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Deine Stimme ist nichts wert

Ein Beitrag von Rochus Wolff

Zum Internationalen Kindertag am 1. Juni: Wie thematisieren Kinderfilme Kinderrechte und deren Bruch?

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Pequeñas voces – Stille Stimmen - Bild
Pequeñas voces – Stille Stimmen - Bild

Pequeñas voces – Stille Stimmen kann anfangs einlullen mit einer gewissen Niedlichkeit. Kinder erzählen davon, wie es bei ihnen zuhause früher war: Schabernack mit den Geschwistern, das Leben auf dem Land. Wär’s nicht in spanischer Sprache, es könnte auch die Szenerie eines deutschen Kinderfilms sein: Viel heile Welt, ein paar handzahme Konflikte. Doch die Friedlichkeit am Anfang ist Konzept, dann bricht die Grausamkeit des kolumbianischen Bürgerkriegs in die Erzählungen ein. Mit Familien, die auf einmal mitten in der Kampfzone unter ihren Betten liegen, mit mörderischen Erlebnissen bei der Zwangsrekrutierung neuer „Soldaten“.

Jairo Eduardo Carrillo wählt einen quasi-dokumentarischen, nur oberflächlich einfach wirkenden Zugang auf die sehr komplizierte Frage: Wie soll man Filme machen über das Leid, welches Kindern oft widerfährt? Wie den Bruch von Kinderrechten filmisch thematisieren, wenn man es nicht rein dokumentarisch, mit erhobenem Zeigefinger und/oder nur für Erwachsene machen möchte? Oder sind das einfach kindertaugliche Geschichten über allgemeines Unrecht? Kinderrechte sind, das sollte nicht untergehen, schlicht Menschenrechte, nur präziser auf eine bestimmte, besonders verletzliche Gruppe hin interpretiert.

Pequeñas voces; Copyright: trigon
Pequeñas voces; Copyright: trigon

In Pequeñas voces kommt diese Gruppe, kommen direkt Kinder zu Wort und erzählen ihre eigenen Geschichten; das ist für einen Dokumentarfilm vermutlich auch schon der nächstliegende Zugang, auch wenn er nicht immer so gelöst werden kann (oder sollte) wie in diesem Film. Jairo Eduardo Carrillo bewegt sich darin schon mit großen Schritten in die inszenatorische Interpretation: Er trägt die Erzählungen und Zeichnungen von Kindern, 8 bis 13 Jahre alt, dokumentarisch zusammen und nutzt Zeichnungen der Kinder als Basis für die Animation, so dass er sich nie allzu weit von dem entfernt, was die Kinder berichten – aber zugleich nimmt sich die Animation große Freiheiten, bestimmen immer wieder nachträglich eingebaute Kampfgeräusche und soldatische Befehle die Tonspur.

Aber auch in der Fiktion ist die Perspektive des Kindes vermutlich die sinnvollste, um den Blick darauf zu schärfen, wie Ungerechtigkeiten, wie politische Situationen insbesondere Kinder betreffen.

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Ebenfalls aus Südamerika, aber mit einem ganz anderen erzählerischen Zugang hat das vor einigen Jahren der Brasilianer Alê Abreu mit Der Junge und die Welt versucht: Grafisch so reduziert, dass er zuweilen fast schon nicht mehr gegenständlich wirkt, erzählerisch zunächst rätselhaft – auch weil der Film ganz auf verständlich gesprochene Worte verzichtet. Und doch wird aus der Geschichte des kleinen Jungen, der seinen Vater sucht, eine große politische Parabel: Denn der Vater ist als Binnenmigrant vom Land in die Stadt gekommen, und so wird das Kind nach und nach mit allen landestypischen Auswüchsen und Formen des Kapitalismus konfrontiert, mit Ausbeutung und Militarismus, während die Bilderwelten von einfachen Strichzeichnungen hinwandert zu Collagen im Geiste John Heartfields.

Oder man nähert sich dem Thema eher aus einer Perspektive, die einem europäischen Publikum vertraut ist: Horizon Beautiful etwa zeigt einen hochrangigen und sehr arroganten Schweizer Fußballfunktionär, der nach Addis Abeba reist, um dort ein paar wirklich authentische Bilder mit sehr armen Fußballkindern machen zu lassen. Der 12-jährige Straßenjunge Admassu möchte den wichtigen Mann dazu bringen, ihn nach Europa mitzunehmen, denn er will Fußballprofi werden – und Admassu schreckt dabei vor kaum einem Trick zurück.

Horizon Beautiful; Copyright: Attraction Distribution
Horizon Beautiful; Copyright: Attraction Distribution

Horizon Beautiful ist als Projekt eine großartige Sache – Regisseur Stefan Jäger hat den Film fast ausschließlich mit Student_innen der örtlichen Filmhochschule gedreht, sein junger Hauptdarsteller ist ein Waisenkind von der Straße. Aber die Erzählung kann sich nicht ganz davon lösen, dass sie sich eigentlich mehr für die Läuterung des (sorry) weißen alten Mannes interessiert als für die wirklichen Probleme und Hintergründe von Admassus Lebenssituation.

Vielleicht ist das aber ein Problem, das schnell auftritt, wenn wir aus Westeuropa unseren Blick auf die Realität anderer Länder richten; womöglich sollten wir uns da mehr der Introspektion widmen. Denn selbst wenn – glücklicherweise – hierzulande Lebensumstände wie im kolumbianischen Bürgerkrieg nicht vorkommen, auch in Deutschland und Westeuropa werden Kinder geschlagen oder leiden unter ungerechten Lebenssituationen.

Es ist bemerkenswert, wie offen manche Filme in den 1960er und 1970er Jahren zum Beispiel mit dem Thema häuslicher Gewalt umgegangen sind – und wie wenig sichtbar das in den meisten Filmen heutzutage geworden ist. Am deutlichsten wird das, wenn man sich zum Beispiel Yves Roberts Verfilmung von Der Krieg der Knöpfe von 1962 ansieht und sie mit Christophe Barratiers Remake von 2011 vergleicht. In beiden Filmen geht es um die Rivalität der Jungenbanden aus zwei benachbarten Dörfern, diese Rivalität, die Kämpfe werden jedoch in völlig unterschiedliche Kontexte gesetzt. Robert kommentiert in seiner Verfilmung von Louis Pergauds Roman politische und gesellschaftliche Bewegungen der Nachkriegszeit, in der er den Film auch positioniert (der Roman selbst spielt vor der Jahrhundertwende). Das Thema der häuslichen Gewalt – die Hauptfigur Lebrac wird regelmäßig von seinem Vater verprügelt – wird immer wieder in den Vordergrund gerückt und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der noch frischen Kriegserfahrung als sehr problematisch inszeniert.

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Bei Barratier taucht dieses Thema zwar in reduzierter Form auch noch auf, er verlegt die Handlung allerdings in die Zeit der deutschen Besatzung und inszeniert den Kampf der Dorfjungen als Form der Selbstvergewisserung über republikanische Werte und ehrenhafte Kriegsführung. Das ist zwar ehrenhaft und alles, beraubt aber die durchaus gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Dörfern ihrer Ambivalenz, weil die Gewalt der Eltern gegen ihre Kinder als eher geringfügiges Problem erscheint. Gepaart mit der durch Farben und Musik romantisch eingekleisterten Welt – früher war mehr Natur! – macht der Film sich eine doch allzu heile Welt zurecht – nur die Nazis sind da böse.

Deutschland kann diese Verschiebung übrigens auch: Wolfgang Beckers Fernsehfilm Vorstadtkrokodile (nach dem Buch von Max von der Grün) thematisiert Gewalt in der Familie – auch hier schlägt ein Vater seine Söhne – sehr explizit, beleuchtet aber auch ambivalent, wie die Kinder damit umgehen; im Remake von 2009 werden die Schläge zwar auch noch thematisiert, dienen aber als relativ schlichte Formel, die das Handeln eines Antagonisten der titelgebenden Bande erklären soll.

Vorstadtkrokodile; Copyright: Constantin Film
Vorstadtkrokodile; Copyright: Constantin Film

Vielleicht sind es nur diese auffälligen Remakes, in denen häusliche Gewalt zwar noch vorkommt, aber nicht mehr explizit thematisiert wird; vielleicht trauen sich aber wirklich nur noch wenige Filme, Gewalt gegen Kinder zu thematisieren, ohne einfache Lösungen anzubieten (so wie das etwa – nicht unbedingt ein Thema, das man in einer primär an Mädchen gerichteten Filmreihe erwartet – Die wilden Hühner tut). Stattdessen sehen wir zumindest in den größer produzierten Kinderfilmen meist harmonische Familien in aufgeräumten Küchen sitzen.

Oder halten wir es einfach schlechter aus als früher, dabei zuzusehen, wenn Kinder geschlagen werden? Es ist gelegentlich kaum erträglich wie die zwei Brüder in Bekas — Das Abenteuer von zwei Superhelden behandelt werden – und auch, wie viel sie sich gegenseitig schlagen. Der Irak der 1990er Jahre ist dann halt eben doch nicht das Gleiche wie Westeuropa im frühen 21. Jahrhundert.

Oder blenden wir die Wahrheiten nur aus? Deine Schönheit ist nichts wert erzählt von ganz anderen Gewalten: Da sind die Eltern ihren Kindern zugetan, aber Migration hat ihren Preis gekostet: Der große Bruder des 12-jährigen Protagonisten Veysel will mit seinem Vater nichts mehr zu tun haben, weil der seine Heimat Türkei verlassen und verraten habe; aber in Wien will man ihn vielleicht auch nicht haben, und womöglich auch Ana nicht, die in seine Klasse geht und die anzusprechen Veysel sich nicht traut.

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Hüseyin Tabak erzählt in dem Film von vielen Problemen, von Integration und Separation, Sprachhürden, Sehnsucht und Verzweiflung – und ist schon allein damit unendlich viel komplexer als Bibi & Tina – Tohuwabohu Total, in dem das Thema „Migration“ und „Flüchtlinge“ gnadenlos simplifiziert abgehakt wird, ein weiterer Punkt auf dem Weg zur schlichten heilen Welt.

Vor allem aber erzählt Deine Schönheit ist nichts wert auch von Gewalt – keiner körperlichen, keiner in der Familie, sondern staatlicher Gewalt. Die Familien aus ihrem Umfeld reißt, Freunde trennt, Kinder ratlos mitnimmt oder zurücklässt. Tabak zeigt das, bietet aber keine Lösung an – wie sollte sich sein Veysel auch erfolgreich gegen diese Mächte stellen? Ein Happy End gibt es allenfalls in seinem Kopf, in seinen Träumen.

Die Gewalt, die Rechtlosigkeit, das Ausgeliefertsein, das Pequeñas voces – Stille Stimmen so kraftvoll und beängstigend mit den Stimmen kolumbianischer Kinder erzählt, hallt in Tabaks Geschichte nach. Selbst wenn bei uns Kinder nicht getötet, erschossen, gefoltert würden (und das gibt es bei uns in Europa natürlich leider auch immer wieder), auch hier werden Kinder oft genug behandelt, ohne dass sie angehört, ohne dass ihre Rechte, Wünsche und Geschichten geachtet und gehört werden. Um das zu ändern, was gäbe es Besseres als Geschichten, die das Kino erzählt?

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