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Kolumnen

Gekommen und geblieben. Und nun?

Ein Beitrag von Lars Dolkemeyer

Das erste Jahrzehnt des Online-Streamings geht zu Ende. Es hat die Weisen, wie Filme und Serien geschaut und produziert werden, radikal umgepflügt. Aber was bleibt von den Wundern und Schrecken des Streamings auf dem Weg in die kommenden zehn Jahre?

Meinungen
Zeiten im Wandel: DVD-Sammlung vs. Streaming
Zeiten im Wandel: DVD-Sammlung vs. Streaming

Das Jahr neigt sich dem Ende zu und ein ganzes Jahrzehnt wird in wenigen Tagen Vergangenheit sein. Ein Umbruch, mindestens epochaler Natur, steht uns bevor. – Zumindest entsteht ein solcher Eindruck unter der Fülle großer Rückblicke, die bereits seit Wochen versuchen, aus dem Kaffeesatz der Popkultur herauszulesen, welche Serien, Filme, Alben und Bücher von unseren bunten, lauten und bewegten 2010er Jahren geblieben sein werden. Ein Umstand findet dabei kaum gesonderte Beachtung: Die „Zehner“ waren auch das Jahrzehnt, in dem Online-Streaming fundamental verändert hat, wie überhaupt Filme und Serien produziert und geschaut werden. – Was aber habe ich in den letzten zehn Jahren an meinen Sehgewohnheiten geändert? Was nehme ich davon mit, für ein neues Jahrzehnt ungeahnter Wunder und Schrecken des Streamings? Und ist das alles vielleicht gar nicht so wunderbar – aber auch gar nicht so schrecklich?

Eine Diskussion bewegte sich dabei am Rande der Rückblicke: Martin Scorsese präsentierte seinen neuen Film The Irishman, der – wie immer bei Scorsese – auf echtem Filmmaterial und so richtig für den Genuss auf der großen Leinwand gedreht wurde. Kino alter Schule. Passend zur Promo des Films gab Scorsese dabei die mittlerweile zur Genüge diskutierte und für sich genommen wenig interessante Meinung zum Besten, bei den Marvel-Filmen handele es sich übrigens nicht um echtes Kino.

Normalkino

Das Problem einer normativen Sicht auf egal welche Dinge ist erst einmal, dass eine normative Sicht auf egal welche Dinge immer ganz schön beschränkt ist und für jede Form von Diskussion einigermaßen untauglich. Mehr noch: Die Diskussion um den Status von Marvel-Filmen als Kino oder nicht Kino macht es unmöglich, über drängendere Probleme der Filme zu sprechen – wie etwa ihr hochreaktionäres Pathos. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn eingeschränkt wird, es gehe bei dem Wort „Kino“ schließlich vor allem um „Kunst“ denn bekanntlich ist die Frage, ob etwas Kunst ist oder nicht, ja ungemein produktiv.

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The Irishman (c) Netflix

Dass derjenige, der sich zum Normgeber aufschwingt, selbst verdeutlicht, wie schwierig solche Trennlinien sind, macht die Diskussion doppelt müßig. Denn auch The Irishman, von Netflix finanziert, startete nicht primär im Kino, sondern bereits mit kurzem Zeitversatz eben im Programm des Streaming-Anbieters. Dabei ist doch gerade Netflix das Böse, aus Sicht derjenigen zumindest, die in den letzten Jahren immer wieder das Kino verteidigen mussten, indem sie definierten, was Kino (oder „Kunst“) ist und was nicht. Oder ist Netflix jetzt auch Kino – und damit Kunst? Und macht Scorsese dann doch keine Kunst? Ich bin verwirrt.

Vom DVD-Regal zur bodenlosen Watchlist

Aber der Reihe nach: Angefangen hat die Misere in Deutschland im Jahr 2014 als Netflix die weltweite Expansion auch hierzulande ausweitete. Etwa zeitgleich vergrößerte Amazon das hauseigene Streaming- und On-Demand-Angebot und löste die bereits zuvor einverleibte Versand-Videothek Lovefilm ab. Einige Vorläufer und parallele Angebote wie Watchever, das nur von 2013 bis 2016 bestand, oder maxdome, das sich irgendwie tapfer hält, sowie das Programm-Angebot von MUBI, das seit 2012 das Modell eines neuen Films pro Tag anbietet, treten ebenfalls in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts so richtig auf den Markt.

Bei einem Blick in mein DVD-Regal wird dabei die wohl größte Veränderung deutlich: Für eine beginnende Filmliebe in der Provinz waren regelmäßige Flohmarktbesuche oder Online-Großbestellungen essentiell. Einen Film zu schauen, hieß immer auch, einen Film aufzutreiben und oft ungesehen zu kaufen, da die örtlichen Videotheken bereits in ihren letzten Atemzügen lagen und nicht gerade mit einem überzeugenden Programm aufwarten konnten, schon gar nicht an den Rändern des Mainstreams oder darüber hinaus. Vom Fernsehen gar nicht zu reden.

Darin liegt ein ganz eigener Zauber: Eine schöne DVD mit Booklet, ein besonders interessantes Cover einer Steelbook-Ausgabe, oder Sammelboxen wohlsortierter Klassiker für mal mehr, mal weniger kleine Preise. Das stundenlange Durchflippen der in alten Obstkisten hintereinander dicht verpackten Hüllen auf Flohmärkten und der etwas prätentiöse und hochprofessionell-kritische Blick auf die möglicherweise zerkratzte Disc sind (klar, nostalgisch-verklärte) Erinnerungen daran, was für mich Cinephilie und Filme-Schauen lange ausgemacht haben. Ohne breites Kino-Programm – schon gar nicht mit Originalfassungen oder Retrospektiven – hieß Liebe zum Film vor allem: Liebe zur DVD und zum Heimkino.

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Sind die Zeiten sorgsam gepflegter DVD-Sammlungen vorbei? (c) Isengardt via Wikimedia Commons (CC BY 3.0)

Die Expansion des DVD-Regals ist mittlerweile nahezu eingeschlafen. Die Zahl an DVDs oder Blu-rays, die ich im letzten Jahrzehnt noch gekauft habe, lässt sich an ein paar Händen abzählen. Aus der immer mehr Regalbretter einfordernden Filmsammlung ist der bodenlose Schlund einer nimmersatten Watchlist geworden, über die kein stolzer Sammlerblick mehr streifen kann. Das Filmesammeln hat sich entzaubert, entkleidet: Es ist zu einem Filmkonsumieren geworden, dessen ewiger Aufschub selbst noch Teil des Geschäftsmodells zu sein scheint, das mich um jeden Preis bei der Stange halten möchte.

Schrecken des beliebigen Vergessens

Scorseses Frage taucht wieder auf: Was heißt es dann, im Zeitalter des Online-Streamings von Cinephilie zu sprechen, von Filmen und von der Begeisterung, die damit einhergeht, sich durch die Filmgeschichte zu wühlen, auf abseitige und weniger abseitige Werke zu stoßen, die verzücken können, und immer wieder auch den Frust zu verspüren, einen Film nicht zu finden – um doch nach langer Suche oder nur durch einen teuren Import an das Objekt des Begehrens zu kommen. Vielleicht verbunden mit dem doppelten Frust, dass der Aufwand sich als vertane Mühe herausstellt, wenn der Film nicht zu überzeugen vermag, oder mit umso größerer Euphorie, wenn sich ein Meisterwerk offenbart.

Das Gefühl, sich durch die Erinnerungsschichten der eigenen Filmliebe zu wühlen, weicht einer abstrakten Zeitlosigkeit des unendlichen Aufschubs, der die Filme selbst schließlich geradezu auslöscht. Und dies auf zwei verstörende und problematische Weisen: Einerseits werden Filme (oder Serien) austauschbar und flüchtig. Ich kann „mal reinschauen“, jederzeit wieder wegschauen und Filme und Serien anprobieren, sie ohne Aufwand wieder ablegen und vergessen. Das heißt auch: Eine Haltung zu diesen Filmen zu entwickeln, wird schwieriger, handelt es sich doch nur um beliebige Inhalte, die jederzeit vom nächsten Ersatz abgelöst werden. Andererseits muss immer wieder daran erinnert werden, dass sich hinter dem Versprechen des ewigen und verfügbaren Archivs noch eine andere Facette dieser Beliebigkeit verbirgt: Es ist gerade nicht alles verfügbar und die Auswahl der großen Anbieter unterliegt einer Vielzahl nur wenig durchschaubarer Lizenzvereinbarungen und Verkaufsinteressen. Filmgeschichte, mehr noch: abseitige Filmgeschichte, braucht aber sorgfältige, vertraute und interessierte Blicke, um gegen die Beliebigkeit anzukommen.

Wunder neuer Kunst

Aber was ist nun mit der Kunst? Es wäre fatal, die verklärte Begeisterung für klamme Finger auf dem Flohmarkt oder für das unhandliche und qualitativ unbefriedigende Format der DVD als Totschlagargument ins Feld zu führen gegen all die wundervollen Seiten des Online-Streamings, die mindestens so gewichtig und wegweisend für die nächsten Jahre sein werden. Denn gibt es nicht auch bei Netflix, Amazon Prime, MUBI und all den anderen Anbietern ungeahnte und ungenutzte Möglichkeiten? Und liegt darin nicht eine eigene und neue Kunst?

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Werden DVD-Sammlungen von Mediatheken abgelöst? (c) Netflix

Es stimmt: Das Verhältnis, das ich zu meinem persönlichen Durchstreifen der Filmgeschichte und Filmgegenwart einnehme, hat sich fundamental gewandelt und dieser Wandel ist problematisch. Aber er bedeutet auch: Ich kann, wenn mich spontan die Lust dazu überkommt, ohne Umwege, innerhalb weniger Sekunden Filme schauen, für die ich noch vor wenigen Jahren einigen Aufwand hätte betreiben müssen, wenn sie mir überhaupt zugänglich gewesen wären. Mit der jüngeren Entwicklung von retrospektiv organisierten Anbietern wie La Cinetek gilt dies sogar für deutsche feministische Filme der 1970er, große Klassiker der Nouvelle Vague und einiges mehr. Das heißt nicht, dass die riesige archivarische Lücke der Streaming-Anbieter damit nun gefüllt sei, es wird aber in den nächsten Jahren eine der wichtigen Herausforderungen sein, genau diese Zugangsmöglichkeiten weiter auszubauen, auch über den mitteleuropäischen und US-amerikanischen Kanon hinaus.

Neben diesen neuen und wunderbaren Wegen, die sich mir zu Filmen eröffnen und es so leicht machen wie nie, sie unerwartet zu entdecken oder gezielt zu sehen, zeichnen sich umgekehrt auch die ersten Effekte jener Distributionsbreite ab, die erst mit dem Online-Streaming auch aufseiten der Produktion zugänglich wurde: Wäre eine queere Castingshow wie RuPaul’s Drag Race ohne Netflix in den letzten Jahren international derart einflussreich geworden? Gäbe es so unerwartet großartige Formate wie die Anti-Back-Show Nailed It!, oder so wundervoll zurückhaltende Dating-Formate wie Dating Around?

Sicher liegt die neue Kunst des Streamings nicht darin, Regisseuren wie Martin Scorsese große Summen für große Filme zur Verfügung zu stellen, die wohl tatsächlich eher ins Kino gehörten. Sicherlich wäre es nicht richtig, die große Leinwand nun für das Tablet zurückzulassen und gänzlich unkritisch auf die Programmstrukturen der Anbieter und ihre besondere Aufmerksamkeitsökonomie hereinzufallen. – Aber dass nun mehr Menschen denn je über mehr Kanäle denn je einen größeren Zugang zu Filmen haben, kann nun wirklich nichts Schlechtes sein. Gleichzeitig entwickeln sich eigene Ausdrucksformen und Formate, die neue ästhetische Wege gehen, sich das Repertoire von Fernsehen und Kino aneignen und etwas Neues daraus gestalten. Die letzten zehn Jahre haben das Feld umgepflügt. Die kommenden zehn Jahre werden erweisen müssen, ob es zum Acker verkommt, oder ob darauf bunte und üppige Früchte erblühen.

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