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Feminismus im zeitgenössischen Kino: Eine Bestandsaufnahme 

Ein Beitrag von Julia Stanton

Wie feministisch ist das zeitgenössische Kino? Wie feministisch kann es überhaupt sein? Nachdem zuletzt einige Filme den Begriff „Feminismus“ eher als Label nutzten, als sich wirklich damit auseinanderzusetzen, zeigt „Amsel im Brombeerstrauch“, wie es anders geht.

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Feminismus

Amsel im Brombeerstrauch” ist ein stiller Film: Es dauert 20 Minuten, bis die Protagonistin das erste Mal spricht. Er macht keine großen Statements und hat keinen aufregenden Plot. Eka Chavleishvili spielt in der Hauptrolle die 48-jährige Etero auf einfühlsame Weise. Es ist ein ungewöhnlicher Film, der die Geschichte einer Frau erzählt, die normalerweise keine Repräsentation auf der Leinwand findet. Etero ist alleinstehend und betreibt einen kleinen Laden in einer Kleinstadt Georgiens. Nach einer Nahtoderfahrung beginnt sie plötzlich eine Affäre mit dem verheirateten Murman (Temiko Chichinadze), die ihr geordnetes Leben durcheinanderbringt. Der Film der Regisseurin Elene Naveriani bildet einen Kontrast zu den Blockbuster-Filmen der letzten Jahre und zeigt, was feministisches Kino sein kann. Er scheint eine Ausnahme in einer immer homogener werdenden Masse an Filme zu sein.
 

Klare politische Botschaften 

Als im Sommer 2023 Greta Gerwigs Megablockbuster Barbie erschien, wurde der Film von vielen Menschen als feministisches Meisterwerk gefeiert. Mehr noch: Der Feminismus des Films war für viele gerade das, was diesen Film zu einem Meisterwerk machte. Damit zeigte sich ganz deutlich, wie entscheidend die politische Dimension eines Films heute ist. Auch im öffentlichen Diskurs über andere Filme ist diese Entwicklung immer wieder beobachtbar: Oppenheimer von Christopher Nolan wurde unter anderem dafür kritisiert, nur wenige Frauenfiguren zu haben, die dazu noch unterkomplex seien. Über Poor Things, der Film des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos, wurde in ähnlicher Weise diskutiert: Aufgrund des Fokus auf Sex kritisierten manche die in ihren Augen offenkundige Misogynie des Films. 

Auffällig ist, dass in diesen Debatten häufig nicht mehr angesprochen wird, was eigentlich als feministisch gilt oder was eine feministische Botschaft eines Films genau beinhaltet. Das Label “Feminismus” scheint im Grunde zu reichen, um einen Film interessant und sehenswert erscheinen zu lassen. In einem Artikel in der englischen Tageszeitung The Guardian vergleicht die Autorin Beatrice Lyoaza dieses Label mit einer Netflix-Kategorie; es fühle sich an “wie ein algorithmischer Wegweiser”. “Ist jeder Film mit einer starken Frauenfigur feministisch?”, fragt sie und führt weiter aus: “Es ist ein Punkt erreicht, an dem sich der Begriff billig anfühlt. Man sucht sich einen Film aus, macht ein paar rhetorische Verrenkungen, blinzelt ein wenig und voilà: eine feministische Ikone!”

Gerwigs Barbie illustriert diese Entwicklung gut. Spätestens nach dem Schauen ist klar, dass die feministische Botschaft, die er zu haben scheint, eine effektive Marketingstrategie der Firma Mattel ist, die Barbie-Puppen herstellt. Der gefeierte Monolog vom America Ferrera am Ende des Films ist ungefähr so effektiv im Infragestellen von Geschlechterverhältnissen wie Beyoncés „I am a Feminist”-T-Shirts von 2014. Dafür aber ebenso plakativ: Zuschauer kriegen die “feministische Botschaft” des Films auf einem Silbertablett serviert. 

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Barbie ist nicht nur ein gutes, sondern auch ein extremes Beispiel dafür. Dennoch ist es auffällig, dass in vielen der bekanntesten Filme des letzten Jahres Ambivalenz und Nuance gegen eine klare politische Botschaft eingetauscht worden zu sein scheinen. Identitätspolitische Fragen sind wichtiger geworden als ästhetische Fragen. The Iron Claw, ein Film, der sich kritisch mit Männlichkeit auseinandersetzt, verliert sich beispielsweise in der Emotionalität des Themas und scheint eher bestimmte Typen als echte Menschen darzustellen. Poor Things versucht so offensichtlich ermächtigend zu sein, dass es langweilig wird. How to have Sex, ein Film der englischen Regisseurin Molly Manning Walker, ist so klar in seiner Botschaft, dass er an einigen Stellen wie ein Lehrfilm scheint.

In einem Roundup zu den Filmen des Jahres 2023 schreibt Caitlin Quinlan für Art Review, dass es 2023 viele Filme für “jedermann” gegeben habe. Diese Filme hätten “auf Spezifität zugunsten von Reichweite verzichtet und forderten die Zuschauer auf, ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle auf eine leere Leinwand zu projizieren. Viele dieser Filme machten sich auch die Politik der Repräsentation zunutze, indem sie sich als ‚spezifisch‘ ausgaben, indem sie marginalisierte Identitäten in den Mittelpunkt stellten, während sie Protagonisten nur eine oberflächliche Behandlung zuteilwerden ließen.” Im Verlust dieser Ambivalenzen akzeptieren wir einfache Wahrheiten, geben uns mit Universalismen zufrieden und verlieren uns in Binaritäten. 


Die Anfänge der feministischen Filmtheorie

Die Frage, was das Label “feministisch” für das Medium Film bedeutet, ist angesichts dieser Entwicklungen durchaus berechtigt. Bei der Suche nach diesem Begriff stellt sich jedoch schnell heraus, dass es dafür im Grunde keine Definition gibt. Im Routledge Dictionary of Modernism heißt es: “Es gibt keinen Konsens darüber, was ein ‘feministischer Film’ ist.” Ein Blick auf die Geschichte der feministischen Filmtheorie zeigt, dass sich dieser Frage immer wieder von verschiedenen Blickwinkeln genähert wurde. Diese hat ihren Ursprung in den 60er und 70er Jahren während der zweiten Welle des Feminismus. Damals nutzten Kritikerinnen Konzepte aus der Semiotik und der Psychoanalyse, um zu verstehen, wie Kinofilme zur Konstruktion eines ideologischen Frauenbilds beitragen. Sie kritisieren die Darstellung der Frau als Spektakel und Fetischobjekt.

Claire Johnston und Laura Mulvey waren unter den ersten Theoretikerinnen, die Kino nicht mehr als Spiegel der Wirklichkeit, sondern als Konstruktion einer bestimmten Wirklichkeit verstanden. Da die Strukturen des Hollywood-Kinos als grundlegend patriarchalisch analysiert wurden, waren die Theoretikerinnen dieser Zeit der Meinung, dass feministische Filme traditionelle Erzähl- und Filmtechniken meiden und stattdessen eine experimentelle Praxis nutzen sollten. Es sollte sich um eine Art “counter-cinema”, um “Gegenfilm”, handeln. Allerdings besteht kein Konsens über die Möglichkeiten des Widerstands. Einige Feministinnen kritisieren diesen Ansatz beispielsweise, weil er das visuelle Vergnügen des Zuschauens zerstören würde. Teresa de Lauretis gehörte zu den ersten Theoretikerinnen, die dem Ansatz klar widersprachen und andere Möglichkeiten des Widerstands formulierten. 

Dieser Rückblick zeigt: Es geht in einer feministischen Auseinandersetzung mit Film und in feministischen Filmen nicht unbedingt darum, Begriffe abschließend zu definieren, sondern eher um eine Ergründung des Möglichen, neuer Perspektiven und um das Infragestellen bestimmter Strukturen. 

Heute passiert allerdings häufig das Gegenteil: Der bekannte Begriff des “Male Gaze”, den Mulvey aus einer recht komplizierten Auseinandersetzung mit Psychoanalyse entwickelte, wird heute häufig vorschnell als Kürzel verwendet, um Filme zu kritisieren. Ähnliches gilt für den 2016 von der Regisseurin Joey Soloway geprägten Pendant-Begriff des “Female Gaze”. In einer Kritik zur Serie I Love Dick merkte die Autorin Emily Nussbaum 2017 im New Yorker an, dass der Begriff aufgrund seiner Übernutzung jegliche Bedeutung verloren habe. Ihr zufolge geht es bei Fragen des “Gaze” nicht mehr um ästhetische Fragen, sondern primär um Fragen von Identität. 
 

Die revolutionäre Kraft von “Amsel im Brombeerstrauch” 

Amsel im Brombeerstrauch ist ein Film, der die Möglichkeiten von Film als Mittel des Widerstands zu ergründen scheint. “Denkst du, wenn ich eine Hausfrau hätte sein wollen, hätte ich das nicht schon früher geschafft?”, fragt Etero am Ende des Films ihren Liebhaber Murman. Er möchte, dass sie mit ihm zusammen in die Türkei geht. Doch in der patriarchalischen Gesellschaft, in der Etero lebt, kann sie nur mit Murman zusammen sein, indem sie ihr eigenes Leben aufgibt und sich komplett von ihm abhängig macht. Das will sie nicht. 

Diese Entscheidung wird im Film als eine ambivalente dargestellt und nicht als eine schlicht ermächtigende. Denn in seiner Darstellung von Etero als mutige und selbstbewusste Frau, zeigt der Film auch, wie schwer das Leben als alleinstehende Frau in ihrer Stadt sein kann. Immer wieder gibt es Szenen, in denen Etero ausgeschlossen wird, in denen sie ignoriert wird; die deutlich machen, wie wenig Stellenwert sie in der Gesellschaft hat. So sehr sie es versucht, sie wird immer wieder auf ihre Weiblichkeit reduziert. 

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Dadurch, dass der Film Eteros Perspektive klar zentriert, fühlen Zuschauer:innen mit ihr mit, spüren ihre Nervosität, ihren Trotz und ihren Mut. Es ist leicht, sich mit dieser ungewöhnlichen Hauptfigur zu identifizieren. Der Film erweckt nicht Mitleid, sondern Mitgefühl. Die Ungerechtigkeit von Eteros Situation, ihrem Leben in einer patriarchalischen Gesellschaft, ist greifbar. So eröffnet der Film neue Perspektiven. 

Amsel im Brombeerstrauch ist ein sehr spezifischer Film. Doch genau in dieser Spezifität offenbart er universelle Wahrheiten über das Patriarchat; darüber, was es heißt, als Frau in einer männlich dominierten Welt zu leben, über Freundschaft, Liebe und auch Mutterschaft. 
Der Film schreit nicht nach Feminismus. Er gibt nicht vor, universelle Wahrheiten zu beinhalten. Doch gerade darin liegt die revolutionäre Kraft des Films. Trotz seiner Stille hallt er noch lange nach. 

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