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... und das Kino denkt sich selbst (VI): Videothekenfieber

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Sechster Teil unserer Jahresserie Korpus Kino: Wir gehen der Frage nach, was Kino überhaupt ist. Zum Geist des Kinos kommt man manchmal über Umwege. Es ist nicht immer die Leinwand, die eine Leidenschaft entfacht. Ein Loblied auf die Videothek. 

Meinungen
Videotheken

Ohne Videothek kein Tarantino. Nun gut. Vielleicht wäre aus dem jungen Quentin auch so ein großartiger Regisseur geworden. Doch lässt sich daran heute nicht mehr rütteln: Der Starregisseur ist durch Videotheken in die Welt des Films eingetaucht, um aus deren Tiefen funkelnde Juwelen zu bergen. Heute sind diese Orte nicht mehr bloß vom Aussterben bedroht. Vielerorts sind sie schlichtweg nicht mehr existent. Dafür hat man jetzt das so hochgepriesene Angebot der Streamer, die uns alles ins Wohnzimmer liefern. Allein, diese digitalen Content-Container können die öffentlichen Archive des Films nicht ersetzen. Die Videothek war – sofern es sich denn um einen liebevoll geführten Laden handelte – ein Ort der Zusammenkunft, an dem man auf Unerwartetes stoßen durfte, ja bisweilen über abstruse Dinge gestolpert ist. Wie taucht dieser Kinoort jenseits des Kinos in den Filmen auf? Und welche Rolle spielt die Videothek im Kino selbst eigentlich?

Zensur-Lust

In Prano Bailey-Bonds fantastischem Horrorfilm Censor sucht die Hauptfigur eine Videothek auf, um die Hände an einen verbotenen Film zu bekommen. Sie selbst ist für dieses Verbot verantwortlich, arbeitet sie doch als Filmzensorin für die britische Regierung. Nun glaubt sie allerdings, in einem Film eines berüchtigten Horrorfilmregisseurs ihre verschwundene Schwester entdeckt zu haben. Sie braucht also den Stoff. Jenen Stoff, der in den 80ern in England – es ist die Zeit der sogenannten Video Nasties – beschlagnahmt, geschnitten und verboten wird. Wie bei jedem Verbot erblüht ein Schwarzmarkt und auf jenen setzt Enid bei ihrer Suche nach der Schwester. 

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Auch wenn dies nur eine kleine Szene im surrealen Alptraumstrudel dieses britischen Horrorfilms ist, so erzählt sie doch ziemlich viel über die Rolle der Videothek. Man darf nicht vergessen, dass man dort auch all die direkt für den VHS-Vertrieb gedrehten Filme finden konnte. Die Videokassette ermöglichte billige Produktionen, Abseitiges und mitunter experimentelle Extravaganzen. Selbstverständlich war zu jeder Zeit viel Schund dabei. Doch eröffneten sich auch Freiheiten und vor allem eine gelebte Praxis einer Videothekenkultur: Jeder Schwarzmarkt zeugt immer auch von einer leidenschaftlichen Anbindung.

In diesen beinahe nebensächlichen Momenten erzählt Censor viel über eine Zeit, in der das Kino noch gefährlich war und geatmet hat. Nun mag man einwenden, dass es sich dabei um eine relativ überschaubare Kultur gehandelt haben mag. Dennoch muss diese sich auch von der Mainstreamkultur abstoßen, was in seiner Intensität durchaus Rückschlüsse auf das Zentrum zulässt.

Film-Räume

Die Videothek wird in Censor zu einem geheimnisumwitterten Ort. Jede Videokassette ist ein Versprechen und mit jedem Film, den man sich ausleiht, geht man eine Art Vertrag ein. Wohingegen es heute im Streaming eine Leichtigkeit ist, von einem Film, der einem etwas abverlangt, zu einem anderen Film zu skippen. Wenn man allerdings einen Film aus der Videothek mitgenommen hat, den Weg in den Laden auf sich genommen hat, dann bleibt man unter Umständen an einem Film dran – denn Filme dürfen und müssen auch mal eine Zumutung sein. Und von dieser Zumutung erzählt Prano Bailey-Bond. Auch davon, dass man sich darin verlieren kann.

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Ähnlich und doch ganz anders erzählt Michel Gondry in seinem herrlich verdrehten Abgedreht. Jack Black spielt darin Jerry, einen nervig-durchgeknallten Typen, der beim Versuch, ein Stromkraftwerk zu sabotieren magnetisch aufgeladen wird. Seine verstrahlte Anwesenheit ist es auch, die alle Videos in Mr. Fletchers (Danny Glover) Videothek löscht. Um dies zumindest für eine Zeit zu vertuschen, beschließen Jerry und sein Freund Mike (Mos Def), die Filme in eigenen Versionen nachzudrehen. Diese neuen Filme entwickeln sich zum Kassenschlager – alle wollen plötzlich die Amateur-Filme sehen. Die Originale der Studios – ohnehin alle zerstört – werden verschmäht. 

Gondrys Film ist eine Hommage an die DIY-Kultur und eine Feier von Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl. Die spinnerten Ideen, durch die die großen Filmtricks mit Alltagsgegenständen reproduziert werden, erwärmen einem das Herz. Das ist niedlich und witzig. Es ist aber auch nur die eine Seite der Medaille: Im Kern ist Abgedreht der ultimative Film darüber, dass Kino eben nicht nur Content zur Unterhaltung ist. Die Videothek wird zu einem Lebensraum, in dem sich plötzlich das ganze Viertel ernst genommen fühlt. Man sieht die gleichen Filme, tauscht sich aus, trifft sich zwischen den Gängen, in denen Videos stehen – vielleicht streitet man auch mal. Aber man kommt zusammen und zelebriert die Geschichten, die etwas über uns alle erzählen. Allerdings braucht der Film das Weitererzählen, das Weiterstricken. Kino ist eine Lebensform. Das haben wir heute weitgehend vergessen.

High Fidelity: Auch mit Jack Black © Buena Vista

Was High Fidelity für den Plattenladen ist, schafft Abgedreht für den Film: Kunst bedeutet uns nur etwas, wenn wir unser Leben daran anbinden können. Am Ende von Gondrys liebevollem Film schaut sich das Viertel den selbstgedrehten fiktiven Dokumentarfilm über einen Jazzmusiker in der Videothek an. Das Bild wird auf ein weißes Tuch projiziert, das vor dem Fenster hängt. Vor dem Laden versammelt sich eine Menschenmasse, die gebannt den Bildern folgt, die über das Schaufenster laufen. Wie sich hier – auf einer symbolischen Ebene – Innen und Außen verbinden, Menschen durch die Bilder zusammenkommen, berührt den Kern des Erfolgs von Barbie: Dieser Film ist vor allem deshalb so erfolgreich, weil das Kino wieder in das Leben integriert wurde, die Zuschauer*Innen, ähnlich zur Rocky Horror Picture Show, mit Kostümen an der Filmwelt teilnehmen. Barbie nimmt die Menschen ernst, gibt ihnen das Gefühl, das Erlebnis Kino aktiv mitgestalten zu können. Videotheken hatten einmal eine ähnliche Funktion – wir sind es, die einen Film zum Leben erwecken. Der Stream vereinzelt uns. Das Video hat uns verbunden.

 

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