Havarie (2016)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

14. September 2012, 37º 28.6´N 0º3.8´E

Alte Seefahrerlegenden beschreiben einen Wahnsinn, der jeden ergreift, der zu lange auf das Meer starrt. Irgendwann wird es ihm unbewegt und zutiefst vertraut erscheinen, wie sicherer Grund. Sieht man sich Philip Scheffners dokumentarisches Essay Havarie an, stellt sich sehr bald ein ähnlicher Effekt ein.

Der Film zeigt ein kurzes, reales Ereignis. Seinen Ursprung fand er in einem gerade einmal 3 Minuten und 36 Sekunden langen YouTube-Clip von einem Flüchtlingsboot in Seenot, welches auf Hilfe wartet. Scheffner dehnt diese Schrecksekunden auf 93 Minuten, verlangsamt sie also, bis die wogende See zu einer gespenstischen blauen Wüste wird.

Das Bild ist grobkörnig, sonderlich viele Informationen enthält es nicht. Was im Originalclip eine fließende Bewegung ist, wird nunmehr zu einer chaotischen Folge von sprunghaften Zuckungen. Manchmal werden Zwischenschritte dargestellt, dann erscheint plötzlich ein zweites Boot, wie ein dunkler Begleiter. Es ist eine schwer greifbare Gemengelage visueller Informationen, die präsentiert werden; so schwer greifbar, wie auch die Flüchtlingskrise vielen erscheinen muss. Dem Filmemacher dienen die stotternden Bilder vor allem als Portal zu der Welt hinter dem Zeichen, er sucht nach den Untiefen jenseits der immer wieder ins Abstrakte abdriftenden Oberfläche.

Wenn die Unschärfe die Oberhand gewinnt und das Flüchtlingsboot auf einen nicht identifizierbaren schwarzen Fleck reduziert, wird deutlich, wie die Bilder der Krise auf uns wirken: Durch ihre permanente Präsenz werden sie irgendwann zu einer Art weißen Rauschens. Der Mensch wird, im wahrsten Sinne des Wortes, unsichtbar. Er verschwindet hinter einer Aufgabe, die ihm zugewiesen wird, von allen Seiten. Ob er als hilfloses Opfer der Umstände oder schattenhafte Bedrohung wirkt, ist dabei egal.

Um Abstand von der Illusion zu nehmen, Individuen ließen sich auf ihre Symbolkraft reduzieren, lässt Scheffner viele von ihnen zu Wort kommen. Während das Bild an einen Ort und an eine Zeit gebunden ist – den 14. September 2012, im Mittelmeer, sogar die exakten geographischen Koordinaten werden angegeben: 37º 28.6´N 0º3.8´E – wandert und springt die Tonspur unaufhörlich.

Man hört den Funkverkehr der Seerettung, die schwerfällig in Bewegung kommt. Hilfe (in Form eines Hubschraubers) ist unterwegs, doch die Trägheit, die dafür überwunden werden muss, ist fast spürbar. Die schleichende Darstellung unterstreicht diesen Effekt.

Besatzungsmitglieder beschreiben persönliche Erfahrungen mit Havarierten. In Nebensätzen werden Konflikte wie der um die Krim angedeutet. Schon in diesen Beiläufigkeiten liegt eine vorsichtige Ursachensuche. Eine Frau berichtet ihrem Mann in Algerien von ihrem neuen Leben aus Frankreich: Von den Problemen mit der Einbürgerung und der Mischung aus Angst und Sehnsucht, die sie heute für die Heimat empfindet. Eine Gruppe Männer erfreut sich an einem Schnellboot, immer wieder geht es auch um William Wallace. Die Flucht über das Meer verheißt eine große Freiheit, doch die Realität ist auf der Leinwand zu sehen. Auch der irische Tourist Terry Diamond, der das ganze Ereignis mitgefilmt hat, kommt zu Wort. Seine Schilderungen offenbaren Neugier, Faszination und Schaulust, vor allem aber das menschliche Bedürfnis nach dem Bewahren eines Moments. Nur kurz richtet er seinen Kamerablick auf das Kreuzfahrtschiff, mit dem er unterwegs ist. Als hätte er Angst, auf den Größenunterschied hinzuweisen.

Der Regisseur lässt das Gezeigte aus dem Off immer neu kommentieren, wodurch eine Art auditiver Kuleschow-Effekt eintritt. Mehrdeutigkeit triumphiert über die Sehnsucht nach klaren Verhältnissen. Schon der Titel bezieht sich nicht nur auf die dargestellte Schiffsnot. Auch Europa selbst erscheint im Umgang mit der Flüchtlingskrise wie ein trudelnder Kahn, der nicht vom Fleck zu kommen scheint. Der sich mal im wilden Wasser hin und her windet und sich immer wieder um sich selbst dreht, mal träge in der Flaute dahintreibt, in der trügerischen Ruhe vor dem Sturm. Und auch die Immigranten, wie sie in den Tonaufnahmen auftreten, scheinen zwischen zwei Kontinenten gefangen. Zwischen zwei Welten, die mehr als nur das Mittelmeer trennt.

Auch wenn Havarie einen Zustand der Unbeweglichkeit beschreibt, ist es ein Film von großer Urgenz. Scheffner arbeitet nicht mit Spannungselementen, sondern verweist anders auf den Ernst der Lage: Immer wieder mischen sich Uhren in die Klangkulisse. Auch die Aufnahme selbst entwickelt ein unaufhörliches Ticken, das Bild selbst bricht mit einem deutlichen Klicken um, als würde ein gewaltiger Countdown heruntergezählt.

Die schlussendliche Rettung selbst wird nicht gezeigt. Vielleicht, weil sie in der Realität so selten kommt. Vielleicht aber auch, weil es nach über neunzig Minuten des tatenlosen Zusehens nun beim Zuschauer liegt, endlich einzugreifen. Erst nachdem etwa ein Drittel der Spielzeit von Havarie verstrichen ist, zoomt die Kamera weit genug heraus, um einen Überblick zu geben. Im Hintergrund wird der Horizont sichtbar. Und wäre die See fester Grund, wäre spätestens dann eindeutig, wohin die Reise gehen muss.
 

Havarie (2016)

Alte Seefahrerlegenden beschreiben einen Wahnsinn, der jeden ergreift, der zu lange auf das Meer starrt. Irgendwann wird es ihm unbewegt und zutiefst vertraut erscheinen, wie sicherer Grund. Sieht man sich Philip Scheffners dokumentarisches Essay „Havarie“ an, stellt sich sehr bald ein ähnlicher Effekt ein.

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