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Kommentar

Jahresrückblick: Corona und Box Office - Ein Paradigmenwechsel?

Ein Beitrag von Christian Neffe

Ein Blick auf die weltweiten Kino-Einspielergebnisse 2020 macht die einschneidenden Veränderungen deutlich, die Corona in der Filmlandschaft hinterlassen hat und wird. Und hält einige Überraschungen parat.

Meinungen
Eine einzelne Person in einem Kinosaal
Eine einzelne Person in einem Kinosaal

Schon seit einiger Zeit mehren sich Stimmen, die behaupten, die Menschheit werde zukünftig von „vor Corona“ und „nach Corona“ sprechen. Auch wenn das in vielen Fällen wohl ironisch bis zynisch verstanden werden muss: Für diverse Branchen dürfte diese Prognose durchaus zutreffend sein. Auch wir als Filmfans spüren das besonders deutlich: Die Schließung der Kinos hat jedenfalls bereits für einen radikalen Wandel in der Filmdistribution gesorgt. Wie nachhaltig diese Veränderungen sein werden, wird die Zeit zeigen. Bis dahin werfen wir einen genaueren Blick zurück auf die Zahlen, sprich: die Kino-Einspielergebnisse des Jahres 2020, um die Ausmaße dieser Veränderungen etwas genauer greifen zu können.

 

Der Überblick

Zunächst einmal ein Blick auf die weltweiten Box-Office-Ergebnisse kurz vor Jahresende:

  • Platz 1: The Eight Hundred ($472,430,226) — Studio: CMC Pictures Holdings
  • Platz 2: My People, My Homeland ($430,397,557) — Studio: China Lion Film Distribution
  • Platz 3: Bad Boys for Life ($426,505,244) — Studio: Sony Pictures
  • Platz 4: Tenet ($359,900,000) — Studio: Warner Bros.
  • Platz 5: Sonic the Hedgehog ($320,954,026) — Studio: Paramount
  • Platz 6: Demon Slayer: Mugen Train ($298,178,858) — Studio: Toho/Aniplex
  • Platz 7: Die fantastische Reise des Dr. Dolittle ($250,482,863) — Studio: Universal
  • Platz 8: Jiang Ziya ($243,843,105) — Studio: Beijing Enlight Pictures
  • Platz 9: Birds of Prey ($201,858,461) — Studio: Warner Bros.
  • Platz 10: Sacrifice ($170,730,000) — Studio: Beijing Enlight Pictures

Stand 8. Dezember, Quelle: wikipedia.org/wiki/2020_in_film

 

Ist Disneys Dominanz gebrochen?

Was sofort ins Auge springt: Der über fünf Jahre dominierende Platzhirsch Disney ist verschwunden. Wenig überraschend, glänzte der Micky-Maus-Konzern in diesem Jahr doch weitestgehend durch Abwesenheit auf der großen Leinwand und konzentrierte sich stattdessen auf den Auf- und Ausbau seines Streaming-Dienstes Disney+. Mit inzwischen mehr als 73 Millionen Abonnent*innen seien die Erwartungen weit übertroffen worden, berichtete CNBC Mitte November. Aber reicht das, um schwarze Zahlen zu schreiben?

Tatsächlich nein. Der Konzern macht Verluste im zehnstelligen Bereich. Das liegt sowohl am fehlenden Freizeitpark-Geschäft als auch den kaum vorhandenen Einnahmen im Kinobereich. Allein 2019 spielten Die Eiskönigin 2, Der König der Löwen und Avengers: Endgame in Summe rund 6 Milliarden Dollar ein. Und dieses Jahr? Tote Hose. Nicht zuletzt auch, weil der Konzern 2020 keinen einzigen Super-Blockbuster im Line-up hatte: Nach dem MCU-Abschluss Endgame sowie Star Wars Episode 9 (der viele Fans vergraulte) fehlten die großen Franchise-Kracher. Übrig blieben Black Widow, Mulan und Soul.

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Während Black Widow weiter auf sich warten lässt, ist das „Zahl zusätzlich zu deinen Abogebühren noch 20 Euro“-Experiment Mulan wohl gehörig gefloppt. Anders lässt es sich jedenfalls kaum erklären, dass die gleiche Strategie nicht auch bei Soul versucht wurde, der eine deutlich größere Zielgruppe anspricht und wohl auch erfolgreicher gelaufen wäre. Stattdessen landet der neue Pixar-Film am 25. Dezember direkt im Abo. Zu Weihnachten will Disney also nochmal versuchen, eine große Zahl neuer Abonnent*innen zu gewinnen. Ob die nach der siebentägigen Probephase aber auch dabei bleiben werden, steht in den Sternen… Ebenso wie die Antwort auf die Frage, welche Distributionsstrategie der Konzern einschlagen wird, wenn die Kinos wieder öffnen - und ob wir Disney dann 2021 erneut an der weltweiten Box-Office-Spitze sehen werden. Allein mit einem halben Dutzend Prestige-Projekten jährlich wird es jedenfalls schwer, die Kund*innen langfristig auf der eigenen Streaming-Plattform zu halten.

 

Chinesische Produktionen an der Spitze

In den vergangenen Jahren ist der chinesische Kinomarkt zu einem der wichtigsten Faktoren in der Auswertung (und auch Produktion) von Filmen geworden. 2020 nun hat er die Führung übernommen. An der Box-Office-Spitze stehen zwei chinesische Filme, auch Platz 8 und 10 kann das Reich der Mitte für sich reklamieren. Ausgerechnet jenes Land, das als Ursprung des Coronavirus gilt, verzeichnet also die höchsten Kino-Einspielergebnisse des Jahres..

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Bevor nun wieder die nächste „Verschwörung“ gewittert wird, folgende simple Tatsache: Durch effektive und von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragene Maßnahmen konnte die Pandemie in China schlicht derart eingegrenzt werden, dass ein halbwegs normales Leben schnell wieder möglich war. Im Herbst konnten die dortigen Kinos wieder mit 75-prozentiger Auslastung betrieben werden.

In der sogenannten „Ersten Welt“ sorgten und sorgen hingegen halbherzige Anti-Corona-Maßnahmen (im Verbund mit einem gewissen „Pandemie-Narzissmus“ in einigen Teilen der Gesellschaft) dafür, dass die Kinos im Sommer und Herbst nur bei 25 Prozent Auslastung liefen und in den wirtschaftlich so entscheidenden Wintermonaten erneut dicht sind. Die weltweiten Box-Office-Ergebnisse 2020 sagen (wie üblich) nichts über die Qualität der Filme aus - dafür aber über das gesellschaftliche Klima der Länder, in denen sie erzielt werden.

 

Anime-Hype

Ein Film sticht aus der obigen Liste heraus: Demon Slayer: Mugen Train. Nun brechen Animes in Japan ja regelmäßig Rekorde. Dass aber ausgerechnet im Pandemie-Jahr einer von ihnen zum zweitstärksten Kino-Neustart aller Zeiten in Japan wird, ist beachtlich. Erst recht wenn man den späten Kinostart (16. Oktober) in Betracht zieht. Und ist letztlich mit den selben Argumenten begründbar, die die schon oben erwähnt wurden: strikte Maßnahmen, gesellschaftlich mitgetragen, Wiedereröffnung der Kinos möglich. Wenn also von einem „Kinosterben“ gewarnt wird, dann wohl vor einem in Europa und den USA. In Ostasien könnten die Kinos von der Corona-Krise weitestgehend verschont bleiben.

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Kino-Retter Nolan?

Christopher Nolan (c) Georges Biard, CC BY-SA 4.0

Entgegen aller Strategien, die die großen Hollywood-Studios Anfang und Mitte der Jahres initiierten (Universal wollte nach dem digitalen Erfolg von Trolls World Tour vorrangig auf Streaming setzen, Disney war mit Disney+ beschäftigt, zunehmend mehr Filme wurden an Netflix und Amazon herausgegeben oder gleich fürs Heimkino veröffentlicht) pochte Christopher Nolan auf einen regulären Kinostart von Tenet. Sein Science-Fiction-Agentenfilm wurde vorab zum Retter der Kinos erkoren, konnte diesem Anspruch aber nicht gänzlich gerecht werden. Nur dank der langen Laufzeit bis in den Herbst hinein rettete sich die 200-Millionen-Produktion auf nun fast 360 Millionen Dollar, was angesichts der Faustregel, wonach die Marketing- die Produktionskosten nochmals verdoppeln, ein leichtes Minus in den Kassen von Warner Bros. hinterlassen haben dürfte. Die Hoffnung liegt nun auf der Heimkinoauswertung, die noch vor Weihnachten beginnen soll.

Warner Bros. zieht die Konsequenzen: 17 Filme sollen im nächsten Jahr zeitgleich im Kino wie auch auf HBO Max starten, darunter Wonder Woman 1984, Dune oder Godzilla vs. Kong. Diese Maßnahme soll zunächst vorläufig bestehen (zog aber schon entsprechende Wut auf sich). Wie genau Warners Strategie derweil in Europa aussehen wird, wo HBO Max nicht verfügbar ist, ist noch unklar. Entscheidend wird nichtsdestotrotz sein, wie die Kunden reagieren. Denn trotz aller Liebe, die wir hier zum Arthouse-Film pflegen: Das, was viele Kinos am Leben hält, sind nun mal die großen Blockbuster, die Tentpole-Produktionen, die für einen kollektiven Besucheransturm sorgen. Solange sich das nicht ändert (durch eine entsprechende Subventionierung von Lichtspielstätten etwa oder einen drastischen Bewusstseinswechsel beim Publikum, auch kleinere, künstlerisch wertvolle Filme in Scharen zu besuchen), bleibt dies leider traurige wirtschaftliche Realität.

Doch ohnehin: Welche Spätfolgen Corona 2021 und darüber hinaus in der Film- und Kinolandschaft hinterlassen wird, ist Spekulation. Wahrscheinlich dürfte lediglich sein: In Zukunft werden vor allem Filmfans von „vor Corona“ und „nach Corona“ sprechen.

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