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Orte und Aborte – Das Kino von Wim Wenders

Ein Beitrag von Stefan Otto

Zum Start von Wim Wenders’ neuem Film „Perfect Days“ blicken wir auf das Motiv der Reise in seinen Filmen, das sich bereits in seinem Frühwerk finden lässt.

Meinungen
Wenders_Orte

Könnte nicht jeder Film so beginnen wie dieser? Mit dem jungen Morgen, mit einem neuen Tag? Leider nicht. Natürlich nicht. Aber es ist ein schöner Anfang. Hiramaya (Koji Yakusho) erwacht in Perfect Days und erhebt sich, packt sein Bettzeug beiseite, geht ins Bad und widmet sich der Morgentoilette. Die Sprösslinge, die er wie kleine Fundstücke zusammengetragen hat, versorgt er mit etwas Wasser, bevor er in seine Arbeitskleidung, einen Overall mit der Aufschrift The Tokyo Toilet, schlüpft. Dann tritt er mit einem Blick in den Himmel und einem Lächeln im Gesicht vor die Tür und zieht sich einen Kaffee am Getränkeautomaten. Im Auto kramt er in seinen Musikkassetten und schiebt eine ins Laufwerk.

The House of the Rising Sun, 1964 von den britischen Bluesrockern The Animals veröffentlicht und noch im selben Jahr auch in Deutschland ein Hit, verweist im ersten Vers ins amerikanische New Orleans und im zweiten, auch das mag man zumindest erwähnen, auf die aufgehende Sonne. Dieser Song in diesem Film illustriert die Weite, die Wenders in seinem Werk zu umfassen versucht. Von Düsseldorf-Pempelfort, seiner Heimat, über München, den Ort der Ausbildung, nicht nur in den Fernen Osten und den ehemals Wilden Westen, sondern, von Deutschland mal abgesehen, auch nach Portugal, Paris, Texas oder Hollywood. Immer unterwegs. Immer on the Road.

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Nach Japan und Tokio führt Wenders sein Publikum dabei nicht zum ersten Mal. Und auch ihn führten zunächst Filme ins Land „of the Rising Sun“. Jene des von ihm hochgeschätzten, wenn nicht gar tief verehrten japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu. Dessen Die Reise nach Tokyo, der Titel des wohl bekanntesten Films, mag beschreiben, was Wenders auf sich genommen hat, nicht nur, um sich den Themen und Inhalten von Ozus Filmen weiter anzunähern, sondern auch dem bereits 1963 verstorbenen Regisseur und seinem Werk selbst.

Ozus Räume

Tokyo-Ga – der japanische Titel von Wenders‘ Doku von 1985 bedeutet so viel wie Bilder aus Tokio – ist das Resultat dieser ersten Reise, das bezeichnenderweise mit dem kompletten Vorspann von Ozus Reise nach Tokyo (1953) eröffnet. Und mit einem entsprechend langen Off-Kommentar, den der essayistische Dokumentarist Wenders darüber spricht. „Tokio war wie ein Traum“, wird er später im Film sagen, und keine andere Stadt sei ihm bei seinem ersten Besuch je so vertraut vorgekommen wie diese.

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Wim Wenders macht sich auf die Suche nach der von Ozu abgebildeten Welt. Er trifft Yuharo Atsuta, den langjährigen Kameramann des Meisters, und den Schauspieler Ryu Chishu, der ihn zu Ozus Grab in Kamakura begleitet. Auch abseits solcher Bemühungen, Ozu auf persönlichem Wege etwas näherzukommen, halten Wenders und sein amerikanischer Kameramann Ed Lachmann die Augen offen, machen sich auf die Suche – und werden fündig.

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In einem Pachinko Parlor, einem Spielautomaten-Salon, dessen Besucher in kleine silberne Kügelchen investieren, um sie zu vermehren – oder zu verlieren. In einer Manufaktur, die Gerichte nachgestaltet, die dann in den Schaufenstern und Vitrinen der Restaurants ausgestellt werden. Oder bei Jugendlichen in einem Tokioter Park, die der US-amerikanischen Kultur und Musik, besonders der Rock’n’Roll-Ära frönen und nacheifern.

Wenders sucht, wie er selbst sagt, „Bilder, die eins sind mit der Welt“ und „Momente der Wahrheit“ und findet sie im mythischen Tokio Ozus und im mythischen Westen, in Mark Rydells Western The Cowboys, der nachts in einem Tokioter Hotel über den Bildschirm flimmert. Entdeckungen, wie die Fotos, die Hirayama in Perfect Days macht, die verschiedenen Lichtspiele im Laub. Fundstücke, wie die Sprösslinge, die Hirayama ausgräbt, nach Hause trägt und kultiviert. Hirayama, das ist übrigens ein Rollenname, der in Ozus Filmen häufiger auftaucht.

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Tokyo-Ga, heißt es im Untertitel, ist ein gefilmtes Tagebuch. Was ist Perfect Days anderes? Mit jedem Erwachen Hirayamas, jedem neuen Morgen, beginnt ein neuer Eintrag. Die Traumsequenzen, gefilmt von Wims Ehefrau Donata Wenders und geschnitten von Clementine Decremps, markieren die Nächte. Mit Hirayama lassen wir uns und lässt Wenders sich auf Tokio ein, auf Hirayamas Tokio allemal. „Orte machen von sich aus Vorschläge, was sie gerne hätten, was da passiert“, kann man in dieser Hinsicht den heute 78-jährigen Deutschen in einem Video sagen hören, das auf der Webseite der Wim-Wenders-Stiftung zu finden ist.

Orte brauchen Geduld

A Sense of Place – Der Ortssinn im Film war 2018 eine Masterclass an der Internationalen Filmschule Köln und der Kunsthochschule für Medien Köln überschrieben, aus der hier Ausschnitte zu sehen sind. Es mache den Ortssinn auch aus, herauszufinden oder herauszuhören, welche Geschichte ein Ort erzählen möchte, ergänzt Wenders. „Orte sind empfindlich. Die wollen manchmal nicht gestört werden. Dann darf man nicht hineinplatzen, dann muss man auch mal ein bisschen Geduld haben“, sagt er.

Wim Wenders nähert sich ihnen von Beginn seiner Karriere an stets behutsam, respektvoll und aufmerksam. Schauplätze hieß bezeichnenderweise sein allererster Kurzfilm aus dem Jahr 1967, der jedoch leider als verschollen gilt. Summer in the City, sein Abschlussfilm an der Filmhochschule, führt von München nach Berlin und endet buchstäblich in der Luft, mit dem Blick aus einem Flugzeug auf die Tragfläche und in den Himmel. Die Reise beginnt. „Auf dieser Welt gibt es viele Welten“, sagt Hirayama.

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Wenders‘ deutsch-österreichische Handke-Verfilmung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972) führte nach Österreich, die nachfolgende deutsch-spanische Koproduktion Der scharlachrote Buchstabe (1973) spielt im alten Neuengland und wurde in Spanien und Deutschland gedreht. Sie bildet eine Ausnahme in seinem Werk, in dem Orte gemeinhin für sich selbst stehen und nicht vortäuschen zu sein, was sie nicht sind. Drehort, bedeutet das, ist gleich Schauplatz und Schauplatz, soweit möglich, gleich Drehort.

So verschafft die 1974 bis 1976 folgende Road-Movie-Trilogie, ein Höhepunkt in seinem Werk, tatsächlich jedem Ort Geltung, an dem Robby Müllers Kamera zum Stehen kommt. Mögen die Wegstrecken noch so lang sein, die die Protagonisten zurücklegen, und die Weite deutlich spürbar, in der sie sich bewegen. Entlang der damals ja noch bestehenden deutsch-deutschen Grenze und der Kinos von Lüneburg bis Hof, deren Projektoren Bruno (Rüdiger Vogler) Im Lauf der Zeit (1976) instand hält. Vom holsteinischen Glückstadt bis auf die Zugspitze an der Grenze zu Österreich auf dem Railway-and-Roadtrip, den Goethes Wilhelm Meister (Rüdiger Vogler) in Falsche Bewegung (1975) unternimmt. Oder von New York über Amsterdam ins bald abgewirtschaftete Ruhrgebiet, der Wegweisung einer alten Fotografie folgend, die Philip (Rüdiger Vogler) in Alice in den Städten (1974) die Richtung vorgibt.

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Als deutsch-französische Koproduktion führte der Highsmith-Krimi Der amerikanische Freund 1977 nach Deutschland, Frankreich und in die USA, wo Wenders auch den nächsten Spielfilm, Hammett, realisierte. Paris, Texas, einer seiner bekanntesten Filme, der ihm 1984 die Goldene Palme von Cannes einbrachte, führt zwar nicht unmittelbar an den angegebenen Ort, aber nach Texas und Kalifornien.

Den Schauplatz schon im Titel tragen Der Himmel über Berlin (1987), Lisbon Story, eine Hommage an die portugiesische Hauptstadt Lissabon anlässlich ihres Jahres als Kulturhauptstadt Europas 1994, oder Palermo Shooting (2008). Andere Filme entstehen in Italien, Frankreich, Australien oder Kanada. Alles liegt In weiter Ferne, so nah! (1993), um einmal mehr einen sprechenden Filmtitel zu bemühen. Grenzenlos (2017) oder Bis ans Ende der Welt (1991) wären zwei weitere, die sich an dieser Stelle passend einfügen ließen.

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Dokumentarfilme wie Buena Vista Social Club (1999), Das Salz der Erde (2014) oder Anselm – Das Rauschen der Zeit (noch im Kino als Perfect Days anläuft) gehen noch weitere Wege. Nach Tokyo-Ga führte hier „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ (1989), eine Doku über den japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto, ein weiteres Mal an den Schauplatz von Perfect Days.

Spielfilme erkunden Orte

„Ich finde, Orte sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten“, erklärt Wenders diesen gelungenen Produktionen zum Trotz. „Der Himmel über Berlin fing ja auch mit der Lust an, die Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Aber wenn ich damals einen Dokumentarfilm über Berlin gemacht hätte, wären die Orte des Films nicht so ‚erhalten‘ geblieben, wie es durch die Erzählung der Engelsgeschichte geschehen ist“, erinnert er anlässlich seines neuen Films.

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Perfect Days gründet auf einem Angebot, das Wenders aus Tokio erhielt, sich künstlerisch mit dem Stadterneuerungsprojekt „The Tokyo Toilet“ auseinanderzusetzen, für das von namhaften Architekten wie Tadao Ando oder Shigeru Ban insgesamt 17 öffentliche Toilettenhäuschen im Bezirk Shibuya errichtet wurden. Wie individuell und besonders sie gebaut und gestaltet sind, ist in „Perfect Days“ nicht nur zu sehen, sondern mit Hirayama regelrecht zu erleben, wenn er sie nacheinander anfährt und sorgsam putzt.

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Die Musik, die der schweigsame Mann unterwegs, auf den vielspurigen und mehrgeschossigen Straßen Tokios hört, verweist dabei auf Wim Wenders. Songs wie das titelgebende Perfect Day, Redondo Beach oder Brown Eyed Girl, die in Hirayamas Tapedeck laufen, hätten sich ähnlich seit frühesten Jahren schon auf vielen Soundtracks seiner Filme finden können. Lou Reed, Patti Smith oder Van Morrison sind alle nicht zum ersten Mal vertreten. Am Ende erklingt Feeling Good von Nina Simone.

Wenders‘ nächster Film trägt den Arbeitstitel Das Geheimnis der Orte und wird von dem 80-jährigen Schweizer Architekten Peter Zumthor handeln, der ebenfalls von den Orten her denkt und seine Projekte von innen heraus entwickelt – wie der zwei Jahre jüngere Filmemacher. Wenders wird nicht müde, all diese möglichen Orte mit seinen Filmen zu erkunden.

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