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Luca Guadagnino schickt Taylor Russell und Timothée Chalamet in ein kannibalisches Roadmovie, bei dem die Menschenfresser sich ihren Gelüsten stellen müssen und die Liebe entdecken. Grandios!

Bones and All (2022)

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Die Ethik der letzten Sehne

Mit seinem extravaganten und ungemein klugen „Suspiria“-Remake hat Luca Guadagnino sein ohnehin bereits facettenreiches Œuvre dem Horrorfilm gegenüber geöffnet. Sicherlich ist diese liebevolle Hommage an Dario Argento kein astreiner Schocker. Vielmehr wusste der Regisseur Horrorbilder über sich selbst hinauszutreiben und in einer Anmut zu reflektieren: Selten wurde mit derart brutaler Grazie gemordet, wenn die Choreografie des Tanzes gleichzeitig den Körper einer Todgeweihten verformt. Nun – nach einem überzeugenden Ausflug in die Welt der Serie – geht Guadagnino einen Schritt weiter und überblendet die Genres.

Das Ergebnis: Mit Bones and All hat der Italiener jetzt ein völlig eigenständiges, tief melancholisches Horror-Coming-of-Age-Roadmovie vorgelegt. Das klingt verrückt? Ist es auch. Vollkommen verrückt und dabei in seiner Ernsthaftigkeit von erhabener Schönheit.  

Maren (Taylor Russell) ist die absolute Außenseiterin – sie ist eine Kannibalin. Davon weiß natürlich niemand, außer ihr Vater. Seit längerer Zeit hat sie ihre Gelüste auch unter Kontrolle.  Als sie einer Mitschülerin auf einer Übernachtungsparty jedoch das Fleisch vom Finger nagt, müssen sie und ihr Vater Hals über Kopf die Zelte abbrechen und erneut unter falschem Namen untertauchen. Diese ewige Angst und die ständige Flucht fordern ihren Tribut: Der Vater will so nicht weiterleben. Die Kraft geht ihm aus, weil er die Verantwortung dafür nicht mehr übernehmen kann, etwas im Zaum zu halten, was sich nicht unterdrücken lässt.

Er überlässt Maren sich selbst. Alles was er zurücklässt: eine Tonaufnahme, in der er sich erklärt und Marens Geburtsurkunde. Mit dieser Urkunde hält sie auch den Namen ihrer Mutter in den Händen, die irgendwann einfach verschwunden ist. Maren macht sich auf die Suche nach ihr und muss sich dabei nicht nur in einer ihr fremden Welt zurechtfinden, sondern auch den Dämonen der eigenen Herkunft begegnen.

Unterwegs trifft sie nun andere, mitunter gefährliche Kannibalen – quasi Artgenossen. Einer davon ist Lee (Timothée Chalamet), ein androgyner Außenseiter, der sich auf der Straße eine Härte angeeignet hat, die seine Traurigkeit nur in den Hintergrund rückt. Er ist die klassische Rebellenfigur, die Maren fortan begleiten; zwischen den beiden entsteht eine Romanze on the road. Doch das Glück der beiden hängt an einer dünnen Sehne: Ein gefährlicher und unberechenbarer Menschenfresser (Mark Rylance) hat sich an die Fersen der beiden geheftet.

Müsste man diese Horror-Liebesgeschichte in ein filmisches Verwandtschaftsverhältnis einordnen, dann läge dessen Ort wohl irgendwo zwischen der melancholischen Stimmung in Gus Van Sants Roadmovie My Private Idaho, dem humanistischen Vampirismus von Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive und dem Körper-Begehrens-Horror aus Trouble Every Day von Claire Denis.

Bones and All ist also ein Roadmovie voller Melancholie. Da ist die Weite des Landes, das interessanterweise kaum von Tieren bevölkert ist. Der Fokus liegt auf der Bestie Mensch, die sich in diesem Film selbst ausbeutet: Die Kannibalen in diesem Film sind traurige Parasiten, die sich am Gesellschaftskörper laben und damit immerzu in eine Einsamkeit stürzen, die sie gleichsam fürchten. Bones and All ist aber auch betörend-sensibles Coming-of-Age, das sich mittels der drastischen Horrorbilder in die sozialen Verhältnisse der USA hineinwindet.

Die Allegorie des Kannibalismus hat dabei weniger mit sexuellen Begehren zu tun, wie es noch Julia Ducournau in ihrem fantastischen Raw zu radikalisieren wusste. Guadagnino geht es vielmehr um die Markierung des absoluten Außenseitertums, das sich gegen die ältere Kannibalen-Generation wendet, indem die Jungen ein ethisches Bewusstsein entwickeln und eine Moral abzuleiten versuchen. Und das ist möglicherweise die größte Stärke des Films: Wir sind gezwungen, uns an den Hauptfiguren abzuarbeiten, die wirklich schlimme Dinge tun und uns dennoch nah bleiben.  

Wird es gelingen, sich gegen die angeborene Neigung zu stellen? Genau diese ethisch-moralische Frage macht Bones and All zu einem so grandios wie auch komplexen Film – er schneidet bis ins Mark der Menschlichkeit, die wir immer aufs Neue ergründen müssen. 

Bones and All (2022)

Maren Yearly will bewundert und geliebt werden. Allerdings verspürt sie das Bedürfnis, alle Menschen zu töten und zu essen, die sie selbst liebt. Daher begibt sich die junge Frau auf eine Reise quer durch die USA, um ihren Vater zu suchen, den sie nie kennengelernt hat, um zu verstehen, warum sie so ist, wie sie ist.

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