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"Midsommar" oder: Wie man Formeln aufbricht

Ein Beitrag von Christian Neffe

Das Jahr in 7 Filmen #3: Ari Asters „Midsommar“ setzte neue Impulse im Horrorfilm. Das war aber nicht einzige Genre, das in diesem Jahr eine kleine Frischzellenkur erhielt. 

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Filmstill zu Midsommar (2019) von Ari Aster
Midsommar (2019) von Ari Aster

Grusel, Furcht und Panik — das also, was Horrorfilme evozieren wollen — sind zutiefst subjektive Empfindungen. Was den einen Kinozuschauer zum Schaudern bringt, kann seine Sitznachbarin völlig kalt lassen. Hatte das Genre in diesem Jahr erneut diverse cineastische Geisterbahnfahrten zu bieten, bei denen hinter jeder zweiten Ecke ein Jump Scare lauerte (siehe „Es: Kapitel 2“, „Annabelle 3“, „Lloronas Fluch“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Child’s Play“ oder „Polaroid“), vermochte es ein Exemplar wie kein zweites, Konventionen auf den Kopf zu stellen: Ari Asters „Midsommar“.

Dabei beginnt dieser Film durchaus konventionell, nämlich den düsteren Bildern eines kleinen US-amerikanischen Städtchens inmitten eines eisigen Winters. Kalt ist es nicht nur aufgrund des Wetters, sondern auch sozial: Die junge Dany (Florence Pugh) versucht verzweifelt, sich an ihren Freund Christian (Jack Reynor) zu klammern, der allerdings bereits beschlossen hat, sich von ihr zu trennen. Unterbrochen wird dieses Vorhaben, als sich Danys Schwester auf grauenhafte Weise selbst umbringt und dabei auch ihre Eltern tötet. Dany ist am tiefsten Punkt ihres Lebens angelangt.

Ein halbes Jahr später plant Christian einen Urlaub in Schweden, wo er mit seinen Kommilitonen unter dem Vorwand einer anthropologischen Studie das Midsommar-Fest besuchen will. Dany schließt sich dem Trip an — und schon früh zeigt sich, dass die Jungs den Ausflug vor allem nutzen, um psychoaktive Drogen einzuwerfen. Entsprechend surreal wirkt die Szenerie, als sie schließlich ihren Endpunkt erreichen. Die abgelegene Siedlung Hårga scheint das Paradies auf Erden zu sein: Jeder hier ist strahlend weiß gekleidet, Mädchen mit Blumen im Haar tanzen um Maibäume und den Fremden wird mit einer überschwänglichen Freundlichkeit begegnet. Und doch schwelt etwas Unheimliches im Hintergrund.

 

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Wo das Grauen in den meisten Horrorfilmen im Dunkeln lauert (so auch in Asters letztjährigem Hereditary), wählte der Regisseur und Autor in Misommar einen völlig gegensätzlichen Ansatz. So gibt es in den letzten 120 Minuten Stunden dieses Zweieinhalbstünders nur eine einzige, kurze Szene bei Nacht - die übrige Spielzeit dominieren hellster Sonnenschein und lebhafte Farben. Weiße Kleider und ausladende Blumenbuoquets machen Midsommar, wie Jordan Peele (Get Out, Wir) so treffend formulierte, zum „idyllischsten Horrorfilm aller Zeiten“.

Der Horror speist sich dabei nicht etwa aus einer übernatürlichen, feindseligen Entität oder — wie man zunächst vermuten könnte — aus dem vermeintlichen Blutdurst der Einheimisch. Vielmehr konfrontiert uns Midsommar auf subversive Weise mit der Abkehr von etwas, das in Zeiten von Spätkapitalismus, sozialen Netzwerken (die vornehmlich der Selbstdarstellung dienen), anschwelendem Faschismus und egomanischen Staatsschefs, zur Anomalie zu werden droht: Zusammenhalt und Empathie. Die Rituale des Midsommar-Fests scheinen für Außenstehende Akte purer Barbarei zu sein (nüchtern betrachtet sind sie das auch). Und doch zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie den Neubeginn des Lebens feiern, Solidarität und Gemeinschaftsgefühl befördern. Die Gruppe bietet Dany das, was Christian ihr in seinem Narzissmus bisher verwehrte: aufrichtiges Mitgefühl, um den Verlust ihrer Familie zu überwinden.

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The Favourite von Yorgos Lanthimos (c) Twentieth Century Fox of Germany

Auch anderen Filmen gelang es in diesem Jahr, mit Konventionen zu brechen und ihren Genres frischen Wind einzuhauchen. So entriss etwa der Meister der Skurrilität, Yorgos Lanthimos, dem Historien- und Kostümfilm jegliche Anmut und schuf mit The Favourite – Intrigen und Irrsinn eine eigenwillige Groteske rund um die Machtspiele am englischen Königshof. Sebastian Schippers Roads dachte den Roadmovie neu, verknüpfte das Reisen mit zeitgenössischen Herausforderungen und Verantwortungen, die weit über die persönliche Selbstfindung hinaus gehen. Und Claire Denis erkor in High Life das Science-Fiction-Genre zu einem geistigen Spielplatz über existenzielle Begierden und menschliche Grausamkeit, aber auch über unverhoffte Zärtlichkeit.

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