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Interviews

„Ich mag echte Menschen“

Ein Beitrag von Maria Wiesner

Philippa Lowthorpe („Die Misswahl“) hat ihre Karriere als Dokumentarfilmerin bei der BBC begonnen. Im Interview erzählt sie, wie sie dort auf Missstände aufmerksam machte und was sie an der Geschichte der „Miss World“-Wahl von 1970 faszinierte.

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Filmstill zu Die Misswahl - Der Beginn einer Revolution (2020) von Philippa Lowthorpe
Die Misswahl - Der Beginn einer Revolution (2020) von Philippa Lowthorpe

Frau Lowthorpe, wie sind Sie auf die Geschichte von Sally Alexander und Jennifer Hosten, die beiden Frauen im Fokus von „Die Misswahl“, aufmerksam geworden?

Oh, ich habe die Geschichte gar nicht gefunden, sondern von der Produzentin Suzanne Mackie und der Drehbuchautorin Rebecca Frayn. Sie haben die Geschichte in der BBC gehört, als sich Sally Alexander, Jennifer Hosten und die anderen Mitstreiterinnen der Women’s Liberation nach 40 Jahren trafen, um im Radio über die Ereignisse von 1970 zu sprechen. Dann haben die beiden zehn Jahre daran gearbeitet, die Geschichte zu verfilmen. Vor ungefähr drei Jahren haben sie mich an Bord geholt, um Regie zu führen. Und ich dachte, das ist so eine wichtige Geschichte, die muss erzählt werden. Und 50 Jahre sind jetzt ein guter Zeitabschnitt, um noch einmal auf die „Miss World“-Wahl und die feministischen Proteste damals zurückzublicken und zu schauen, wie weit wir seitdem gekommen sind.

 

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Wie weit sind wir denn seitdem gekommen?

Die Women’s Liberation hat ein paar großartige Dinge in Großbritannien durchgesetzt: die gleiche Bezahlung für Männer und Frauen, die Abschaffung der sexuellen Diskriminierung. Das waren großartige Erfolge, aber es gibt immer noch so viel zu tun. Im Parlament sind Frauen noch immer unterrepräsentiert, ebenso wie im Vorstand großer Firmen. Zudem gibt es noch immer nur sehr wenige weibliche Filmemacher. Der Prozess ist sehr langsam und langwierig. In den vergangenen drei, vier Jahren haben wir mit der 50/50-Kampagne im Filmgeschäft und mit der MeToo-Bewegung sehr viele Frauen gesehen, die für ihre Rechte kämpfen. Das ist eine ganz neue, sehr wichtige Welle des weiblichen Protests. Es zeigt, wie viel noch zu tun ist, bis wir wirkliche Gleichberechtigung erreicht haben.

 

Sie selbst sind die erste Regisseurin, die einen Bafta für fiktionales Erzählen im Fernsehen bekommen hat.

Mittlerweile sind es zwei Baftas für Fernsehfilme – und bin in dieser Kategorie noch immer die einzige Frau. Das ist eine Schande. Ich möchte jüngere Frauen dazu ermutigen, das zu tun, was sie machen wollen. Wir wollen weibliche Stimmen hören, wir brauchen ihre Geschichten. Frauen sind großartige Geschichtenerzähler, egal mit welchem sozialen Hintergrund sie aufgewachsen sind. Ich will Geschichten von Women of Color hören, ich will die Geschichten von Frauen hören, die in ärmlicher Umgebung aufwachsen mussten. Wir müssen die Türen für diese Frauen öffnen.

 

Mit der Geschichte der „Miss World“-Gewinnerin Jennifer Hosten stellen Sie schon mal eine Woman of Color neben die Frauenrechtlerin Sally Alexander in den Mittelpunkt des Films. Was hat Sie dazu gebracht, die beiden zu den Hauptfiguren zu machen?

Wir wollten die Geschichte komplex erzählen, nicht einfach nur aus der Perspektive der feministischen Aktivistinnen und nicht nur aus der Perspektive der Wettbewerbsteilnehmerinnen. Sally ist als Figur so interessant, weil sie Akademikerin werden will und sich mit so vielen Vorurteilen und Gegenwind auseinandersetzen muss. Und auch Jennifers Geschichte ist eine der Emanzipation, denn was konnte sie sonst tun, um anerkannt zu werden? Für sie war es die Teilnahme am Schönheitswettbewerb. Das waren verschiedene Arten, als Frau ihren Weg zu gehen im Jahr 1970. Wir wollten beide zeigen und kein einfaches Schwarz-Weiß-Bild zeichnen.

Keira Knightly als Sally Alexander und Gugu Mbatha-Raw als Jennifer Hosten in „Die Misswahl“ © Entertainment One

 

Haben Sie die echten Personen getroffen?

Als ich an Bord kam, wurde am Drehbuch noch gearbeitet, das ist ja eigentlich immer ein andauernder Prozess, nie ganz fertig. Ich war so schon in die Entwicklung des Drehbuchs involviert, habe viel Recherche mit der Autorin reingesteckt. Wir haben mit all den echten Frauen gesprochen, mit den Frauenrechtlerinnen Sally Alexander und Jo Robinson. Auch mit Jennifer Huston und Pearl Jansen, der Zweitplatzierten, die für „Africa South“ angetreten war (Anm.: Aufgrund des Apartheidsregimes hatte Südafrika zunächst eine weiße Kandidatin zum Schönheitswettbewerb geschickt, Pearl trat als Woman of Color kurzfristig ebenfalls für Südafrika an, jedoch unter der Landesbezeichung „Africa South“). Sie war gar nicht so leicht zu finden, zuhause in Südafrika. Aber wir haben es geschafft, sie aufzuspüren. Mit ihr habe ich stundenlang telefoniert, ihre Geschichte ist sehr faszinierend. All das ist ins Drehbuch eingeflossen, es wurde zu einem sich entwickelnden organischen Wesen. Mit jedem Gespräch mit einer der Frauen hat sich ein neues kleines Detail ergeben, das ins Drehbuch musste.

 

Sie haben sich sogar dafür entschieden, die echten Frauen, die realen Vorbilder der Geschichte, am Ende des Films noch einmal zu zeigen.

Sie sind so inspirierend, es wäre schade, wenn sie nicht im Film vorkommen würden. Außerdem sehen wir so selten ältere Frauen auf der Leinwand. Und diese hier sind so wundervoll und schön. Ich wollte diese älteren Frauen und das Leben, das sie hatten, zeigen, in ihre Gesichter schauen und sie damit ehren. Das war mir sehr wichtig. Man sollte am Ende begreifen, dass es sich bei dieser Geschichte um echte Menschen handelt. Das Publikum soll sich über den Kinobesuch hinaus mit dem Thema beschäftigen.

 

Viele Ihrer Filme sind von wahren Begebenheiten inspiriert. Wie kommt es, dass solche Geschichten Sie besonders faszinieren?

Ich habe als Dokumentarfilmerin angefangen. Echte Geschichten faszinieren mich immer mehr als Fiktion. Ich mag echte Menschen, ich mag mit ihnen zu reden und ihre Geschichten zu erfahren und dann zu erzählen. Three Girls, ein Film über einen Kindesmissbrauchsskandal in Großbritannien — solche Geschichten zu erzählen ist sehr wichtig. Man hat eine gesellschaftliche Aufgabe dabei, muss diese wichtige Geschichte an die Öffentlichkeit bringen und die Menschen dazu bewegen, zuzuhören.

 

Wie kam es dann, dass Sie doch von den Dokumentarfilmen hin zur Fiktion gewechselt sind?

Im Dokumentarfilm kann man unter Umständen nicht alles erzählen, weil zum Beispiel die Leute nicht gezeigt oder erkannt werden wollen. Fiktionale Dramen können sehr nützlich sein, um die Geschichte einer Person zu erzählen und dabei ihre Anonymität zu wahren. Ich bin in die Fiktion so reingerutscht. Bei der BBC mochten sie die Idee, dass Dokumentarfilmer ihren ersten Spielfilm machen. Dokumentarfilmer erzählten Geschichten anders, das gefiel ihnen.

 

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Wir sprachen kurz über die Behandlung von Frauen im Filmgeschäft. Haben Sie in Ihrer Karriere denn Diskriminierung erlebt?

Ja, am Anfang meiner Karriere. Wenn man solche Situationen erlebt, bemerkt man das im Moment gar nicht. Das kommt erst später. Da denkt man sich: ‚Oh mein Gott, die haben mich diesen Film nicht machen lassen.‘ Als ich mit den Dokumentarfilmen anfing, arbeitete ich in einer Abteilung der BBC, in der vorher noch nie eine Frau einen Dokumentarfilm gemacht hatte. Ich fing dort mit einer Freundin an, die auch Filmemacherin werden wollte. Wir gingen gemeinsam durch den Archivkatalog, sahen uns alle Filme an, die diese Abteilung der BBC produziert hatte, und nicht ein einziger davon stammte von einer Frau. Also haben wir all diese Filmtitel aufgeschrieben und den Zettel unter der Tür unseres Abteilungsleiters durchgeschoben und in Großbuchstaben drauf geschrieben: WO SIND DIE FRAUEN? Das war nur ein Sichumblicken und Feststellen: Es gibt hier keine Frauen in diesem Job. Wo sind sie? Und man fühlt sich allein. Aber zum Glück habe ich in meiner Laufbahn viel Unterstützung bekommen — von Männern und Frauen. Die mich machen ließen. Es gibt ja zum Glück auch in den Chefpositionen Männer, die sich nicht darum scheren, ob man nun ein Mann oder eine Frau ist und die einem einfach ein Projekt anvertrauen und sich darauf verlassen, dass man einen guten Job abliefert. Nicht alle Männer sind schlecht.

 

Wie hat denn Ihr damaliger Chef auf den Zettel reagiert?

Er war einer der Guten. Er hat den Zettel gelesen und dann zugegeben, dass ihm dieser Fakt bis dahin noch gar nicht aufgefallen war. Er war jung, Peter Salmon, der ist jetzt Kreativ-Chef bei Endemol. Er sah sich die Situation an und beschloss, uns zu unterstützen. Er war einer meiner größten Unterstützer. Er war ein Modernisierer der BBC, hat zugehört. Es gibt also auch ein paar gute Leute da draußen.

 

Die Fragen stellte Maria Wiesner.

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