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Männer aus der zweiten Reihe: Unsere Martin-Scorsese-Tipps

Meinungen
After Hours / Killers of the Flower Moon / Silence

80 Jahre alt und noch immer nicht müde: Martin Scorsese bringt diese Woche mit dem opulenten und mit 206 Minuten Laufzeit auch sehr ausufernden Killers of the Flower Moon seinen 27. Film ins Kino, in dem seine beiden Lieblingsschauspieler Robert De Niro und Leonardo DiCaprio zum ersten Mal zusammen zu sehen sind. Über seine Klassiker wie Taxi Driver, Goodfellas oder The Wolf of Wall Street ist schon viel geschrieben worden. Die Kino-Zeit-Redaktion empfiehlt persönliche Favoriten, die nicht ganz so hoch im Kanon gelistet sind.

Alice lebt hier nicht mehr (1974)

Zumeist stehen männliche Figuren im Zentrum von Scorseses Filmen. In Alice lebt hier nicht mehr widmet sich der Regisseur auf Basis eines Drehbuchs von Robert Getchell indes einer Heldinnenreise — und lässt Hauptdarstellerin Ellen Burstyn ein Jahr nach ihrem intensiven Auftritt in Der Exorzist abermals glänzen. Die Verkörperung einer Hausfrau, die sich nach dem Unfalltod ihres Gatten gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn auf einen Roadtrip begibt, brachte Burstyn völlig zu Recht einen Hauptrollen-Oscar ein.

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Es ist kaum möglich, den unglaublichen Rhythmus dieses Films zu beschreiben, da die häufigen Wechsel zwischen Tragik und Komik am Rande zum Slapstick eigentlich gar nicht funktionieren dürften. Neben Scorseses Inszenierungskunst ist dies auch seiner Schauspielführung und dem Talent des Ensembles zu verdanken. Der Country-Star Kris Kristofferson ist hier ebenso fabelhaft wie Diane Ladd (deren Tochter Laura Dern als „Mädchen mit Tüteneis“ erste Erfahrungen vor der Kamera sammelte).

Andreas Köhnemann

The King of Comedy (1982)

Martin Scorsese, der Mafia-Meister… Komödie kann der doch auf keinen Fall, oder? Von wegen! Zugegeben, The King of Comedy mag keine reinrassige Komödie sein, eher eine Charakterstudie, die zunehmend ins Dramatische kippt. Lustig ist sie dennoch. Wenn auch nicht wegen der Witze, die der Protagonist Rupert Pupkin (Robert De Niro) reißt, sondern wegen ihm selbst. Pupkin will auf die große Bühne, es als Komiker schaffen. Er wählt dafür einen drastischen Weg, indem er den Entertainer Jerry Langford (Jerry Lewis) kidnappt, und stellt sich dabei alles andere als geschickt an. Eine Witzfigur, bei der man sich nie wirklich sicher ist, ob man sie nun sympathisch oder abstoßend findet.

35 Jahre später lieferte The King of Comedy, einer der kommerziell erfolglosesten Filme Scorseses, die offenkundige Inspiration für Todd Phillips’ Joker. Der geriet freilich wesentlich psychologischer, grimmiger, dunkler als sein Vorbild im Geiste, das im direkten Vergleich deutlich leichtfüßiger daherkommt. Und dennoch seine Schatten vorauswarf. Denn im Grunde ist Rupert Pupkin die harmlose Version eines Donald Trump, der seinen wahnwitziger Plan mit aller Macht durchzieht. Darüber kann man lachen, oder man kann sich davor fürchten. Oder im Falle von The King of Comedy: beides.

Christian Neffe

Die Zeit nach Mitternacht (1985)

Ein gelangweilter Textverarbeiter in New York City will sich nach einem spontanen Flirt im Café abends auf ein Date treffen. Was folgt, ist jedoch eine Kafka-eske Irrreise durchs Nachtleben, in der jede Straße eine Sackgasse ist. Schließlich hat der Protagonist auf Grund einiger Missverständnisse auch noch einen Mob von Verfolgern auf den Fersen und will einfach nur noch nach Hause, doch selbst das scheint unmöglich.

Es ist schade, dass diese absurde Komödie übers Großstadt-Yuppie-Leben kaum bekannt ist, gehört sie doch erzählerisch zum Interessantesten, was Martin Scorsese produziert hat. Selbst der Fokus auf männliche Figuren, der sich durch die Filmografie des Regisseurs zieht, wird hier kommentiert, denn Griffin Dunnes Hauptfigur ist ein Spielball der Frauen, die er trifft, ohne jegliche Kontrolle, und ständig finden sich symbolische Verweise auf Kastration. Trotz allen schwarzen Humors zieht sich, wie in vielen von Scorseses besten Filmen, eine Atmosphäre der Anspannung und Paranoia durch bis zum Ende. Eine Empfehlung, gerade für Leute, die das typische überlange Schauspielkino des Regisseurs schon müde sind.

Mathis Raabe

Silence (2016)

Silence basiert auf dem 1966 veröffentlichten Roman Schweigen von Shūsaku Endō – und war lange Zeit ein absolutes Herzensprojekt von Scorsese. Seit Anfang der 1990er Jahre wollte er den Stoff umsetzen. Seinem großen Interesse an religiösen Fragen ging Scorsese – der einst eine Laufbahn als Priester anstrebte und die Jesuitenschule besuchte – etwa schon in Die letzte Versuchung Christi (1988) nach. Und auch hier fängt er zusammen mit seinem Kameramann Rodrigo Prieto die Gesten des Glaubens in treffend-prägnanten Bildern ein: das Überreichen eines Kreuzes, das Spenden der Taufe oder die Abnahme der Beichte. All diesen sakralen Akten wird in Detail- und Naheinstellungen viel Bedeutung zugemessen.

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Die von Andrew Garfield und Adam Driver verkörperte priesterliche Zwei-Mann-Armee könnte in ihrem Idealismus kaum weiter entfernt sein von dem unmoralischen Duo, das Leonardo DiCaprio und Jonah Hill in der zuvor von Scorsese gedrehten Satire The Wolf of Wall Street auf die Leinwand brachten. Dennoch werden die beiden Missionare nicht als reine Sympathieträger gezeichnet. Silence verzichtet überdies darauf, die zwei Männer zu heroisieren: Oft werden sie in die Beobachterposition gedrängt, müssen sich verstecken und die Qual anderer hilflos mit ansehen.

Andreas Köhnemann

Rolling Thunder Revue (2019)

Bereits 2005 drehte Scorsese einen Dokumentarfilm über Bob Dylan. 2019 wiederholte sich dieses Spiel, diesmal für Netflix. Allerdings dreht sich Rolling Thunder Revue nur in zweiter Linie um Dylan selbst. Im eigentlichen Fokus steht die „Rolling Thunder“-Tour, die Dylan 1975 und -76 quer durch die USA führte und auf die er zahlreiche Musiker:innen, Künstler:innen und Poet:innen mitnahm. Aus altem Material und neuen Interviews entstand schließlich dieser (Pseudo-)Dokumentarfilm, in dem einige Figuren, Szenen und Anekdoten überdramatisiert oder gänzlich erfunden sind. Dabei ist die Täuschung jedoch derart gelungen, dass das ohne absolutes Expertenwissen nicht auffällt.

So oder so: Das, was porträtiert wird – Bob Dylan, seine Entourage, das Tour-Leben „on the road“, der Prozess des Musikmachens, die Live-Auftritte – ist absolut faszinierend. Zumal Scorsese den Mut beweist, mehrere Live-Songs des Nobelpreisträgers über die volle Länge auszuspielen. Damals wie heute schafft Dylan es, damit in seinen Bann zu ziehen.

Christian Neffe

Killers of the Flower Moon (2023)

Gut, rund dreieinhalb Stunden Laufzeit sind selbst für eingefleischte Fans von Martin Scorsese eine echte Ansage, doch um es kurz zu machen: Jede der 206 Minuten lohnt. Weil sich Scorsese viele Zeit nimmt, um uns in die Welt der 1920er Jahre mitzunehmen und regelrecht dort einzutauchen. Weil seine Geschichte auf wahren Ereignissen basiert, nimmt man diese Langsamkeit vor allem als Gründlichkeit war. Das geschickt eingebaute Archivmaterial und virtuose Wechsel zwischen diesen filmischen Dokumenten und den epischen Spielszenen fügen sich völlig natürlich zusammen, ebenso wie die Wechsel zwischen der Sprache der Osage und den englischen Dialogpassagen.

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Viel gäbe es dabei über das Zusammenspiel von Robert De Niro und Leonardo DiCaprio zu erzählen, wäre da nicht Lily Gladstone, die ihre beiden Mitspieler komplett an die Wand spielt und der Figur von Mollie so viel Würde und Tiefe verleiht, dass man kaum umhin kann, dem Film neben dem Kampf um einen Oscar für den Besten Film und die Beste Regie auch erhebliche Chancen auf die Auszeichnung für die beste weibliche Nebenrolle einzuräumen. Was sich gleichzeitig grundfalsch anfühlt, denn Lily Gladstone ist nichts Geringeres als das Zentrum dieses unglaublichen Epos, das für mich gut und gerne noch länger hätte gehen können.

Joachim Kurz

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