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Kolumnen

More Drama, please!

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Für das Film-Melodram gibt es zahlreiche, meist abschätzige Bezeichnungen: Schmacht- und Gemütsfetzen, Schnulze, Rührstück, Schmonzette, Tränendrücker, weepie und chick flick – wobei letztere die sexistische Annahme nahelegt, dass Frauen grundsätzlich gefühlsbetont sind und Männer grundsätzlich nicht; ich bin mir nicht sicher, welches Geschlecht ich dabei stärker diskriminiert sehe.

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Julieta
Bild aus "Julieta"

Über die Filme von Douglas Sirk – des Melodramen-Machers par excellence – schrieb Rainer Werner Fassbinder einmal, unter ihnen seien „die schönsten der Welt“ gewesen. Um die Schönheit, Violenz und Unverzichtbarkeit des melodramatischen Exzesses soll es in dieser Kolumne gehen.

Neben Sirk und Fassbinder, die mit wuchtigen Werken wie Was der Himmel erlaubt (1955) oder Solange es Menschen gibt (1959) beziehungsweise Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972) oder Angst essen Seele auf (1974) demonstriert haben, was Gefühlskino zu leisten vermag, zählt der Spanier Pedro Almodóvar dank Filmen wie Das Gesetz der Begierde (1987), La mala educación (2004) oder Volver (2006) zu den Meistern des melodramatischen Fachs. Seine Schöpfung Julieta wurde indes von Teilen der Kritik als „tame“ (zahm), „unsatisfying“ (unbefriedigend) oder gar „gescheitert“ empfunden.

Die queere Anarchie des Almodóvar-Œuvres lässt Julieta tatsächlich weitgehend vermissen; dennoch verfügt die Inszenierung über ein wesentliches Merkmal des Melodrams: das Ausdrucksbild. So fangen Almodóvar und sein Kameramann Jean-Claude Larrieu das Gesicht der Hauptdarstellerin Adriana Ugarte etwa an einer Stelle des Films in Großaufnahme ein, während die von Ugarte verkörperte Figur trauernd in der Badewanne liegt. Dieses Gesicht erzählt eine Geschichte von Liebe und Leid und funktioniert sowohl im Kontext der Szene als auch losgelöst davon. Bevor das Medium Film sprechen lernte, waren ausdrucksstarke close-ups (zum Beispiel von Maria Falconetti in Carl Theodor Dreyers Die Passion der Jungfrau von Orléans aus dem Jahre 1928) unerlässlich; im heutigen Kino findet man sie viel zu selten – ebenso wie ausladende Gesten und exzessive emotionale Äußerungen.

Auf der Leinwand gefunden habe ich diese Hingabe an das Gefühl in den vergangenen Jahren etwa in den glühenden Blicken von Cate Blanchett und Rooney Mara in Todd Haynes‘ Carol, in dem sehnsüchtigen Antlitz von Saoirse Ronan in John Crowleys Brooklyn, in den Tränen von Alicia Vikander und Michael Fassbender in Derek Cianfrances The Light Between Oceans, in dem Gram von Pierre Niney und dem Wieder-Aufblühen von Paula Beer in François Ozons Frantz oder in den Verzweiflungsgesten von Ewan McGregor und Jennifer Connelly sowie den traurigen Augen von Dakota Fanning in McGregors Amerikanisches Idyll. Bei all diesen Werken handelt es sich um Filme, deren Geschichten in den 1910er bis 1960er Jahren spielen – also in Zeiten, in denen die Melodramatik im Kino noch deutlich präsenter war und somit als konsequenter Teil dieser Zeitdarstellung erscheinen mag.

Frantz
Bild aus Frantz von François Ozon; Copyright: Warner Bros./X-Verleih

 

Ich wünsche mir die Melodramatik jedoch auch in aktuellen Filmen, die in der Gegenwart angesiedelt sind. Wie universell die Mittel des Melodrams sind, bewies Ang Lee im Jahre 1994 in der taiwanisch-US-amerikanischen Koproduktion Eat Drink Man Woman. Und dass nicht zwingend eine ausgefeilte Bildkomposition sowie Licht- und Farbdramaturgie wie in den Sirk-Klassikern erforderlich sind, um ein großes und großartiges Melodram zu erzeugen, zeigte Jonathan Demme 2008 in seinem als Home Video präsentierten Werk Rachels Hochzeit. An (vergleichsweise) aktuellen Filmen mit zeitgenössischer Handlung, die es wagen, das Melodramatische auszuspielen, fallen mir David Cronenbergs Maps to the Stars mit den passionierten Darbietungen von Julianne Moore und Olivia Williams sowie Olivier Assayas‘ Personal Shopper mit der grandiosen Schlussaufnahme von Kristen Stewarts Gesicht ein.

An der Melodramatik älterer Arbeiten ist interessant, dass sie oft gerade in den Werken, die damals Erfolge waren und immer noch als Kultfilme gelten, nicht mehr so recht funktionieren will. Die Gesten in Victor Flemings Vom Winde verweht (1939) wirken (heute) zu kalkuliert, um zu berühren. Die Melodramatik in Michael Curtiz‘ Casablanca (1942) ist, bei aller Liebe für die politisch couragierte Produktion, nicht nur eine Gender-, sondern auch eine Kitsch-Katastrophe – wenn Ingrid Bergman etwa zu Humphrey Bogart „You have to think for both of us“ sagt oder aufgewühlt fragt: „Was that cannon fire, or is it my heart pounding?“

Aufregend und erfrischend ist das Melodramatische indes in Filmen, in denen es schon in der Vergangenheit zu irritieren vermochte – zum Beispiel in John Hustons Spiegelbild im goldenen Auge (1967) mit Elizabeth Taylor und Marlon Brando. In den Szenen, in denen Brando in seinem Part als sexuell besessener Major die Tränen über die Wangen laufen, habe das Publikum gelacht, merkt der Filmkritiker Roger Ebert in seiner Besprechung an – und kommt zu dem rigorosen Schluss: „The audience should have been taken outside and shot.“ Tatsächlich verursacht der Gefühlsexzess hier Gänsehaut; man ist (wie Fassbinder es über Sirks Werke schrieb) auf den Spuren der Verzweiflung dieser Figuren – und das ist eine keineswegs angenehme, aber lohnende Erfahrung (und wäre nur dann problematisch oder vielleicht ein Fall für die Camp-Rezeption, wenn das Ganze ins Exploitative abdriften würde, wie es etwa bei Frank Perrys Joan-Crawford-Biopic Meine liebe Rabenmutter aus dem Jahre 1981 passiert).

Auch in heutigen Filmen, die mit hemmungsloser Melodramatik operieren, lassen sich Publikumsreaktionen wie die von Ebert geschilderte beobachten. Bei der Vorführung von Amerikanisches Idyll beim Festival de cine de San Sebastián wurde etwa erstaunlich häufig gekichert, während sich McGregor und Fanning in einer emotionalen Vater-Tochter-Begegnung auf der Leinwand die Seele aus dem Leib spielten. Auf Xavier Dolans neue Schöpfung Einfach das Ende der Welt reagierten viele Journalist_innen mit Ablehnung; das Werk sei schwer zu ertragen und bereite Kopfschmerzen. Ich würde allerdings behaupten, dass ein Film, der von einem anstrengenden Familientreffen erzählt, genau dort angekommen ist, wo er ankommen sollte, wenn wir ihn als beinahe unerträglich und schmerzhaft wahrnehmen. Dolan zeigt uns das, was Kate Bush einst in ihrem Lied Running Up That Hill besang: „so much hate for the ones we love“. Wenn der Hass auf die, die wir lieben, herausgeschrien und durch den Raum geschleudert wird und der emotionale Haushalt aller Familienmitglieder ein totales Chaos ist, ist das allerhöchstens in Zach-Braff-Dramödien schön anzusehen – niemals jedoch im Leben und niemals in Filmen, die das Drama ihrer Figuren wirklich ernst nehmen.

Einfach das Ende der Welt
Bild aus Einfach das Ende der Welt von Xavier Dolan; Copyright: Weltkino Filmverleih

 

Äußerst belebend wäre es gewiss auch, wenn das Horrorkino die Melodramatik für sich (wieder-)entdecken würde. Eindeutig nicht gemeint ist damit der Erbauungskitsch, den neuere Genre-Vertreter wie James Wans Conjuring und Conjuring 2 dem Publikum vorsetzen. Wenn das Finale des zweiten Teils mit der Exklamation „I need my bible!“ beginnt, ehe der Dämon (der als profaner Außenseiter gezeichnet wird und selbstredend für sämtliches Übel verantwortlich ist) zurück in die Hölle geschickt wird, sodass es unter den zuversichtlichen Blicken aller Beteiligten zur glücklich-familiären Zusammenführung kommen kann, dann ist das keine befreiende Melodramatik, sondern nichts anderes als kinematografische Missionierungsarbeit.

Was ich meine, ist vielmehr so etwas wie das Delirium von Piper Laurie als fanatische Mutter in Brian De Palmas Carrie (1976), das bei aller Übertreibung in dem grotesken Kosmos, den De Palma in seiner Stephen-King-Adaption entwirft, ganz wunderbar funktioniert. Oder das plastisch-drastische Coming-out, das Mark Patton als sensibler Teenager im zweiten Teil der A-Nightmare-on-Elm-Street-Reihe (1985) erfährt. Oder auch die absurde, zu großen Gesten des Wahnsinns einladende Tour de Force, durch die Andrzej Żuławski seine beiden Stars Isabelle Adjani und Sam Neill im unvergleichlichen Possession (1981) jagt. Etwas annähernd Wuchtiges bot in den letzten Jahren womöglich nur Julianne Moore in der Mutterrolle in Kimberly Peirces Carrie-Neuverfilmung, in welcher sie in ebenfalls hochtourigem, jedoch zugleich subtilerem Spiel als ihre Vorgängerin eine Frau verkörpert, die an ihrem Weltekel zugrunde geht. Auch in David F. Sandbergs Angst-vor-der-Dunkelheit-Grusler Lights Out findet sich (neben etlichen müden Schocks) dank der Darstellung von Maria Bello eine angemessene Dosis Drama. Der physische und psychische Exzess von Werken wie Possession bleibt im Horror-Bereich aber leider seit langer Zeit unerreicht.

Possession
Bild aus Possession von Andrzej Żuławski; Copyright: ARD/1981 Oliane Productions

 

Wenn man sich nun fragt, wo die melodramatischen Gesten in der Kunst eigentlich geblieben sind, dürfte man rasch bei der (Rock- und Pop-)Musik landen – was angesichts der Herkunft des Wortes „Melodram(a)“ (griechisch mélos = Lied/Gesang, drãma = Handlung/Geschehen) wohl kaum verwundert. Wer einmal Brian Molko, Robyn oder Beyoncé Knowles auf der Bühne erleben durfte oder die drei (sowie viele andere populäre Musiker_innen) in ihren jeweiligen Musikvideos betrachtet, wird erkennen, dass ausladend-dramatische Gesten sehr wahrhaftig sein können. In dem 65-Minüter Lemonade, welcher alle Songs sowie alle dazugehörigen Videos des gleichnamigen Studioalbums von Knowles beinhaltet, stecken mehr Zorn, Trauer und Stärke, mehr Fuck-off- und Wonnemomente als in sämtlichen Leinwandauftritten der US-Amerikanerin. Im Kino war Knowles bisher in erster Linie in albernen Komödien (Austin Powers in Goldständer, Der rosarote Panther), solider Musical-Unterhaltung (Dreamgirls) und einem öden Thriller (Obsessed) zu sehen; das Drama und die Verve waren bis jetzt stets ihrer musikalischen Karriere vorbehalten.

Auch an anderer Stelle lässt sich die Melodramatik, die ich im Lichtspielhaus so schmerzlich vermisse, mitten im klanglichen Mainstream aufspüren: „I’ve got a hundred million reasons to walk away / But baby, I just need one good one to stay“, singt Lady Gaga in ihrem Lied Million Reasons. Ich wünsche mir, dass gute Schauspieler_innen in kraftvoll bebilderten Filmen (also keine Telenovela-Darsteller_innen in billigen Fernsehkulissen) solche Sätze in ihren Rollen zueinander sagen – und die Figuren das bitte verdammt ernst meinen. Außerdem wünsche ich mir eine damit einhergehende Kühnheit in den Geschlechterrollen, wie sie die Lady etwa in ihrem Song G.U.Y. hören und fühlen lässt. Während das Kino in puncto Melodramatik immer zurückhaltender wird, traut sich die (Pop-)Musik wenigstens noch was; wenn Katy Perry ihren trotzig getexteten, feierlich interpretierten und von einem bewusst pathetisch inszenierten Video begleiteten Song Rise mit der Zeile „I won’t just survive“ einleitet, versucht sie damit gar, den Empowerment-Überklassiker I Will Survive von Gloria Gaynor zu übertrumpfen. Wo bleibt dieser Mut, diese Beherzt- und Unverschämtheit (im besten Sinne) denn in den Bewegtbildern des Kinos?

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(Musikvideo zu Rise von Katy Perry)

Natürlich muss es jetzt und für alle Zeit Filme geben, die einen durch und durch realistischen Blick auf unser Leben werfen. Aber in manchen Fällen möchte ich den Filmemacher_innen dieser Welt doch raten: Macht ein enthemmtes D-R-A-M-A-! draus.

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