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Jahresrückblick

Jahresrückblick 2022: Am Tisch mit Prinzessin Diana

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Das Kinojahr 2022 neigt sich dem Ende entgegen. Die Kino-Zeit-Redaktion blickt zurück. Im dritten Teil schreibt Andreas Köhnemann über die Filme, die bei ihm in den vergangenen Monaten am meisten Eindruck hinterlassen haben.

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Filmstills zu Spencer (2021) von Pablo Larraín
Spencer (2021) von Pablo Larraín

Mein erster Gedanke, wenn ich mein persönliches Kinojahr 2022 Revue passieren lasse, ist ein ziemlich trauriger: Ich war in diesem Jahr deutlich seltener im Kino als in früheren Zeiten. Nicht weil es mir pandemiebedingt nicht möglich gewesen wäre, sondern aus Gründen, die ich selbst nicht so genau erfassen kann. Bin ich vorsichtiger, ängstlicher, soziophober geworden? Habe ich weniger Zeit oder gar Lust, meine Wohnung zu verlassen, um mich mit anderen Menschen in einen dunklen Raum zu begeben? Ich weiß es nicht. Ziehe ich alle beruflichen Kinogänge – als Akkreditierter auf Festivals, als Besucher von Pressevorführungen – ab, bleiben jedenfalls im Vergleich zur präpandemischen Zeit viel weniger übrig.

Immerhin hat mich ein Film so sehr begeistert, dass ich ihn gleich dreimal im Kino sehen „musste“. Und wenn ich über die beiden Filme des Jahres nachdenke, die mich am meisten berührt haben, gibt es eine klare Parallele. Beide Filme haben mich über Dinge in meinem Leben reflektieren lassen, mit denen ich mich teilweise gar nicht so genau auseinandersetzen wollte. Aber das habe ich an Filmen beziehungsweise an deren Rezeption schon immer geschätzt.

Der erste Film (jener, den ich nach der Erstsichtung unbedingt noch zwei weitere Male sehen wollte und von dem ich meinem näheren Umfeld schon so viel erzählt habe, dass wirklich niemand mehr mit mir über diesen Film reden mag) ist Spencer von Pablo Larraín. Ich (und jede Person, die mich ansatzweise kennt) konnte natürlich schon ahnen, dass ich diesen Film lieben würde. Kristen Stewart als Prinzessin Diana – mehr Infos brauchte es nicht, um mich bereits im Vorfeld zu überzeugen. Und gewiss ist dieser Film in vieler Hinsicht ein Meisterwerk: das einfühlsame Spiel, die exquisiten Kostüme, die dichte Atmosphäre, der unbehagliche Score, die unerwarteten Einbrüche von Körperhorror, wenn plötzlich auf harten Perlen gekaut wird, die in die schaurig-grüne Suppe gefallen sind. Unfassbar gut. Und voller Liebe, aber ohne unnötige Heiligsprechung der Protagonistin, die hier widerständig und anstrengend sein darf.

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Hinzu kommt allerdings noch, dass der Film das subjektive Empfinden seiner Hauptfigur so treffend einfängt. Objektiv betrachtet muss Diana nur an ein paar Veranstaltungen an den Weihnachtstagen auf dem Landsitz der Queen teilnehmen. Wie schwer kann das schon sein? Wo liegt da bitte das Problem? Die Inszenierung und jeder Blick, jede Geste von Stewart in der Titelrolle lassen uns jedoch spüren, wie viel Kraft sie das kostet, da zu sitzen und beim Essen beobachtet zu werden. Welche Tortur das für sie bedeutet. Und hier hat mich der Film tatsächlich an einem Punkt erwischt, den ich überhaupt nicht erwartet hatte. Nein, ich bin keine Prinzessin, die sich dem Urteil der Royals, der Öffentlichkeit und der Medien ausgesetzt sieht. Aber ich habe mich selten so ertappt gefühlt wie in Spencer – weil der Film (und ja, vor allem Stewart) diesen inneren psychischen Druck, dieses diffuse Verzweifeln im Rahmen einer sozialen Situation so quälend präzise zum Ausdruck bringt, wie ich es davor noch nie im Kino abgebildet gesehen habe.

Mit dem zweiten Film auf meiner Favoriten-Liste verbinde ich zum einen den schönsten Kinogang 2022. Denn ich habe Mit Liebe und Entschlossenheit von Claire Denis auf dem diesjährigen Filmfestival von San Sebastián gesehen, in einem großartigen Saal und in der kurzen Illusion, dass ich wieder der unternehmungsfreudige Mensch werden kann, der ich bis Anfang 2020 war.

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Zum anderen war das Liebesdrama, das am 19. Januar 2023 hierzulande offiziell im Kino anlaufen wird, für mich ein weiterer Film der extremen Einfühlung. Es geht um eine Frau, mit absoluter Hingabe verkörpert von Juliette Binoche, die ihrem Ex-Freund wiederbegegnet, was rasch ihre aktuelle Beziehung gefährdet. Denis zeigt in der für sie seit jeher charakteristischen Radikalität, wie schrecklich wir sein können, wenn wir verliebt sind. „Schrecklich“ meine ich in diesem Zusammenhang gar nicht (nur) negativ. Wir sehen, wie die Figur von Binoche immer wieder das Erschrecken vor sich selbst packt, wenn sie rückhaltlos ihren Emotionen folgt: Habe ich das gerade wirklich getan? Habe ich das gerade wirklich gesagt? Das ist zugleich furcht- und wunderbar – genau so, wie ein Film zu diesem Thema sein muss.

Andreas’ Top 10 des Jahres:

10. Smile
9. Press Play and Love Again
8. Bones and All
7. Abteil Nr. 6
6. Passagiere der Nacht
5. Come on, Come on
4. Einfach mal was Schönes
3. Triangle of Sadness
2. Mit Liebe und Entschlossenheit
1. Spencer

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