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Schnittwechsel: Ist das Streaming der Tod des Kinos?

And the Oscar goes to … Apple Tv+. Mit „Coda“ wurde nicht nur ein Film ausgezeichnet. Es sind auch die Streaminganbieter, die mehr an Macht und Einfluss gewinnen. Aber sind sie wirklich die Totengräber des Kinos? Zwei Positionen aus der Redaktion.

Meinungen
Kino_Stream

Diese unsägliche Ohrfeige von Will Smiths hat andere wichtige Diskussion über die Oscars in den Hintergrund gerückt. Welche Lehren sind aus den Entscheidungen der Academy zu ziehen? Darüber kann endlos diskutiert werden. War der Oscar für „Coda“ angemessen? Oder ist „The Power of the Dog“ nicht doch der bessere Film? In gewisser Hinsicht spielt es aber keine Rolle: Der große Sieger dieser Awards sind und bleiben die Streaminganbieter. Was bedeutet das nun für die Zukunft des Kinos und unseren Umgang mit der digitalen Filmkultur.  

Die Agonie der Filme
                    von Sebastian Seidler

Der Filmkritiker Daniel Kothenschulte hat in seiner Oscar-Prognose für die Frankfurter Rundschau die Entscheidungen in den prominenten Kategorien richtig vorhergesagt und mit großer Sicherheit dürften auch die jeweiligen Begründungen ziemlich nah der Wirklichkeit sein. Doch darum soll es nicht gehen. Jedoch findet sich in dem Text eine glasklare Einschätzung der derzeitigen Situation des Kinos:

„Bester Hauptdarsteller sollte wohl Will Smith werden, wie überhaupt „King Richard“ als einer der unterschätzten Filme der Saison mehr Anerkennung verdient hätte. Was dieser Film mit „West Side Story“ und „Licorice Pizza“ gemeinsam hat, ist der unverdiente Misserfolg an der Kinokasse. Und das ist das eigentliche Drama dieses Kinojahres: Auch erstklassige Hollywoodfilme kommen nicht mehr notwendigerweise an gegen die Streaming-Konkurrenz.“

Das Scheitern dieser Filme an der Kinokasse ist keine Kleinigkeit. Unabhängig davon, ob man mit dem jeweiligen Film etwas anfangen kann oder nicht, so haben wir es mit eigenständigen Filmvisionen zu tun, die fernab vom Achterbahn-Kino der Superheldenfilme stehen. Nicht, dass wir uns da falsch verstehen: Es ist nichts gegen Spiderman oder Batman einzuwenden. Doch das Kino lebt von der Vielheit, braucht sowohl die kleinen leisen Filme als auch den großen Bombast. Wenn man für einen Moment die nostalgische Brille des Kinos abstreift und anerkennt, dass sich eben ein Wandel der Sehgewohnheiten vollzogen hat und die Menschen nun mal gerne zu Hause ihre Filme schauen, so kann man leider auch dieser weniger kulturkritischen Haltung nur wenig abgewinnen. Streaming in seiner derzeitigen Form zerstört nicht bloß das Kino. Es vernichtet die VIelfalt des Film (auch auf Plattformen selbst) und letztlich schadet es der Filmgeschichte; ohne Filmgeschichte keine Magie.

Harmlos berührend: „Coda“ gehört eher in die Kategorie „Sichere Bank“. (c) Apple TV+

Nun mag es ziemlich unfair sein, sich in diesem Zusammenhang ausgerechnet einen Film wie Coda herauszugreifen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte diesem Film im Kino ein ähnliches Schicksal wie Licorice Pizza oder schlimmer geblüht. Aber in seiner klaren Message ist der Film der typische, durch und durch harmlose Oscar-Gewinner — vergleichbar mit dem lieblichen „Green Book“. Das kommt eben auch noch hinzu: Es geht nicht um die bloßen Zahlen, es geht um Inhalte und um die Möglichkeit von Wagnissen; Apple TV+ wird aus diesem Oscar-Gewinn seine Schlüsse ziehen und Filme gezielt auf Festivalgeschmack und Oscars zuschneiden.

Wenn nun ausgerechnet die Streaming-Giganten — oh, man verliert langsam den Überblick — mit solchen stromlinienförmigen Produktionen den großen Preis absahnen, hat das für die Kunst nichts Gutes zu bedeuten. The Power of the Dog ist da sicherlich ein anderes Kaliber. Im Angebot von Netflix ist dieser Film aber nur einer dieser kleinen Lichtblicke, die berühmte Ausnahme von der Regel.

Ich erinnere mich noch an mein Volontariat beim WDR. Was haben alle diese angeblichen Freiheiten bei Netflix herbeigesehnt und auf den deutschen Film projiziert. Was haben wir die großen Serienwürfe — die erste Staffel Bloodline — gefeiert. Heute ist der Gigant selbst zu einem Fernsehsender geworden, der vor allem jede Menge Mittelmaß produziert und Zielgruppen erschließen muss: Die Logik der Abos dominiert den Blick auf die Stoffe.

Sperrige Filme wie den großartigen Wolfsnächte verschluckt der Algorithmus ohnehin. Also auch in Bezug auf die so viel gelobte Zugänglichkeit lohnt ein kritischer Blick. Es gilt nach wie vor, dass man von den Dingen wissen muss, damit man sie findet. Gleichermaßen lies Amazon eine der gewagtesten Produktion der letzten Jahre einfach im Nirvana verschwinden: Too Old To Die Young, die Serie von Nicolas Winding Refn. Zu provozierend? Zu abschreckend? 

Auch mit der Filmgeschichte wird insgesamt eher fragwürdig umgegangen. Frühe Filme von Leos Carax, Claire Denis oder Mike Leigh sucht man in vielen digitalen Orten vergebens. Alles steht völlig gleichwertig nebeneinander und das Alte konkurriert mit dem Reiz des Neuen: Ganze Generationen wachsen ohne historische Einordnung auf. Streambar wird mit Qualität gleichgesetzt. Ist etwas nicht mehr erhältlich, dann wollte es womöglich auch keiner sehen und kann auch nicht so gut sein. Eine Argumentationslinie, die ich noch aus den Sendern kenne. So können wir mit Kunst nicht umgehen. 

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Zustimmen und ansehen

Dabei birgt Streaming auch großes Potenzial. MUBI oder der in Europa leider nicht abrufbare Criterion Channel machen es vor: Sie kuratieren, produzieren Bonusmaterial, Essays und Interviews. Ein weiterer Anbieter ist der liebevoll betreute La Cinetek. Dort stellen Filmemacher*innen ihre Favoriten mitunter selbst vor. Die FAZ hat über diese Philosophie einen sehr lesenwerten Artikel publiziert. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass es in machen Städten immer noch Videotheken gibt, in denen Filmschätze schlummern, die man nirgends sonst bekommt — man denke an das Videodrom in Berlin, den Film-Shop in Kassel oder die Traumathek in Köln. Zur Filmbildung gehört nämlich auch der Wille, sich bilden zu lassen. 

Von dieser Filmvermittlungsarbeit braucht es mehr, denn im Grunde ist die Sache ganz einfach: Folgt man lediglich dem kurzfristigen Erfolg der Einschalt-Streaming-Quote, dann wird es eine ziemlich eintönige Geschichte — auch das Angebot der Streamer wird dann schnell algorithmischer Einheitsbrei ohne Salz und Pfeffer. Filme sehen will gelernt sein, und das heißt, wir alle müssen wieder anders über Filme schreiben, nachdenken und wir müssen alle — auch die Filmkritik — kuratieren: wild, leidenschaftlich und furchtlos. Sonst bringen Netflix und Co. den Film noch ins Grab und die Filmgeschichte verkommt zu bloßem Datenmüll.  

 

Gebt nicht dem Streaming der Schuld — denkt die Branche mit
von Sophia Derda

Der US-amerikanische Star-Regisseur Martin Scorsese geht mit den gegenwärtigen Streamingdiensten hart ins Gericht. Seinem Ärger machte er Anfang 2021 in einem Essay im „Harper’s Magazine“ Luft. Die Kritik lautete darin unter anderem: Die Kunst des Kinos werde „systematisch abgewertet“ und auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. Von Werbungen bis zum aufwendigen Film – alles werde nur noch als „Content“ beschrieben, so Scorsese. Dafür sind Netflix, Amazon, Apple TV+, HBO Max und Co. verantwortlich. Die Konsument*innen sitzen auf dem Sofa und lassen sich berieseln, Qualität wird daran gemessen, ob ein Film streambar ist. Dass er selbst aber von HBO 2016 die Dramaserie Vinyl, von Netflix 2019 sein Gangsterepos The Irishman als Kino-Hybrid und nun dieses Jahr von Apple TV+ für ca. 200 Millionen US-Dollar seinen neuen Spielfilm Killers of the Flower Moon produzieren lässt, macht dann aber stutzig. Ähnlich wie The Irishman wird auch dieser für eine kurze Zeit im Kino zu sehen sein. Dennoch wird der Film vor allem ein Apple-Produkt sein, das die Kund*innen an Apple TV+ binden soll.

Nun stellt man sich berechtigt die Frage, wie Martin Scorsese bei all dieser Kritik an den Plattformen dennoch mit dem „Feind“ so eng zusammenarbeiten kann. Es zeigt sich, dass auch er in den letzten Jahren damit zu kämpfen hatte, seine Filme von traditionellen Studios produzieren zu lassen. The Irishman wurde schließlich von Netflix finanziert und vertrieben, nachdem Paramount das Budget von über 100 Millionen US-Dollar abgelehnt hatte. Davor legte er sich viele Jahre lang mit dem System der Filmstudios an, wobei er sich oft mit Führungskräften über die langen Laufzeiten seiner Filme stritt. Ein Teil des Problems, über das immer wieder diskutiert wird, scheint also bereits in der klassischen Filmbranche selbst zu liegen. Scorsese hat reagiert und wechselte zum „Feind“.

The Irishman: Eine Gangsterballade epischen Ausmaßes. (c)Netflix 

Die großen Hollywood-Filmstudios haben schon vor der Covid-19 Pandemie mit großen finanziellen Rückschlägen zu kämpfen gehabt. Flops an den Kinokassen wiegen schwer, da die immensen Produktionskosten nicht einfach ausgeglichen werden können. In diesem Punkt kann sich die Filmindustrie auch nicht an andere Industrien angleichen, weil es bei den Einnahmen der Filme bisweilen erhebliche Unterschiede gibt. Gewinn- und Verlustrechnungen stehen an erster Stelle und dass Scorsese bei solch hohen Budgets und einer Spielzeit von 3 ½ Stunden wie bei The Irishman Probleme in den Verhandlungen bekommt, war eigentlich immer schon abzusehen: das Risiko zu hoch, der Flop im Bereich des Möglichen.

Die Streamingdienste haben eben diese Probleme erkannt und bieten Alternativen. Die kommerzielle Auswertung von Streamingdiensten gestaltet sich einfacher und nachhaltiger als die des Kinos, weswegen hohe Ausgaben für die Produktion auch noch Jahre später wieder „eingestreamed“ werden können. Im Grunde ging es seit Beginn der Streaming-Ära erst mal darum, die Kataloge zu befüllen und ein möglichst breit gefächertes Angebot aufzubauen, um für die Kund*innen attraktiv zu sein. Wenn ein neuer Martin-Scorsese-Film verfügbar ist, überlegen Filmfans nicht zweimal — sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit ein Abonnement abschließen.

Mit dem Kauf von Alfonso Cuaróns Roma wollte Netflix 2019 zum ersten Mal in der „Königsdisziplin“ der Oscars mitmischen. Der Vorsatz ging auf und wird fortgeführt. Nun erhielt Jane Campion als dritte Frau der Filmgeschichte den Regie-Oscar für ihren Netflix-Film The Power of the Dog. Streamingdienste bieten finanzielle und künstlerische Freiheiten. Altmeister wie Scorsese, aber auch junge Filmschaffende wie Leigh Janiak (Fear Street Trilogie), Hernán Jiménez (Love Hard) und Jeymes Samuel (The Harder They Fall) bekommen das nötige Vertrauen in ihre Arbeit.

„Wir müssen den gegenwärtigen Rechteinhabern klarmachen, dass diese Filme mehr sind als ein Besitz, der ausgebeutet und weggeschlossen werden kann. Diese Filme gehören zu den größten Schätzen unserer Kultur, und sie sollten dementsprechend behandelt werden.“

Diese Stelle im Text von Scorsese ist elementar. Den Streamingdiensten aber die alleinige Schuld zu geben, wir der komplexen Gemengelage nicht gerecht. Die Filmbranche hat sich verändert und weiterentwickelt. Die Probleme fangen aber bei den klassischen Studios an. Als Kinogänger*innen und gleichzeitige Streaming-Konsument*innen ist es wichtig, sich das immer wieder in Erinnerung zu rufen und bei der Rezeption mitzudenken.

Meinungen

Fritz Krauledat · 10.04.2022

Sehr guter und für mich anders artiger Bewertung dieser Form der Streaming Dienste. Sehe das Ganze tatsächlich jetzt mit anderen Erkenntnissen als bisher. Muss darüber jetzt erstmals nachdenken.. Danke für die Intelligente Aufklärung. Ob ich deswegen in Zukunft anders empfinde lass ich jedoch noch offen. Trotzdem vielen Dank und Hochachtung. Fritz Krauledat.