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9/11 - Wie das Kino ein kollektives Trauma verarbeitet

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Kaum ein weltpolitisches Ereignis hat die Filmwelt so schnell und radikal verändert wie die Anschläge vom 11. September 2001. Wo stehen wir zwanzig Jahre später?

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"9/11" von Martin Guigui
"9/11" von Martin Guigui

9/11 ist im September 2021 zwanzig Jahre her. Inzwischen gibt es eine ganze Generation, für die diese Ereignisse vor allem  ein weit entferntes, abstraktes Kapitel der zunehmend unüberschaubaren Weltgeschichte bedeutet. Für die meisten hingegen, die sich bewusst an 9/11 erinnern können, fühlt es sich an, als sei es gestern gewesen. Diese Katastrophe, die für eine gewisse Zeit sogar das Kino obsolet erscheinen ließ. Die Bilder, die sie produzierte, live übertragen und schließlich in Endlosschleife wiederholt, während die Welt in Schockstarre auf die Bildschirme schaute, übertrafen in ihrem Horror jeden visuellen Effekt.

Wohl kein Ereignis hat auf globaler Ebene die Medienwelt schneller, radikaler, tiefgreifender verändert als der 11. September 2001. Das große Katastrophenkino der 1990er Jahre mit Filmen wie Independence Day oder Armageddon, das ohne zu Zögern komplette Metropolen zum Einsturz brachte, wurde mit dieser Zeitenwende erst einmal Geschichte. Auch für Filmbösewichte, die zuvor oftmals noch der Dichotomie des Kalten Krieges entsprachen, mit Gegenspielern aus Russland und Osteuropa, brach eine neue Ära an. Wenn sich im Zuge von 9/11 etwas einstellte, dann die so unverrückbare wie beunruhigende Gewissheit, dass die Welt nie wieder die Alte sein würde.

Von diesem kollektiven Trauma haben wir — nicht nur die USA — uns noch immer nicht wirklich erholt. Von der Medienproduktion der vergangenen zwei Dekaden ist das deutlich abzulesen. Filme haben uns geholfen zu verdrängen, zu hadern, Formen von Rache im Kopf durchzuspielen, Schritt für Schritt zu verarbeiten. Vielleicht kann ein Modell aus der Psychologie dabei helfen, diese Prozesse besser zu verstehen: Die vier Phasen der Trauerbewältigung.

 

Die erste Phase der Trauer: Verdrängung

Die erste Phase der Trauer beginnt unmittelbar nach dem Ereignis, nicht selten mit einem Schock. Oft wollen die Menschen die Katastrophe zunächst nicht wahrhaben, etwa den Tod eines geliebten Menschen, sie leugnen oder verdrängen. Von Verdrängung war auch die erste Phase des Hollywoodkinos nach den Anschlägen vom 11. September geprägt.

Zunächst gab es nämlich statt Aktion vornehmlich Reaktion: Fernsehproduktionen, die in New York City angesiedelt waren, schnitten das World Trade Center aus ihren Vorspännen: Die Sopranos, Sex and the City, The Late Show With David Letterman. Im Laufe des Jahres wurden ganze Szenen aus Filmen geschnitten, in denen das WTC hatte auftauchen sollen: Zoolander, The Time Machine, Men in Black II. Noch im Original Teaser zu Spider-Man war ein Hubschrauber zu sehen, der sich in einem zwischen den Zwillingstürmen gespannten Spinnennetz verfängt. Als der Film Anfang Mai 2002 in die Kinos kam, war die Szene entfernt worden.

Selbst einzelne Episoden von Kinderserien, die große Zerstörung zeigten und so womöglich entfernt an die Anschläge erinnern konnten, strich man aus dem Programm. Etwa eine Folge aus der ersten Staffel der Animeserie Pokémon, in der Tentacha und Tentoxa eine Hafenstadt angreifen. Die wahrscheinlich aufwändigsten Änderungen wurden aber am Zeichentrickfilm Lilo & Stitch von Disney vorgenommen. Das Finale des Films sollte ursprünglich eine Bruchlandung zeigen, bei der eine Boeing 747 haarscharf durch Hochhausschluchten rast. In der finalen Version wurden daraus ein außerirdisches Flugschiff und hawaiianische Berglandschaften.

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Es war, als sei jede größere Dimension von Zerstörung, auch nur jeglicher Anblick des World Trade Centers eine zu schmerzliche Erinnerung, oder im heutigen Internet-Sprech: too soon. Bezeichnend auch die Franchises, die in den Folgejahren das große Geld einspielten. Fantasyreihen wie Harry Potter, Der Herr der Ringe oder die filmgewordene Disney-Attraktion Fluch der Karibik, die ernsthafte Themen mit einem gebührenden Sicherheitsabstand zur Realität verhandelten.

Nach dieser Phase des Schweigens wirkte es wie ein Befreiungsschlag, als im Dezember 2002 endlich Martin Scorseses Gangs of New York in die Kinos kam, dessen wiederholte Verschiebungen dem durch 9/11 entstandenen Chaos zugeschrieben wurden. Der ganze Film eine Liebeserklärung an New York und seine Bewohner — und da stehen sie in der letzten Einstellung stolz und erhaben: Die Zwillingstürme. Scorsese hatte lange überlegt, ob er sie aus dem Film schneiden sollte und entschied sich in letzter Konsequenz dagegen: „This movie it’s about the people who built New York, not those who tried to destroy it.“

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Die zweite Phase der Trauer: Aufbrechende Emotionen

In der zweiten Phase der Trauer stellen sich typischerweise heftige emotionale Reaktionen ein: Schuldgefühle, Wut, Zorn, Aktionismus. So muss es einigen Drehbuchautoren in Hollywood gegangen sein, die versuchten ihre Gefühle in Bezug auf 9/11 unmittelbar umzusetzen. Einen dieser Schnellschüsse landete die damals hochgelobte Serie The West Wing, die einen liberalen Gegenentwurf zur Bush-Regierung in Washington imaginierte. Die Episode Isaac and Ishmael wurde innerhalb von zwei Wochen nach den Anschlägen geschrieben, abgedreht und am 3. Oktober 2001 ausgestrahlt. Darin bleibt eine Highschool-Klasse wegen einer Terrorwarnung in der Kantine des Weißen Hauses stecken und erhält von Deputy Chief of Staff Josh Lyman eine Lektion über die Unterschiede zwischen dem Islam und islamischen Fundamentalisten. Eine ähnlich unmittelbare Reaktion gab es in der South-Park-Episode Osama bin Laden has Farty Pants, die am 7. November 2001 ausgestrahlt wurde und Osama bin Laden als minderbemittelten und letztlich ziemlich harmlosen Dummkopf darstellte.

Die erste Welle an Filmen, die sich mehr oder weniger direkt mit 9/11 und seinen Konsequenzen auseinandersetzten, erreichte die Kinos etwa ab 2005 und bildeten eine Filmographie, die Peter Bradshaw im Guardian als liberal fence-sitters bezeichnet: Filme mit meist großem Ensemble und Locations auf der ganzen Welt, die ein kritisches Bewusstsein für den war on terror formulieren ohne dabei wirklich einen Bruch mit der politischen Linie der Bush-Regierung zu riskieren: Syriana von Stephen Gaghan, Ein mutiger Weg von Michael Winterbottom, Machtlos von Gavin Hood, Von Löwen und Lämmern von Robert Redford.

"Ground Zero " von Spike Lee; Buena Vista International
Ground Zero in „25 Stunden“ von Spike Lee; Buena Vista International

Seiner Zeit weit voraus war wie so oft nur Spike Lee: Im September 2001 plante er bereits seinen Film 25 Stunden über den letzten freien Tag eines Mannes (Edward Norton), der wegen Drogenhandels für sieben Jahre ins Gefängnis geht. Als die Anschläge passierten, beschloss Lee bewusst sie nicht zu ignorieren, sondern in seine Geschichte zu integrieren. Sie werden bei ihm nie zu einem zentralen Plotpoint, sondern gehören im Film schlicht zu einer neuen New Yorker Realität, unmöglich zu ignorieren, unmöglich wegzusehen. Dafür wurde 25 Stunden später mit Klassikern des italienischen Neorealismus wie Roberto Rossellinis Rom, offene Stadt verglichen.

 

Die dritte Phase der Trauer: Auseinandersetzung

Die dritte Phase der Trauer beginnt, wenn die Betroffenen sich mit dem Erlebten oder Verlorenen auseinandersetzen, sich aktiv erinnern, reflektieren und beginnen Abschied zu nehmen. In den USA entstanden erste Dokumentarfilme über 9/11 und die Folgen, darunter Michael Moores Fahrenheit 9/11 oder Standard Operating Procedure von Errol Morris, der auf beklemmende Art und Weise die Folter in Abu Ghraib thematisiert. Vereinzelt nahmen sich auch Spielfilme der konkreten Ereignisse an, was in Hollywood allerdings bis heute eher die Ausnahme geblieben ist. Während Paul Greengrass‘ Flug 93 über den Passagieraufstand in einem der entführten Flugzeuge versucht in die Köpfe der Attentäter zu schauen, erntete vor allem Oliver Stones World Trade Center über drei in Ground Zero eingeschlossene Feuerwehrmänner verheerende Reaktionen. Noch einmal Peter Bradshaw im Guardian: „In my view, no single film-maker suffered more of a reputation loss after 9/11 as Oliver Stone.“

Den vielleicht größten Karriereschub erhielt hingegen Kathryn Bigelow. Für The Hurt Locker, ihren Film über ein Explosive Ordnance Disposal Team im Irak erhielt sie 2010 als erste Frau den Oscar für die Beste Regie. 2012 folgte Zero Dark Thirty, ein Dokudrama über die Jagd nach Osama bin Laden. Zwei Filme, die ihre Themen schon wesentlich ambivalenter angehen als die sogenannten liberal fence-sitters. Der Krieg ist hier ein missliches, aber notwendiges Übel und vor allem letzterer Film wurde zu einem heiß diskutierten Punkt in der US-amerikanischen Debatte über Folter.

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Schon im Jahr 2005 hingegen erschien ein Film, der zunächst recht verhalten aufgenommen wurde — mittlerweile gilt er als einer der kraftvollsten Post-9/11-Filme, als die erste große Parabel auf die Katastrophe. Sein Ansehen scheint jedes Jahr zu steigen, selbst Cahiers du Cinéma wählte ihn inzwischen in ihre Top 10 der besten Filme der 2000er Jahre. H.G. Wells‘ Science-Fiction-Roman Krieg der Welten war ursprünglich als Satire auf die Kolonialpolitik des Empires angelegt. In den 1950er Jahren eignete er sich als Kommentar auf die globale Bedrohung durch die Atombombe. Dazu Steven Spielberg: „Every iteration of War of the Worlds has occurred in times of uncertainty. We live under a veil of fear that we didn’t live under before 9/11. There has been a conscious emotional shift in this country.“

2005 realisierte Spielberg Krieg der Welten mit Tom Cruise gegen seinen Typ besetzt als Kranführer aus Brooklyn, der versucht sich und seine Kinder lebend durch die Alien-Invasion zu manövrieren. Die Parallelen sind offensichtlich: Von den in New York beginnenden Angriffen, bei denen die Kampfmaschinen der Aliens wie Terroristen Menschen pulverisieren, über die Ascheregen in den Straßen bis hin zur teils wackelig-hyperrealistischen Handkamera-Optik, die an das Material der Augenzeugen erinnert, das nach 9/11 im Fernsehen omnipräsent war.

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Die vierte Phase der Trauer: Ein neuer Blick auf die Welt

Es gibt dafür weder eine Garantie, noch ein Rezept, aber nach einer gewissen Zeit ist im Trauerprozess für gewöhnlich die letzte Phase erreicht: Der Betroffene beginnt seinen Verlust zu akzeptieren, seinen inneren Frieden wiederzufinden. Er schaut in die Zukunft, findet seinen neuen Platz in der Welt. Haben wir diesen Punkt in Bezug auf das Trauma vom 11. September 2001 erreicht? Unklar. 

Sicher ist auf jeden Fall, dass das Kino inzwischen nicht mehr auf große Zerstörungsorgien verzichtet. Über die Jahre haben sich die Superheldenfilme von DC und Marvel im ständigen Kampf um die Gunst des Publikums in immer bombastischere Materialschlachten hineingesteigert. Filme wie Man of Steel oder Batman v Superman: Dawn of Justice lassen sich sogar als ganz konkrete 9/11-Referenzen lesen, die die Anspielungen aus Krieg der Welten im Nachhinein subtil erscheinen lassen (Emily VanDerWerff hat die Wandlung des Superheldengenres Post-9/11 für Vox.com sehr ausführlich aufgeschlüsselt). Dazu addiere man den building count von Franchises wie Transformers, Pacific Rim, Godzilla und Co und kaum ein Stein bleibt mehr auf dem Anderen. Die meisten von uns können diesen Szenen im Kino wohl beiwohnen, ohne sich dabei allzu schmerzhaft an den 11. September erinnert zu fühlen. Aber aus unserer kollektiven Psyche sind die Bilder der Anschläge nicht mehr zu streichen, als Subtext schwingen sie immer mit. Vielleicht ist das ein Grund, wieso wir Szenen großer Zerstörung sogar sehen wollen. Weil sie uns auf einem gewissen, mehr oder weniger bewussten Level die Möglichkeit geben die Katastrophe wieder und wieder zu durchleben und letztlich so etwas wie einen Sinn in ihr zu finden.

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Dass wir mit dem ganzen Thema natürlich nach wie vor nicht abgeschlossen haben, zeigt aber auch eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen, die zum 20. Jahrestag von 9/11 entstanden sind. Da wäre etwa die PBS-Doku America After 9/11, die Linien von 2001 bis zum Capitol Riot im Januar diesen Jahres zieht. Die fünfteilige Netflix-Dokuserie Turning Point, die einen umfassenden Blick auf den geschichtlichen Ablauf der Anschläge gewährt. Liz Mermins Zweiteiler Generation 9/11 über das Leben junger US-Amerikaner, deren Väter bei den Anschlägen ums Leben gekommen waren oder Die Klasse von 9/11 — 20 Jahre danach über jene Kinder, vor deren Augen Präsident George W. Bush am 11. September 2001 die Nachricht vom Terroranschlag erhielt. Beide Filme sind derzeit in der Arte Mediathek zu sehen.

Und — einmal mehr — Spike Lee. In seiner vierteiligen Dokuserie NYC Epicenters: 9/11 → 2021 ½ spricht er mit Stars aus New York ebenso wie mit First Respondern, mit Politikern ebenso wie mit seinen eigenen Familienmitgliedern. Dabei entsteht das Panorama einer resilienten Metropole — im Angesicht terroristischer Anschläge ebenso wie im Kampf mit einem unsichtbaren Virus und im Protest gegen systemischen Rassismus und Polizeigewalt.

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