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Über Film noir - Teil 6: Zwischen Genre und Look

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Meinungen

Und was ist er nun, der Film noir? Bereits im Jahr 1955 fragten Raymond Borde und Étienne Chaumeton in ihrem einflussreichen Panorama du film américain, ob der Film noir Serie, Genre, Zyklus, Stil, Schule, Stimmung oder filmischer Ausdruck des Zeitgeists sei – und eine auf allgemeine Zustimmung treffende Antwort ist bis heute nicht gefunden worden. Immerhin lässt sich 60 Jahre später die Einordnung des Film noir als Serie, Zyklus, Stimmung oder filmischer Ausdruck des Zeitgeistes relativ einfach widerlegen: Mittlerweile hat sich gezeigt, dass für eine Serie die lineare Anordnung und Abgeschlossenheit fehlt, ein Stil nicht die Vielfalt umfasst und gegen Zyklus, Stimmung und filmischen Ausdrucks des Zeitgeists die Variationen der Themen und das zeitliche Überdauern sprechen. Somit bleiben zwei mögliche Kategorien übrig: Genre und „Schule“, unter der man eine Stilrichtung wie bspw. die Nouvelle Vague verstehen könnte.


(Bild aus Lost Highway von David Lynch; Copyright: Concorde Video)

Film noir als Genre

Im Allgemeinen sind Genres definiert durch „festgelegte Konventionen (…), die jene, die einen Film herstellen, mit allen verbinden, die sich diesen Film ansehen. Es sind Konventionen des Themas oder der Handlung, des Schauplatzes oder des Konflikts“ (Norbert Grob, Filmgenres Film noir). Zunächst gibt es ein einfaches Argument, das gegen diese Einordnung spricht: Bis in die 1970er Jahren hinein wurden in den USA keine Films noirs produziert, sondern Gangsterfilme, Kriminalfilme, B-Movies (vgl. Teil 1), die auch als solche rezipiert wurden. Jedoch wird Genre in diesem Text als rein deskriptive – und wertungsfreie – Kategorie verstanden, die oftmals im Nachhinein entwickelt wird, daher soll die zeitliche Asynchronität nicht überbewertet werden.

Es gibt jedoch weitere Einwände: Im Gegensatz etwa zum Western ist Film noir weit weniger durch einen Schauplatz bestimmt. Sicherlich spielen die Filme häufig in einem urbanen Umfeld, aber ebenso in Kleinstädten, Vororten oder auf Straßen (vgl. Teil 4). Auch konstituiert bspw. im Vergleich zum Gangsterfilm kein bestimmter Figurentypus den Film noir. Vielmehr werden zwar Privatdetektive und Femmes fatales als prototypisch angesehen, jedoch verschwindet letztere in den 1950er Jahren bis zu einer kleinen Renaissance im Neo-Noir fast völlig, an die Stelle des Privatdetektivs treten zunehmend korrupte Polizisten, Kriegsheimkehrer und Gangster. Zudem fehlen Charakteristika wie bspw. die übernatürlichen Elemente des Horrorfilms, der Gesang und Tanz eines Musicals oder die zeitliche Verordnung in der Zukunft des Science-Fiction-Films.

Doch es gibt Konventionen, die der Film noir erfüllt: Der Ton und die Atmosphäre, die „düstere Perspektive als Hinweis auf soziale und existentielle Krisen“ könnten als Konventionen des filmischen Erzählens sowie das „Gefühl der Hoffnungslosigkeit, die Dimension der Vergeblichkeit“ (Norbert Grob) als eine thematische Konvention gesehen werden. Damit wäre der Film noir ein Genre in einem erweiterten Sinn: „Film noir ist eine bestimmte Art und Weise zu erzählen. Das Genre ist definiert durch Stil: durch Choreographie, Atmosphäre, Blick.“ (Norbert Grob)


(Bild aus Blade Runner von Ridley Scott; Copyright: Warner Bros. Home)

Diese differenzierte Definition des Begriffs ‚Genre‘ und die Einfassung des Film noir hat Vorteile: Sie berücksichtigt Filme am Rand und erlaubt es, bspw. Renoirs La chienne (1937) als Film noir zu sehen und neu zu interpretieren. Dennoch bleiben Zweifel: So gibt es keinen Film, der nur als Film noir bezeichnet werden würde. The Maltese Falcon ist ein Detektivfilm und ein Film noir, Touch of Evil (Orson Welles, 1958) ist ein Kriminalfilm und ein Film noir, Blade Runner (Ridley Scott, 1982) ist ein Science-Fiction-Film und ein Film noir. Sie sind nicht wie bspw. Outland (Peter Hyams, 1981) Spielarten eines Genres – hier eines Westerns, der in der Zukunft spielt, bzw. eines Science-Fiction-Films, der Westernelemente aufgreift –, sondern sie sind Filme, die in den meisten Sammlungen zum Film noir zu finden wären, aber niemand würde sich über Blade Runner in einer Science-Fiction-Filmsammlung wundern. Deshalb ist die Einordnung des Film noir als Genre weniger stringent und deutlich als bei anderen Filmgenres, vielmehr geht es stets um Konzepte, Abstufungen und Gewichtungen – und letztlich hängt die Einordung als Genre sehr mit der Definition dieses Begriffs und des Film noir zusammen.

Film noir als Strömung

Wenn der Film noir kein Genre ist, könnte man Paul Schrader zustimmen, der in seinen Notes on Film Noir notiert: Film noir „is not defined, as are western and gangster genres, by conventions of setting and conflict, but rather by more subtle qualities of tone and mood“. Daher schließt sich Schrader der Auffassung von Raymond Durgnat an, dass der Film noir eher mit einer Strömung wie der Nouvelle Vague zu vergleichen und durch Motive, Stimmungen und Stil gekennzeichnet sei.

Fraglos herrscht in Films noirs eine düstere Stimmung vor – aber sie reicht nicht aus, um ihn als Film noir zu definieren. Fast jede Dystopie ist ebenfalls „düster“, dennoch würde wohl niemand The Road als Film noir bezeichnen. Einfacher wäre es zu argumentieren, dass The Road – um bei diesem Beispiel zu bleiben – eine Dystopie mit einem ‚Noir-Ton‘ oder einer ‚Noir-Stimmung‘ ist. Darüber hinaus deutet der Vergleich mit der Nouvelle Vague auf eine zeitliche Abgeschlossenheit hin, die es bei dem Film noir nicht gibt (darauf verwiesen bereits 1968 die Briten Charles Highan und Joel Greenberg in Hollywood in the Forties, ferner James Naremore). Der Film noir hat andere, neue Narrationen, Stilelemente, Stimmungen und Motive hervorgebracht und bringt sie – wie ein Blick auf den Neo-Noir zeigt – weiterhin hervor.


(Bild aus The Road von John Hillcoat; Copyright: Senator Home Entertainment)

Weiterentwicklung im Neo-Noir

Die Neo-Noir-Filme verbindet, dass sie das visuelle Erlebnis verstärken, indem sie oftmals auf europäische Entwicklungen zurückgreifen. Schon in Point Blank (1967, John Boorman) sind zum einen die Rückgriffe auf den Film noir offensichtlich: Es ist die Verfilmung des hardboiled-Romans The Hunter von Richard Stark, sie erzählt von dem Kriminellen Walker (Lee Marvin), der nichts mehr zu verlieren hat, von Freund und Ehefrau hintergangen wird und für ein wenig Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt sorgen will. Visuell bleichen Boorman und sein Kameramann Philip H. Lathrop mit dem low-key-Stil die Farben aus, hinzu kommen verzerrte Bildlinien und schräge Kamerawinkel, durch die der Eindruck der sterilen Welt, in der sich Walker bewegt, noch verstärkt wird. Zum anderen ist Boorman beeinflusst von der Nouvelle Vague und erforscht die Themen Begehren, Identität und Erinnerung. Dabei verwendet er unter anderem ein beeindruckendes Sounddesign, das die Unsicherheit der Narration noch verstärkt: Am Anfang wird Walker sterbend in einer Zelle zurückgelassen, dadurch ist nicht eindeutig festzumachen, ob er die folgenden Ereignisse halluziniert oder sie stattfinden. Auf der Tonspur überlappen sich einzelne Sätze, so dass vieles, was Walker nun zustößt, erscheint, als sei es ihm bereits zuvor zugestoßen. Wenn er anfangs sehr energisch mit lauten Schritten einen Gang entlanggeht, hallen seine Schritte noch nach, wenn im Bild bereits das Haus seiner Frau zu sehen ist.


(Bild aus Point Blank von John Boorman; Copyright: Warner Home Video)

Wie in den Anfangsjahren des Film noir sorgen neue technischen Möglichkeiten im Neo-Noir für eine innovative Filmsprache. Die Weiterentwicklung des Farbfilms ermöglicht bspw., dass die low-key-Beleuchtung mitsamt ‚realistischer‘ Konnotation beibehalten und nuanciert werden konnte. Schnelle Zooms, Schwenks und Schnitte erlauben ein viszerales, mitunter überwältigendes Seherlebnis und verändern den Stil. In The Underneath (1995), einem Remake von Siodmaks Criss Cross (1949), verbindet Steven Soderbergh Farbfilter, die Rückschlüsse auf die mentalen Zustände der Hauptfigur erlauben, mit Weitwinkelaufnahmen, verzerrten Bildern, Rauminszenierungen in die Tiefe, taumelnden Bewegungen der Kamera und häufigen Unter- und Obersichten. Die Themen des Film noir – Paranoia, Entfremdung, existentieller Fatalismus – und freudianische Deutungsansätze bleiben zwar erhalten, werden aber durch bspw. mehrdeutige Rückblenden und fehlende Chronologie (vgl. Teil 3) weiterentwickelt.

Dabei führen die Neo-Noirs die Subjektivierung in der Narration weiter: In The Element of Crime, Blue Velvet, Angel Heart und Fight Club sind die Zuschauer der subjektiven Sichtweise ausgeliefert und zugleich wird deutlich gemacht, dass es ein in sich fest zusammenhängendes Subjekt nicht mehr gibt. David Lynch löst sich in seinen Filmen von jeglicher klar zu rekonstruierenden Narration – und lässt noch nicht einmal einen Traum oder eine psychische Störung als Erklärung zu. Vielmehr koexistieren Halluzinationen, Träume und Realitäten mit ungewöhnlichen Ereignissen, so dass am Ende von Lost Highway (1997) kaum mehr auszumachen ist, ob es Fred Madison (Bill Pullman) überhaupt gibt. Verdopplungen, die weit über das Doppelgänger-Motiv hinausgehen, Verwandlungen und Metamorphosen sind allgegenwärtig in Lynchs Filmen, in Mulholland Drive, in dem die Anspielungen an konkrete Films noirs wie Rita noch das Offensichtlichste sind, verschieben und vertauschen sich Identitäten konstant.


(Bild aus Mulholland Drive von David Lynch; Copyright: Concorde Video)

In den 1990er Jahren breiteten sich Themen und Stil des Noirs immer weiter aus, von Brian de Palma über Quentin Tarantino bis zu Joel und Ethan Coen setzten sich viele namhafte Regisseure mit ihm auseinander. Darin kommt zum einen zum Ausdruck, dass sich Filme und Filmemacher immer auch auf Filmgeschichte beziehen. Zum anderen beginnt in dieser Zeit der Begriff ‚Noir‘ zunehmend zu einem Label zu werden, mit dem eine „düstere Spielart“ bezeichnet wird und sich Filme – und Filmemacher – schmücken. Jedoch bleibt es bei Filmen wie bspw. Se7en (1995, David Fincher) bei visuellen Anleihen, es fehlen die Selbstzweifel, die existentiellen Zwänge oder Notwendigkeiten, es fehlt wenigstens eine ironische Brechung, die als Weiterentwicklung angesehen werden kann.


(Bild aus Se7en von David Fincher; Copyright: Warner Home Video)

Sicherlich gibt es schon seit den 1940er Jahren gerade Horrorfilme, die Anleihen am Film noir genommen haben. Doch Se7en deutet auf eine Entwicklung zu jener ‚Noir-Fiktion‘ hin, die von Fernsehserien wie True Detective oder Die Brücke über Computerspiele und Magazine bis zu Comics in der gesamten Bandbreite der Medien gefunden werden kann. Noir ist im Mainstream angekommen – und nicht nur das: aus dem B-Movie ist ein Qualitätsmerkmal geworden. Deshalb werden mit im Grunde genommen funktionalen Bezeichnungen wie Nordic Noir bis Country Noir, die die Verständigung über Entwicklungen erleichtern könnten, oftmals Gütesiegel verbunden – je düsterer, desto abgründiger und besser. Jedoch erscheint die Zuschreibung ‚Noir‘ oftmals sehr gewollt – Sümpfe allein reichen dafür nicht aus –, und es bleibt oftmals bei Anleihen an der Noir-Ästhetik. Denn es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass zum Noir immer auch eine subversive Tendenz, existentielle und politische Antriebe gehören, die sich nicht in einer Ästhetisierung der Gewalt erschöpfen – und dass er ein pessimistisches Ende erfordert.

In den letzten Jahren findet sich zudem eine sehr dezidierte Stilisierung der Neo-Noir-Ästhetik unter anderem in den Filmen von Nicolas Winding Refn, die in Drive (2011) im Gegensatz zu Lost River (2014) auch mit der existentiellen Verlorenheit des Protagonisten verbunden ist (vieles davon ist schon in dem Roman von James Sallis angelegt). Es sind Filme wie Drive oder auch Nightcrawler (2014, Dan Gilroy), die den Noir in den letzten Jahren vom Zitat und der Beschränkung auf die Ästhetik entfernt haben. Erfreulich ist in dieser Hinsicht auch die Serie Jessica Jones. Sie greift die Ästhetik des Noir auf, verkehrt aber die Geschlechterrollen nicht nur durch eine Detektivin als Hauptfigur, die eine schwere Vergangenheit hat, sondern hat mit Luke Cage auch einen undurchschaubaren love interest, der gelegentlich als homme fatal erscheint – es aber natürlich nicht ist. Zudem verweist der Noir hier auch auf die Brüchigkeit der Superheldenexistenzen und ist damit mehr als ein bloßes stilistisches Gimmick.


(Bild aus Drive von Nicolas Winding Refn; Copyright: Universum Film)

Deshalb ist der Film noir ein Hybrid, er ist beinahe ein Genre und mehr als eine Strömung, er ist ein bestimmter Umgang mit filmischen und erzählerischen Mitteln (Burkhard Röwekamp schlägt hierfür den Begriff méthode noire vor). Natürlich bezeichnet Film noir eine Gruppe von ästhetisch ähnlichen Filmen, die jedoch keine Epoche oder Phase markieren, sondern vielmehr aufgrund eines filmwissenschaftlichen und -kritischen Diskurses aus ihrem Entstehungskontext gelöst wurden. Deshalb gibt es Konventionen, die den Film noir als Genre erscheinen lassen – das Licht, die Bildkomposition, narrative Muster, die Bedeutung existentieller Fragen –; diese Konventionen befinden sich jedoch in ständiger Weiterentwicklung, Übertragung und Modulation. Deshalb greifen Neo-Noirs auf filmgeschichtliche Mittel des Film noir zurück und stellen sie in neue Kontexte, transformieren und verdichten sie.

Es ist diese Komplexität, die es nicht einfach macht, über Film noir zu reden, die ihn aber auch gerade reizvoll werden lassen. Mit dem Film noir lassen sich kulturpolitische sowie gesellschaftliche Einflüsse (neben der Politisierung der französischen Kritik bspw. auch die Folgen der Hollywood Blacklist) und filmische Ideen nachvollziehen und diskutieren; er eröffnet neue Blickwinkel auf bekannte Filme, erlaubt Einordnungen und Gruppierungen von Filmen aus den Zwischenkriegsjahren bis in die Gegenwart, ohne die Sichtweise auf andere Einflüsse zu verstellen; er führt zu Gedanken über Stil, Ästhetik, Narration und Rollenbilder. Dabei ist der Noir mittlerweile Teil der postmodernen Kultur geworden, in der sich Zuschauer an viele Anspielungen gewöhnt haben und bereit sind, eine größere Bandbreite und Ambiguität in Narration und Stil zu akzeptieren. Der Film noir bereitete Filme wie Memento, The Usual Suspects und Drive vor – und dass dann darunter auch Epigonentum zu finden ist, ist ein Teil dieser bemerkenswerten Entwicklung.

(Sonja Hartl)

Sonja Hartl schreibt über Filme und (Kriminal-)Literatur, am liebsten über die Verbindungen von ihnen. Sie betreibt das Blog Zeilenkino, ist Chefredakteurin von Polar Noir und Jury-Mitglied der KrimiZeit-Bestenliste. Seit sie The Maltese Falcon gesehen hat, ist sie an den Noir verloren. Hoffnungslos.

Dies ist der sechste und letzte Teil unserer Film-noir-Serie. Den ersten Teil über die Ursprünge und Vorläufer gibt es hier; den zweiten Teil über die Anfangszeit hier; den dritten über Vorbilder und narrative Strukturen hier; den vierten Teil über Entwicklung und Abweichung hier; den fünften Teil über das europäische Kino hier.

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