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Kolumnen

Umwege gehen

Ein Beitrag von Lars Dolkemeyer

Wenn das Kino neue Gedanken entstehen lassen und Ort für politische Filme sein will, muss es sich einer neuen Gegenwart anpassen. Kann es dabei vielleicht ausgerechnet von einem Handyspiel etwas lernen?

Meinungen
Begrabe mich, mein Schatz - Handyspiel
Begrabe mich, mein Schatz - Handyspiel

Das Kino ist ein Ort der Reflexion, an dem Zuschauer*innen neue Gedanken entdecken und entwickeln können. Gesellschaftliche, politische, historische Wirklichkeit wird im Kino anderen Ansichten unterworfen und das Publikum hat Teil an diesem Prozess der Reflexion. Menschen fühlen und denken anders, wenn sie im Kino sind. Und auch wenn das Licht des Projektors ausgeht, das Saallicht langsam aufblendet und ich mich noch ganz benommen aus meinem Sessel hebe, durch das Foyer in die Nacht trete, bleibt ein anderes Denken in mir. So zumindest eine träumerische Wunschvorstellung.

Dass die Realität oft anders aussieht, wird besonders deutlich in Filmen, die sich in den vergangenen Jahren der Flüchtlingskrise gewidmet haben. In Deutschland war dies mit großem Erfolg zum Beispiel Willkommen bei den Hartmanns (2016), aus Frankreich gab es Filme wie Monsieur Claude und seine Töchter (2014) oder Ein Dorf sieht schwarz (2016), und mit einem etwas anderen Ton kam aus Norwegen Welcome to Norway (2016). Die Liste, insbesondere französischer Wohlfühl-Integrations-Komödien, ließe sich lange fortsetzen. Sie alle aber, so unterschiedlich sie im Detail sein mögen, haben dasselbe Problem: Es sind keine politischen Filme.

Monsieur Claude und seine Töchter; Copyright: Neue Visionen
Monsieur Claude und seine Töchter; Copyright: Neue Visionen

 

Sackgassen

Bei allem finanziellen Erfolg im Kino und der entsprechenden Reichweite dieser Komödien, handelt es sich nicht um Filme, die einen gedanklichen Prozess anstoßen und damit neue Ansichten entwickeln. Im Gegenteil: Ihre Ansichten sind so staubig und alt, dass auch der leichte Witz, die stereotypen Situationen und Figuren und die humorvolle Auflösung der Probleme darüber nicht hinwegtäuschen können. Sie bedienen sich bei den öffentlichen Debatten um den Umgang mit geflüchteten Menschen lediglich als Material für ihre Pointen. Sie reproduzieren alte Bilder all dessen, was mit den Worten Integration und Flüchtling assoziiert wird, ohne am Erhalt des gesellschaftlichen Zustands und seinen dominanten Meinungen etwas zu ändern. Am Ende können die Zuschauer*innen beruhigt nach Hause gehen – die Welt ist schon in Ordnung, wie sie ist, solange wir darüber lachen können.

Willkommen bei den Hartmanns; Copyright: Warner Bros.
Willkommen bei den Hartmanns; Copyright: Warner Bros.

Dass die befreiende Kraft des Lachens über die eigene Borniertheit oder die Borniertheit der anderen – schau‘ mal, genau wie bei uns und Müllers! – durchaus politisch sein kann, soll damit gar nicht in Frage gestellt werden: Politisches Kino hingegen, das Veränderungen bewirken kann, sieht anders aus. Das Problem scheinen dabei aber nicht in erster Linie die Filme selbst zu sein: Es handelt sich durchweg um gelungene Komödien, deren offene und grundlegend auf Toleranz und Gemeinschaft gerichtete Weltsicht als solche kein Problem darstellt. Die eigentliche Hürde im Wege eines zeitgemäßen politischen Kinos ist vielmehr das Kino selbst.

 

Umwege

Dies wird besonders sichtbar, wenn eine andere Kunstform sich mit demselben Gegenstand beschäftigt: Ein Mobile Game wie das von Arte koproduzierte Begrabe mich, mein Schatz durchstößt die gleichförmig-harmonische Oberfläche des dann doch, hach ja, irgendwie gelingenden Zusammenlebens und vermag mit ganz anderer Intensität zu bewegen. Grund dafür ist nicht, dass es andere narrative Situationen entwirft oder dass es sich bei dem Spiel nicht um eine Komödie handelt – auch ein Film wie Aki Kaurismäkis Die andere Seite der Hoffnung (2017) trägt nicht viel mehr zur Diskussion bei als eine durchschnittliche Culture Clash-Komödie.

Die andere Seite der Hoffnung; Copyright: Pandora Filmverleih
Die andere Seite der Hoffnung; Copyright: Pandora Filmverleih

Begrabe mich, mein Schatz zieht seine immense emotionale Wucht aus dem klugen Ausschöpfen seiner medialen Bedingungen als mobiles Handyspiel: Im schlichten Interface einer Messenger-App haben die Spieler*innen als Majd die Möglichkeit, dessen Ehefrau Nour Nachrichten zu schreiben, während diese sich auf den gefährlichen Weg von Syrien nach Europa macht. Die möglichen Antworten auf die in Echtzeit über mehrere Tage verteilt eintreffenden Nachrichten von Nour sind zwar vorgegeben, ihre Auswahl bestimmt jedoch den Weg und das Schicksal der Figuren. Parallel dazu lässt sich eine an Karten-Apps angelehnte Übersichtskarte der Route anzeigen, die kurze Informationen zu den durchreisten Orten enthält.

Die Benachrichtigungen über neue Mitteilungen werden ganz wie bei anderen Apps angezeigt, das Spiel übersteigt seinen eigenen Rahmen und dringt in den Alltag der Benutzer*innen ein, es erscheint auf dem Sperrbildschirm, am Bildschirmrand, an all den Orten, die sonst den gewöhnlichen, nicht-fiktionalen Kommunikationen gehören. Der Effekt ist beachtlich: Nours Reise, die Ungerechtigkeiten, die sie erleiden muss, die Gewalt, die sie erlebt, berühren gerade deswegen so sehr, weil ich ganz natürlich mit nervöser Spannung die nächste Nachricht erwarte, wie ich die Nachrichten anderer Menschen erwarte: Geht es ihr gut? Ist etwas passiert? Warum meldet sie sich nicht, verdammt?! – Und schließlich, je nach Ausgang der Geschichte, sitze ich erstarrt mit den Handy in der Hand da und muss erst einmal Luft holen.

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Zustimmen und ansehen

Nour wird von einer bloßen Figur in einem Messenger-Spiel über das Interface des Geräts zu meinem realen Gegenüber: die Angst um ihr Wohlergehen, die nervösen Griffe zum Smartphone, die Erleichterung, endlich von ihr zu hören, die Angst, wenn neue Nachrichten ausbleiben. Anders als die erwähnten Filme zeigt Begrabe mich, mein Schatz damit tatsächlich eine andere Perspektive, eine andere Ansicht der Welt, und nicht bloß die endlose Selbstbespiegelung einer sorglosen Mittelschicht. Das Schicksal der Flüchtlinge, der gefährliche Weg, das erlittene Unrecht – Formulierungen, die bei allem Bemühen abstrakt bleiben. In Begrabe mich, mein Schatz erhalten sie ein Leben, ein konkretes Leben, an dem die Spieler*innen Anteil nehmen. Mit jedem anderen Weg, den Nour einschlägt, mit jedem anderen der möglichen Ausgänge der Erzählung wächst das Potenzial des Spiels, die Ansichten zu vervielfältigen, Umwege zu gehen und mit jedem Umweg ebenso das Denken der Spieler*innen auf neue Wege zu führen.

 

Andere Wege

Das Problem des Films ist also nicht, dass es keine politischen Filme gäbe – vielmehr liegt es im Umstand, dass politischer Film, wenn er auch zur Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen beitragen soll, nicht mehr in Bezug auf das Kino zu denken ist. Wo noch vor wenigen Jahrzehnten die Störung konventioneller Muster, das Offenlegen des kinematographischen Apparats und andere formale Strategien ein politisches und aktivistisches, auch ein experimentelles Kino geprägt haben, sind die Bezugspunkte dieser Strategien in einer Welt nach der digitalen Globalisierung und der, wie Francesco Casetti es in seiner berühmten Formulierung nennt, „Explosion des Kinos“ gar nicht mehr relevant. Godard erschüttert heute niemanden mehr.

Was das Beispiel von Begrabe mich, mein Schatz zeigt, ist die Notwendigkeit eines fundamentalen Umdenkens. So wie das Spiel die Grenzen seiner Fiktionalität auf den Alltag der Nutzer*innen hin ausdehnt, so muss auch der Film sein Potenzial grundlegend an anderen Orten als dem Kino aufsuchen. Damit soll nicht der viel Anklang findenden These einer zunehmenden Annäherung von Film und Spiel beigepflichtet werden – es sind vielmehr die Strategien, die Begrabe mich, mein Schatz wählt, um die Grenzen alltäglicher mobiler Kommunikation zu übertreten, von denen der Film lernen kann, seine eigenen Grenzen zu übersteigen. Diese Grenzen liegen nur nicht mehr im Kinosaal allein, sondern weit über elektronische und digitale Medien verteilt.

Havarie; Copyright: Realfiction
Havarie; Copyright: Realfiction

Es muss also im Zeitalter nach dem Kino darum gehen, sich mit neuen Dispositiven auseinanderzusetzen, mit der global vernetzten Hervorbringung von Bildern, den Plattformen ihrer Verbreitung, den technischen Bedingungen ihrer Veränderung und Kombination. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Filme zwingend das Kino zurücklassen müssen: Philip Scheffners Havarie (2016) etwa zeigt dies in seiner Struktur, die um einen YouTube-Clip organisiert ist, ohne dass der Film dabei abseits des Kinos steht. Aber es sind genau diese neuen Rahmen, die es zu sprengen gilt und die auch der Kino-Film reflektieren muss, um das Denken und Fühlen seiner Zuschauer*innen in Bewegung zu versetzen, es zu stören und auf andere Wege zu führen. Wie aktuell könnte der politische Film dann sein, wie sehr könnte er mich treffen – und wie lange bliebe dann der Traum vom Kino als Ort der Reflexion lebendig.

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