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Der Newcomer Ari Aster zeigt, dass der schlimmste Horror unser eigenes Denken und Fühlen ist – und gibt damit einem ermüdeten Genre willkommene neue Impulse.

Hereditary - Das Vermächtnis (2018)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Das Undenkbare denken, das Unsagbare sagen

Es beginnt mit dem Tod: Eine Anzeige wird eingeblendet, die über das Ableben von Ellen Taper Leigh im Alter von 78 Jahren informiert. Alsbald folgen Bilder der Trauerfeier – und schon bei der Rede der Tochter Annie Graham (Toni Collette) schleichen sich erste Irritationen ein. Eine Person mit privaten Ritualen sei Ellen gewesen, meint Annie; eine sehr verschwiegene und distanzierte Frau. „Sollte ich trauriger sein?“, fragt Annie später ihren Ehemann Steve (Gabriel Byrne).

Gewiss gibt es Gefühle, die man im „richtigen“ Moment haben sollte – und solche, die sich eigentlich grundsätzlich verbieten. Es gibt ein Zuviel und ein Zuwenig an Gefühlen; und beides kann unerträglich sein. Hereditary – Das Vermächtnis von Ari Aster erzählt sowohl von dem Unbehagen, das Geeignete, Angemessene nicht zu fühlen, als auch von der Überwältigung, dem Zorn sowie der Scham, die das Ungeeignete, Unangemessene in unseren Köpfen oder Herzen verursachen können. Es geht um den Schmerz, den wir uns und anderen zufügen, und natürlich um die verdammte Angst, die uns all das einzujagen vermag. Was macht uns zu schlechten, zu bösen Menschen? Was macht uns zu Monstern? Und können wir etwas Schrecklichem, etwas abstoßend Hässlichem entkommen, wenn dieses Etwas ganz tief in uns selbst verborgen liegt?

Annie ist keine dieser (Horror-)Filmfiguren, über die sich sagen lässt: „Sie führte ein beschaulich-perfektes Leben, bis zu dem Tag, an dem dieses und jenes geschah.“ Nein, sie wirkt bereits innerlich drastisch beschädigt, als wir sie kennenlernen. Dass Toni Collette derartige psychische Zustände mit wenigen Blicken, Gesten und Worten vermitteln kann, hat sie oft genug bewiesen – dennoch ist ihre Leistung in Hereditary exzeptionell. Annie ist fraglos keine Sympathieträgerin; sie ist unberechenbar, sogar beängstigend. Und zugleich ist sie ein Mensch, dessen Angst uns einnimmt.

Beruflich fertigt sie Miniatur-Modelle an und bereitet gerade eine Ausstellung vor. Diese Tätigkeit ermöglicht Aster und dem Kameramann Pawel Pogorzelski einige virtuose Kameraeffekte – etwa wenn am Anfang die Fahrt auf ein Zimmer in einem Miniatur-Haus nahtlos in die Aufnahme eines „echten“ Zimmers in einem „echten“ Haus übergeht. Solche Momente sind nicht einfach nur eine ästhetische Spielerei – sie sind ein Hinweis auf eine Gefangenschaft, auf Hilf- und Machtlosigkeit, auf Fatalität.

Oft wird dem Personal in Schauergeschichten ein tragischer Hintergrund gegeben, damit es für die übernatürlichen Bedrohungen, die in einem haunted house lauern, empfänglicher ist. Dass diese Figuren es in den schönen, alten, abgelegenen Häusern, in die sie sich in ihrem Kummer zurückziehen wollen, mit Geistern und dämonischen Kräften zu tun bekommen, ist letztlich eher Pech, ein unerfreulicher Zufall, mehr nicht. Und das ist nicht selten ziemlich langweilig – eine müde Konstruktion. Bei Hereditary hängt indessen alles miteinander zusammen, alles ist unausweichlich. Die Grahams sind keine austauschbare Filmfamilie aus dem Horror-Baukasten; sie kämpfen mit sich selbst, mit ihrem Wesen, ihrem Erbe – und was könnte unheimlicher und auswegloser sein?

Wer glaubt, es gehe in Asters Langfilmdebüt darum, dass die gemeine, tote (Groß-)Mutter fortan ein bisschen herumspukt und für Gänsehaut bei den Grahams sorgt, wird sich böse wundern. Gewiss bekommen wir ein paar jump scares geboten; gewiss wird diversen Gegenständen und Räumlichkeiten mit audiovisuellem Geschick eine ordentliche Dämonie verliehen. Gewiss gibt es mit Annies und Steves 13-jähriger Tochter Charlie (Milly Shapiro) ein überaus gruseliges Kind, das sehr seltsame Dinge tut; und gewiss gibt es den Teenager-Sohn Peter (Alex Wolff), dessen coming of age zwischen Familie und Highschool durch fiese Genre-Zutaten nicht nur metaphorisch zur Hölle wird. Aber dem Regisseur und Drehbuchautor Aster gelingt es, die Intensität solcher Elemente unfassbar zu steigern.

Wenn etwa Peter im Klassenraum den Verstand zu verlieren droht, ist das zum einen so schaurig wie die Passage aus Nightmare – Mörderische Träume (1984), in welcher sich die adoleszente Protagonistin von dem diabolischen Klingen-Mann Freddy Krueger verfolgt fühlt – doch zum anderen ist es auch so, als sei Peter Freddy Krueger höchstpersönlich. Die Angst, die Bedrohung, das Ekelhafte – als das kommt von innen, es hat direkt mit ihm, mit uns zu tun.

Über die Handlung von Hereditary sollte man im Vorfeld so wenig wie möglich wissen. Das Skript verbindet die Dramatik und Dynamik von Werken über familiäre Trauer – zum Beispiel Eine ganz normale Familie (1980) oder Der Eissturm (1997) – mit dem Gefühl der Paranoia, wie es etwa in Rosemaries Baby (1968) eingefangen wurde. Am ehesten lässt sich Hereditary beziehungsweise dessen Wirkung wohl mit Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) vergleichen: Emotionale Extremzustände treffen auf Unerklärliches, auf schier Unmögliches, Wahnsinniges. In einer der stärksten Sequenzen zwischen Mutter und Sohn muss man zudem an Lynne Ramsays ähnlich erschütternde und rohe Arbeit We Need to Talk About Kevin (2011) denken: Wenn plötzlich Hass für die Menschen aufblitzt, die wir lieben (sollten), wenn wir Dinge aussprechen, die man nicht sagen, die man eigentlich nicht einmal denken und fühlen darf, wenn wir uns vor uns selbst und vor denen fürchten, die uns am nächsten sein müssten – wer oder was kann uns dann noch retten?

Hereditary - Das Vermächtnis (2018)

Nach dem Tod ihrer zurückgezogen lebenden Großmutter werden die Grahams von seltsamen Ereignissen heimgesucht. Selbst nach ihrem Ableben scheint die alte Dame noch auf gespenstische Weise anwesend zu sein — was vor allem die einsame Enkelin der Verstorbenen zu spüren bekommt.

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