Log Line

Die Dokumentarfilmerin Bianca Gleissinger begibt sich den den Wiener Wohnpark Alterlaa, wo sie selbst aufgewachsen ist, und wirft von dort aus ein Schlaglicht auf größere gesellschaftliche Baustellen.

27 Storeys (2023)

Eine Filmkritik von Anke Zeitz

Vom Loslassen der Dunstabzugshaube

Wie fühlt es sich an, zu dem Zuhause zurückzukehren, das man vor vielen Jahren verlassen hat? Und wie empfinden die, die niemals den Wunsch hatten, wegzugehen? In ihrem Dokumentarfilm „27 Storeys“ besucht die Filmemacherin Bianca Gleissinger den Ort, an dem sie ihre Kindheit verbrachte: den Wohnpark Alterlaa in Wien. Dabei schaut sie nicht nur auf  ihre eigene Biografie zurück, sondern wirft auch einen warmherzigen und augenzwinkernden Blick auf die Bewohner:innen heute, die größtenteils auch 50 Jahre nach der Erbauung des damals größten Wohnparks Österreichs in gewisser Weise in der Gründerzeit von damals verharren.

Im Jahr 1973 brachte der Architekt Harry Glück ein bis dahin einzigartiges Projekt in die Wiener Vorstadt: Auf einem Areal von 240.000 Quadratmetern entstand ein Wohnpark mit vier Blöcken mit bis zu 27 Etagen, der Platz für 3200 Wohnungen in den verschiedensten Größen bot. Dazu sollten die Mietenden alles Wichtige in fußläufiger Entfernung finden: ein Einkaufszentrum, Grünanlagen, Spielplätze, Schwimmbäder, Schulen, Parkplätze, Restaurants, sogar frei verfügbare Clubräume, in denen das Vereinsleben gefördert werden sollte. Eine Stadt inmitten eine Stadt, eine Utopie, eine Insel.

Auch Bianca Gleissinger wuchs in Alterlaa auf. Doch heute ist dieser abgeschottete Mikrokosmos für sie nur noch eine Erinnerung. Gleissinger nutzt diese Erinnerung — inklusive privater Videoaufnahmen — als Einstieg in ihren Film und beschreibt ihr Aufwachsen in Alterlaa ganz simpel als Glück: „Die anderen außerhalb fanden uns komisch, und wir fanden die anderen komisch.“ Viele der Bewohner:innen Alterlaas, die zu Wort kommen, leben schon seit mehreren Jahrzehnten im Wohnpark. Sie sind glücklich dort, sehen es als ihr Zuhause, anders als die Jüngeren, denn für die ist Alterlaa „nur ein Ort, wo sie schlafen“. Hier macht 27 Storeys ein Fenster zu einem immer wieder aktuellen Diskurs- und Konfliktfeld unserer Gesellschaft auf, denn der Clash zwischen Generationen, die unterschiedliche Anforderungen an ein wohlgefälliges Leben stellen, vermittelt sich gerade in einem solchen Mikrokosmos sehr gut.

Als bestes Beispiel dient ein Ehepaar, das in einem der Clubräume ein Freddy-Quinn-Museum und -Archiv betreibt. Jahrzehntelange Arbeit steckt in den kleinen Räumen, Jahrzehnte, die auf eine große Vergangenheit schließen lassen, aber die Frage nach einer Zukunft offenlassen. Wer soll das Museum weiterführen, wenn das Ehepaar es nicht mehr kann? Und wer aus einer jüngeren Generation interessiert sich noch für Freddy Quinn? Mehr als einmal spielt der Film auf kritische Stimmen an, die Alterlaa als „das größte Altersheim Österreichs“ bezeichnen. Gleissinger konfrontiert die Mietenden mit dieser Kritik und beobachtet mit feinem Blick, wie beispielsweise Philipp, der mit seinem Sohn nach Alterlaa gezogen ist, schon seit längerem versucht, mit technischen Neuerungen (einem Newsletter!) die festgefahrenen Strukturen aufzubrechen. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Denn, so Philipp, ändern lasse sich in Alterlaa alles nur sehr behutsam.

Als Dokumentarfilm ist 27 Storeys durch diese vielen schönen Untertöne viel mehr als ein Porträt über eine Gegend. Der Film verdeutlicht, wie beispielsweise auch schon Am Kölnberg von Laurentia Genske und Robin Humboldt, Berlin Exzelsior von Erik Lemke oder Manche hatten Krokodile von Christian Hornung, dass ein Mikrokosmos wie ein Brennglas für die Gesellschaft funktioniert und ebenso auch ihre Konflikte abbilden kann. Die Isolierung älterer Menschen, die Generationsschere zwischen Alt und Jung, das Versäumnis der Politik, beide Positionen zusammenzubringen. Der Film legt diese Konflikte offen, verharrt aber nicht im dramatischen Problematisieren, sondern bleibt immer im Menschlichen, im Kleinen — und wirkt dadurch umso sympathischer.

Bianca Gleissinger setzt im Film auf volle Transparenz und dreht das eigene Making Of quasi gleich mit. Mehr als einmal „inszeniert“ sie ihre Regieanweisungen, bespricht mit den Gefilmten, von wo sie ins Bild kommen sollen oder was sie jetzt filmen wird. Das ist nicht nur amüsant, sondern auch erfrischend ehrlich und öffnet den Blick für die Herausforderungen des dokumentarischen Inszenierens. Die Einstellungen (Kamera: Klemens Koscher) sind genau komponiert und laden ein, in ihnen zu stöbern wie in einem Museum, dazu nutzt Gleissinger die besondere Atmosphäre und Ästhetik der Architektur, um Geschichten zu erzählen, die irgendwo zwischen angestaubtem Kitsch, festgefahrener Enge und heimeliger Gemütlichkeit verortet sind, mal leise und berührend, mal skurril lustig. Immer aber liebevoll menschelnd und mit trockenem Humor. 

Am Ende kommt Bianca Gleissinger in ihrem Film, der in Kooperation mit dem ZDF für die Reihe Das kleine Fernsehspiel entstanden ist, seine Premiere beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken feierte und mindestens in Österreich, hoffentlich aber auch in Deutschland einen Kinostart haben wird, auch zurück nach Alterlaa, um ihre persönliche Beziehung mit diesem Ort zu hinterfragen. „Früher dachte ich, die Häuser würden 1000 Meter nach oben wachsen. Heute denke ich, sie würden nach unten drücken.“ Dass sie einmal so empfinden würde, hätte sie wohl als Kind nicht vorhergesehen, denn damals fiel ihr der Abschied unendlich schwer, vor allem von der Dunstabzugshaube, die sie heftig umklammerte. Und nun, so schließt sie am Ende, sei es einfach an der Zeit, die „Dunstabzugshaube loszulassen“. 27 Storeys steht so auch für eine Rückkehr in eine Kindheit, die sich nie wieder rekonstruieren lässt. Menschen entwickeln sich, doch in Alterlaa bleibt — zumindest bis jetzt — alles, wie es eh schon immer war. Denn „die Menschen, die nicht ausgezogen sind, sind vor allem eins: immer noch hier“.

27 Storeys (2023)

Von dem größten sozialen Wohnpark Österreichs, mit dem Namen Alterlaa, und seinem einstigen Glücksversprechen an seine Bewohner*innen handelt der humorvolle Debüt-Dokumentarfilm 27 STOREYS von Bianca Gleissinger. Die Regisseurin kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück und begegnet dort seinen verschrobenen wie liebenswürdigen Bewohner*innen – im Schießverein, am Pool auf dem Dach oder auf dem Balkon — und gewährt damit tiefen Einblick in ein soziales Biotop. “Wohnen wie die Reichen für alle“ war 1970 die utopische Prämisse des Architekten mit dem klangvollen Namen Harry Glück. Aber was ist von jenem Pioniergeist übriggeblieben? Dieser Film ist eine witzige, sehr persönliche Annäherung an einen obskuren Ort und eine Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen