant, wie Philibert sie zeigt, löst dagegen „normal“ und „unnormal“ ganz auf. Mit seiner Kamera auf diesem Hausboot am Ufer der Seine zeigt er ein offensichtlich funktionierendes, zugewandtes, hilfreiches System, mit psychisch Erkrankten, die offen, humorvoll, kreativ sind; und die zugleich von ihren Abgründen wissen, von (Selbst-)Zerstörung und (Selbst-)Gefährdung. Hier auf der Adamant lernen sie, die Abgründe zu umgehen. Doch in der Schlusseinblendung Philiberts – „Wie lange noch?“ – schließen sich die beiden Filme kurz: Was Philibert zeigt, ist eine Ausnahme, die stets von Finanzkürzungen und letztendlicher Schließung bedroht ist. Die Adamant ist ein utopischer Ort. Die Realität einer psychisch belasteten Gesellschaft braucht derartige bessere, jedenfalls andere Arten psychiatrischer Therapie.

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