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Jahresrückblick

Die besten Filme 2023: Die Wahrheit und (fast) nichts anderes

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Joachim Kurz hat in diesem Jahr viele Dokumentarfilme gesehen und bricht eine Lanze für diese Art der Wirklichkeitsbewältigung, die es in Zeiten wie diesen dringender braucht denn je.

Meinungen
Smoke Sauna Sisterhood / De Facto /Joan Baez I Am A Noise
Smoke Sauna Sisterhood / De Facto /Joan Baez I Am A Noise

Ach, ich weiß nicht genau — Jahresendlisten. Das Problem mit diesen beginnt ja schon damit, dass so ein Filmjahr — sagen wir mal 2023 — gar nicht so leicht einzugrenzen ist: Wählt man nur aus den Filmen aus, die man in diesem Jahr gesehen hat? Oder die Filme, die 2023 einen (deutschen) Kinostart bekamen? Damit beginnt ja schon das Elend. 

Vor kurzem las ich in einem amerikanischen Fachmagazin, dass das „goldene Zeitalter“ des Dokumentarfilms in diesem Jahr zu Ende gegangen sei. Das ist allein schon deshalb eine kühne Behauptung, weil es das angeblich goldene Zeitalter — falls es dies überhaupt je gab — mit Sicherheit nicht in unserer jüngsten Vergangenheit zu verorten ist. Sicher: Dokumentarfilme boomen, doch sie tun dies vor allem auf Festivals oder bei Events, bei denen die Filmemacher*innen anwesend sind, während im Kinoregelbetrieb sie ausschließlich eine kleine Publikumsschicht ansprechen. 

Es ist also höchste Zeit, sich im Jahresrückblick mal das dokumentarische Schaffen anzuschauen und dies Revue passieren zu lassen. Und wie durch eine glückliche Fügung startet in dieser letzten Kinowoche des Jahres auch ein Film in den deutschen Kinos, der seine Weltpremiere dieses Jahr bei der Berlinale feierte: Joan Baez — I Am A Noise von Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle war schon allein deshalb ein Highlight, weil die Porträtierte es sich nicht nehmen ließ, selbst bei der Vorführung anwesend zu sein und danach noch ein paar Songs im Kinosaal zu singen. Und das war ebenso wunderbar und ergreifend wie der Film selbst, der vor allem von der schonungslosen Ehrlichkeit von Joan Baez gegenüber sich selbst lebt. 
 

Joan Baez — I Am a Noise (2023) — Trailer (OmU)

Ein anderer Dokumentarfilm, der mich bei der Berlinale zutiefst beeindruckt und verstört hat und der mich seitdem bis zum heutigen Tag beschäftigt, ist De Facto von Selma Doborac, der in der Sektion Internationales Forum des jungen Films gezeigt wurde und der den Caligari-Preis erhielt. Verstörend ist der Film auf verschiedene Weisen: zum einen ist da das Thema, das behandelt wird. Selma Doborac hat sich drei Jahre lang durch Texte gearbeitet, Augenzeugenberichte und Vernehmungsprotokolle von Tätern, die an Genoziden beteiligt waren. Diese Texte wurden so bearbeitet und komprimiert, dass fast jeglicher Hinweis auf die zeitliche wie räumliche Verortung der Taten fehlt. Auf diese Weise entsteht so etwas wie eine globale Sprache des Bösen, ein nicht enden wollender Bewusstseins- und Wortstrom von unvorstellbarer Grausamkeit und Entmenschlichung. Inszeniert ist das mit den maximalen Mitteln der Entfremdung, die eigentlich eine Distanzierung vom Gehörten begünstigen müssten: Zwei Schauspieler (Christoph Bach und Cornelius Obonya) sprechen diese sorgfältig komponierten Texte in einem neutralen Setting mit unbewegter Kamera und ohne sichtbaren Schnitt innerhalb der Sequenzen — und das teilweise in einem so extremen Duktus, dass es einem vorkommt, als habe man ihnen aufgetragen, so schnell wie möglich und ohne jede emotionale Beteiligung durch die Sätze zu hasten. Und dennoch — all diesen Kunstgriffen zum Trotz oder vielmehr gerade deswegen entfaltet der Film eine ungeheure, niederschmetternde Wirkung auf die Zuschauer*innen: Wie ein langsam wirkendes Gift tröpfelt das Gehörte ins eigene Bewusstsein und entfaltet dort ganz langsam seine Wirkung. Und die ist fatal. Ich gebe zu: De Facto ist ein Film, der schwer auszuhalten ist; einer, den man niemandem zumuten möchte und der doch jedem und jeder zugemutet werden müsste. Und er ist ein Essay über das Filmemachen selbst, über die Wahl der künstlerischen Mittel, über die Macht der Sprache und die tiefe Verwurzelung des Bösen im menschlichen Geist und in der menschlichen Seele. Ein Monstrum von einem Film — und vielleicht gerade deshalb so passend für diese Zeiten, in der sich ganz reale Monströsitäten rings um uns herum ausbreiten. Sehr empfehlenswert hierzu auch der Essay „Nichts ist ungeheurer als der Mensch“ von Silvia Bahl im Filmdienst.

Auf ganz andere Weise berührend und ergreifend ist ein anderer Film, der mir dieses Jahr begegnet ist und der gerade mit einem Europäischen Filmpreis als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde: Smoke Sauna Sisterhood von Anna Hints aus Estland. In kontemplativen Bildern und Einstellungen, die große Nähe und Intimität bei gleichzeitigem Respekt vor diversen Körperlichkeiten herstellen, beschwört der Film die Macht weiblicher Solidarität und die Wichtigkeit von geschützten Räumen (in diesem Fall ist es eine Rauchsauna), in denen Vertrauen und Austausch entstehen kann. Und gerade die Entwicklungen (zum Schlechten), die wir im gerade zu Ende gehenden Jahr in den digitalen Räumen des Austauschs (auch „soziale Medien“ genannt) erleben mussten, zeigen, wie wichtig solche Orte und deren Erhalt sind — und zwar in der Realität. Und eines sei als Beifügung hier erlaubt: Auch Kinos und Festivals sind solche Orte.
 

Smoke Sauna Sisterhood (2023) — Trailer (OmU)


Einen anderen Ort suchen in Vista Mare Julia Gutweniger und Florian Kofler auf — einen Ort, der stets zum Träumen anregte, dessen Realität aber eine ganz andere ist. Seit Jahrzehnten ist die Obere Adria um Rimini herum eine beliebte und zugleich ein wenig in die Jahre gekommene Urlaubsregion. In ihrem Film zeigen sie das Leben hinter den Kulissen in genau abgezirkelten Einstellungen, die an die Filme Nikolaus Geyrhalters erinnern, und bilden so die ideale Ergänzung zu Sofia Exarchous Spielfilm Animal.

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Gleich zwei Filme, die mir in diesem Jahr besonders gefallen haben, kommen aus Nordafrika: Kaouther Ben Hanias Olfas Töchter und Asmae El Moudirs The Mother of All Lies erzählen beide Geschichten vom Verschwinden und offenbaren familiäre Traumata, die die Filme mit je unterschiedlichen und ungewöhnlichen Mitteln zu beseitigen (oder zumindest zu bearbeiten) versuchen.

The Mother of All Lies — Trailer (OmeU)


Was auffällt — und ich schwöre, dass mir dies erst aufgefallen ist, nachdem ich mir die für mich wichtigsten und bemerkenswertesten Filme des Jahres aufgeschrieben habe: Alle oben aufgeführten Filme (mit Ausnahme von Vista Mare, wo es ein gemischtgeschlechtliches Regie-Duo ist) sind von Regisseurinnen realisiert worden. Das hat mich zum Nachdenken gebracht: Zumindest gefühlt zeigt sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Filmschaffen von Regisseurinnen im Bereich des Dokumentarischen und beim Spielfilm. Auch wenn Justine Triet in diesem Jahr mit Anatomie eines Falls den (Spiel)Film des Jahres gedreht hat, ist das Fiktionale dennoch weitgehend eine Sphäre des Maskulinen, während die Geschlechterverhältnisse im Dokumentarischen anderen „Gesetzmäßigkeiten“ zu folgen scheinen. Warum das so ist und was dies über die Filmbranche aussagt, darüber werde ich mit Sicherheit lange nachdenken und versuchen, dieser Merkwürdigkeit (sofern es denn eine ist und nicht viel eher Ausdruck eines tief verwurzelten patriarchalen Denkens) auf die Schliche zu kommen.

 

Meine persönliche Top 10 Dokumentarfilme (ohne Reihung)

1. De Facto
2. 27 Storeys — Oberlaa Forever
3. 20 Days in Mariupol
4. Band
5.
 Smoke Sauna Sisterhood
6. Olfas Töchter
7. The Mother of All Lies

8. Auf der Adamant
9. Notre Corps
10. Vista Mare

Honorable Mentions:
Einhundertvier


Meine persönliche Top 10 Spielfilme (ohne besondere Reihenfolge — und falls jemand den ein oder anderen Film vermisst, habe ich ihn im Zweifelsfall schlicht nicht gesehen)

1. Anatomie eines Falls
2. The Zone Of Interest
(startet erst 2024 im Kino)
3. How to Have Sex
4. Das Lehrerzimmer
5. Fallende Blätter
6. All of Us Strangers
(startet erst 2024 im Kino)
7. Tótem
8. Monster / Die Unschuld
9. Robot Dreams
10. Perfect Days

Honorable Mentions:
Animal

 

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