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Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin - Der Filmemacher Thomas Brasch

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Vor zwanzig Jahren starb Thomas Brasch in Berlin. Andreas Kleinert erinnert sich in seinem Biopic „Lieber Thomas“ an den Autoren, Lyriker, Übersetzer, Dissidenten, Aufrührer — und nicht zuletzt: Filmemacher.

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Bild aus Lieber Thomas

„Die Kriminalität ist der urwüchsigste Ausdruck der Auflehnung,“ sagte Thomas Brasch 1981 auf der Bühne, auf der er den Bayerischen Filmpreis entgegennahm und und ein aufgebrachtes Raunen und Murmeln ging durchs Publikum. Dann dankte er der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung und den Verhältnissen für ihre Widersprüche und hinterher sah sich Franz Josef Strauß bemüßigt, ihm noch ein zugegebenermaßen recht schmissiges Bonmot hinterherzupfeffern: „Und Herr Brasch, ich danke Ihnen, dass Sie sich als lebendiges Demonstrationsobjekt der Liberalitas Bavariae hier vorgestellt haben.“

Was heute ein obskurer Clip auf YouTube ist, war Anfang der 1980er Jahre ein handfestes Eklat. Und sicher in zugespitzter Form auch einer der Gründe, wieso Thomas Brasch in der nicht eben kurzen Linie großer deutscher Kulturschaffender lange Zeit nicht sonderlich präsent war. Unbequem, schwer einzuordnen. In der DDR war er der Aufrührer, der Schwierigkeiten hatte, seine Texte zu publizieren und schließlich in den Westen ausreiste. In der BRD weigerte er sich steif und fest, sich als lebendiges Demonstrationsobjekt gegen den Sozialismus vereinnahmen zu lassen. „Die Welt wird dich lieben, Thomas“, sagte Katharina Thalbach (Jella Haase) in Lieber Thomas, doch ihn liebt immer nur, wem er nicht auf die Füße tritt.

Doch langsam ist die Zeit reif für Thomas Brasch. Seit 2015 initiiert seine Schwester, die Autorin Marion Brasch, die Veranstaltungsreihe Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin — Ein Abend für Thomas Brasch, 2018 brachte die Regisseurin Annekatrin Hendel den Dokumentarfilm Familie Brasch in die Kinos, der das öffentliche Bild der Familie als die „Buddenbrooks des Ostens“ zementierte. Suhrkamp legte die Gedichte und Braschs wohl bekanntesten Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne neu auf. Und nun Lieber Thomas, ein Biopic von Andreas Kleinert (Freischwimmer) – mit Albrecht Schuch in der Hauptrolle, an dem es im Moment ohnehin kein Vorbeikommen gibt.

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Zumeist allerdings erinnert man sich bei Thomas Brasch an den Schriftsteller. An den Lyriker, den Stückeschreiber, den Shakespeare-Übersetzer. Dabei war Brasch auch Filmemacher. Von 1981 bis 1988 realisierte er vier Spielfilme, jeweils mit einer sehr distinkten Bildsprache, einem zwar getriebenen, aber darin doch außergewöhnlich klarem Blick auf die Welt.
 

„Domino“ — oder: Einer, der immer nur macht was er will


Lieber Thomas beginnt in einem düster dräuenden Gemäuer irgendwo im Nirgendwo. Die Erwachsenen sind uniformierte Gesichtslose und wer von den Jungs tagsüber Schwäche zeigt, dem wird nachts von den anderen ins Gesicht gepisst. Dazwischen schieben sich unvermittelt authentische Aufnahmen von unbeschwerten Pionierlagern, von Demonstrationen und den Aufständen in Prag. Die hektische Montage in diesen Collagensequenzen deutet schon an, dass wir es bei Thomas ganz mit einem Kind dieser Zeit zu tun haben, hin- und hergerissen zwischen seinen vielversprechenden Idealen und der Tristesse der Wirklichkeit.

Ab seinem elften Lebensjahr besuchte Thomas Brasch eine Kadettenschule der NVA. Der Vater Horst Brasch baute eine Karriere auf, auf deren Höhepunkt er das Amt des stellvertretenden Ministers für Kultur der DDR innehatte. Die Mutter Gerda Brasch stammte aus Österreich, arbeitete als Journalistin und veröffentlichte schon im Kindesalter die ersten Gedichte ihres Sohnes in einer Cottbusser Lokalzeitung. Andreas Kleinerts Biopic springt durch diese frühen Lebensstationen – die Studienzeit, der gemeinsame Sohn mit Bettina Wegner, die Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR 1968, die ihm einen Aufenthalt im Gefängnis und als Erziehungsmaßnahme eine Arbeit als Fräser im Berliner Transformatorenwerk Oberspree einbrachten. Doch eine rein chronologische Nacherzählung ist Lieber Thomas nicht, erinnert mit seinen sprunghaften Assoziationen anfangs vielmehr an die Klassiker der Nouvelle Vague. Und mitten drin, außer Atem, Thomas, der immer nur macht was er will.

Thomas Brasch
Thomas Brasch (c) Marion Brasch (CC BY-SA 2.0)

Ein bisschen erinnert er darin an eine Figur, die er Jahre später selbst für die große Leinwand schreiben sollte. In Domino (1982) verkörpert Braschs Lebensgefährtin Katharina Thalbach die Lisa, eine Schauspielerin am Berliner Schiller-Theater, die vom Regisseur Lehrter (Bernhard Wicki) die Hauptrolle in einer neuen, wagemutigen Bühnenproduktion angeboten bekommt. Aber Lisa ist unfähig sich zu entscheiden. Einerseits hofft sie im Theater Antworten auf ihre drängendsten Fragen zu finden. Andererseits leidet sie viel zu sehr unter dem Verlust ihrer Mutter und an der Welt im Allgemeinen, um sich auf eine Rolle einzulassen. Einerseits vermisst sie ihre kleine Tochter, die die Weihnachtszeit bei den Großeltern verbringt, andererseits stößt sie jeden Menschen von sich, der ihr zu nah kommt.

Lisa ist wie ihre eigene Wohnungstür, die beharrlich klemmt und sie zwingt, umständlich aus dem Fenster zu klettern um zu ihren Proben zu erscheinen. Bis ein Bekannter vorbeikommt, der erkennt, dass schlicht der Riegel vorgeschoben war. „Das hab ich doch noch nie gemacht“, sagt Lisa/Katharina in ihrem typisch zwischen Wundern und Trotz changierendem Tonfall, und es scheint sich geradewegs durch ihre Stirn hindurch abzuzeichnen, wie sich ihre eigenen Hirnwindungen selbst im Wege stehen.
 

„Mercedes“ — oder: Einer, der geht wohin er nicht will


Den wahrscheinlich sperrigsten Film seiner ganzen Regiekarriere drehte Thomas Brasch 1984 für das niederländische Fernsehen: Mercedes, eine Adaption seines eigenen Theaterstücks. Eine elliptische Geschichte von der Zufallsbekanntschaft zweier Gestrandeter, gefilmt in festen Einstellungen und fast immer mit einer Limousine im Bild. Es ist schwer ihren Dialogen zu folgen, die sich in einer merkwürdig artifiziellen, unhandlichen Sprache um die Arbeit drehen, um Prostitution, um den letzten Brief eines Entführten, der seine Lebensbeichte ablegt. Also beginnt man sich am Greifbaren festzuhalten, an der Symbolik, die genau genommen jeden Brasch-Film durchzieht, aber hier ganz besonders deutlich: Der Mercedes als Bild für den Aufstiegsgedanken, die Ausbeutung von Arbeitskraft und Ressourcen, den Kapitalismus an sich. Immer wenn man beginnt ein Gefühl für den Film, seinen Rhythmus und seine Bedeutungsebenen zu entwickeln, entgleitet er einem wieder.

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Vielleicht ist es Brasch so ähnlich selbst gegangen, als er 1976 in den Westen übersiedelte. Noch im selben Jahr hatte er den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns mitunterzeichnet. Den Ausreiseantrag stellte er, nachdem staatliche Stellen die Publikationen seiner Prosatexte verhindert hatten, und verließ die DDR schließlich gemeinsam mit Katharina Thalbach und deren Tochter Anna Thalbach. Auch im Biopic ist dieser Moment natürlich ein Wendepunkt, wenn die drei Ostberlin durch die Schleusen des Tränenpalasts hindurch verlassen und schließlich – welch ein Kontrast – zum ersten Mal den hell erleuchteten Ku’damm entlang laufen. Genau der Boulevard, auf dem nur wenige Jahre später Domino entstehen sollte. Nur erscheint der Ku’damm in Lieber Thomas nicht wie ein Versprechen, der Gang der kleinen Schicksalsgemeinschaft nur mehr als Notwendigkeit. Als bittere Konsequenz des verzweifelten Versuchs die Stimme im eigenen Land erheben zu dürfen. Aus dem Off ertönt Braschs Stimme: „Wir sind mit’m Kopp durch die Wand. Nu steh’n wa inner Nachbarzelle.“ Die Szene ist wie eine filmische Essenz eines der bekanntesten Brasch-Gedichte, dessen Verse dem Biopic seine Kapitelüberschriften leihen:

„…wo ich lebe, will ich nicht sterben / aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin / aber bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
 

„Der Passagier — Welcome to Germany“ — oder: Einer, der sagt was anderen nicht passt


Er könnte der nächste Kerouac sein, wenn er sich nur brav in einem Apartment am New Yorker Central Park einschließt und seine Autobiografie schreibt, wie der Verleger es will. Was für eine Geschichte! Sohn einer jüdischen Familie, im englischen Exil geboren und mit seiner Familie in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt, sich unter der Nase des linientreuen Vaters zum Aufrührer entwickelt und schließlich aus der DDR in den Westen ausgereist. Dazu die wilden Stories von freier Liebe und Koks. Aber Thomas Braschs Leben steht nicht zum Verkauf. Andreas Kleinert zeigt in Lieber Thomas die TV-Interviews, in denen der Autor trotzig in die Kameras blickt. Er fühlt sich ausgeschlachtet, als Ware – und findet stattdessen einen Weg, selbst seine Geschichte zu erzählen, seine Perspektive auf die Gegenwart und die Vergangenheit der BRD zu zeigen.

In Braschs letztem Spielfilm verkörpert Tony Curtis 1988 den US-amerikanischen Regisseur Mr. Cornfield, der nach Deutschland kommt, um dort einen Film über jüdische Häftlinge zu machen, die aus dem Konzentrationslager geholt werden, um als Darsteller in einem Propagandafilm der Nazis mitzuwirken. Gleich zu Beginn von Der Passagier — Welcome to Germany gibt Curtis’ Figur der deutschen Presse am Flughafen ein kurzes Interview. In welcher Sprache er den Film drehe, wollen die Journalisten wissen. „Of course in German,“ antwortet er. „Can you imagine this film in any other language than that of the murderers?“ Er lächelt breit, aber als Zuschauer schluckt man schwer, denn da weiß man schon, dass es keinem der jüdischen Darsteller gelingen wird, wie versprochen in die Schweiz auszureisen.

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Der Passagier — Welcome to Germany war inspiriert von der Produktionsgeschichte von Veit Harlans Jud Süß, bei dessen Dreh in Prag man Juden zu Auftritten als Statisten gezwungen hatte. Hier soll nun ein Propagandafilm über einen Bauern entstehen, der seinen jüdischen Pächter nicht bezahlen kann und ihm so seine einzige Tochter als Braut überlassen muss. Brasch und sein Co-Autor Jurek Becker machen daraus eine verschachtelte Satire, einen Film im Film im Film, bei dem es zunehmend schwerer fällt, noch die Meta-Ebenen auseinanderzuhalten: Sie zeigen die Hindernisse, vor denen Mr. Cornfield und seine Crew stehen ebenso wie Szenen des entstehenden Films, die wiederum die Probleme von dessen Crew thematisieren. Ein brechtianisch verfremdeter Mix aus Deutsch und Englisch, aus ineinander gesteckten Kulissen und Durchbrechungen der vierten Wand. Und mittendrin einmal mehr Katharina Thalbach, die in ihrer Rolle als Mr. Cornfields Hauptdarstellerin ins Manuskript schaut und sich wundert: „Ich kann doch mit meinen Stoppelhaaren keine Frau aus den Vierzigern spielen.“ Hatte sie aber ein paar Jahre zuvor tatsächlich schon gemacht.
 

„Engel aus Eisen“ — oder: Einer, der Bilder macht von der Welt


In Thomas Braschs Regiedebüt spielte sie 1981 mit kurzem, wild abstehendem Haar die Lisa Gabler, Freundin des Anführers der berüchtigten Gladow-Bande: Werner Gladow (Ulrich Wesselmann). Es ist das Berlin des Jahres 1948, das Berlin der Luftbrücke. Das Dröhnen der Rosinenbomber schallt durch die Straßen der Stadt und Gladow nutzt den Ausnahmezustand zu seinen Gunsten: Er muss mit seiner Bande nur die innerstädtischen Grenzen erreichen und ist sicher – denn die Zuständigkeit der Polizei endet an der Sektorengrenze. Bei seinen Raubzügen hilft ihm der Henker Gustav Völpel (Hilmar Thate), der ihn wegen seiner Kontakte zur Polizei mit Hinweisen versorgen kann. Werner Gladow – der Al Capone von Berlin.

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Die Rede bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises, bei der sich Brasch die Auszeichnung für die Beste Erstlingsregie abgeholt hatte, war alles andere als ein koketter Spruch. Das versteht man spätestens, wenn man Engel aus Eisen sieht. Die Gewalt, das Verbrechen hatte ihn seit jeher interessiert – eben als Mittel des Protests gegen die Verhältnisse, gegen die Mächtigen. Über Jahre hinweg verbiss sich Brasch in einem mehr als 10.000 Seiten umfassenden Romanmanuskript namens Mädchenmörder Brunke, das 1999 schließlich in einer gekürzten Fassung als Prosaband erschien. Die Geschichte eines Architekten, der davon besessen ist, innerhalb von sieben Tagen das Leben des real existierenden Mörders Karl Brunke zu rekonstruieren, der 1905 in Braunschweig zwei Schwestern auf deren Wunsch hin erschossen hatte.

Einem Alptraum gleich taucht diese Szene auch in Lieber Thomas auf, ohne dass man dabei sagen könnte, ob der Film sie wirklich als Traum behandelt, als hellwache Wahnvorstellung oder schlicht als Manifestation einer sich in Braschs Kopf entspinnenden Geschichte. Klar ist nur: Auf die Szene folgt ein wahrer Schreibrausch. Es gibt mehrere solcher surrealen Einsprengsel in dem Biopic, am eindrücklichsten eine hochgradig stilisierte Schießerei mit Maschinengewehren, die sich Brasch und seine Mutter mit Polizisten vor dem Haus liefern. Da kann man sich gut vorstellen, wie die historischen Tatsachen, vor allem aber die Legendenbildung um die Gladow-Bande seine Synapsen funken ließen. Wieso in diesem Fall ein Regiedebüt daraus wurde und kein reiner Text? „Ich kann nur glauben, dass Filmemachen, Bildermachen von einer Welt, den Wunsch beinhaltet nach einer Alternative zu der Art, wie wir leben“, wird Brasch auf der Website der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf zitiert.

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So entstand Engel aus Eisen, in dem der Filmemacher einen Raubzug mit der berühmten Rede des damaligen Bürgermeisters Ernst Reuter unterlegt: „Schaut auf diese Stadt!“ Er zeichnet Werner Gladow als cholerischen Unsympathen, aber zugleich auch schlicht als ein Kind seiner Zeit, in der alle mehr oder weniger im Elend leben, emotional verwahrlost, hartherzig im Umgang mit sich selbst und allen anderen. Ein existenzielles Unglück scheint die Schwarzweißbilder zu durchziehen, dessen Echo sich in allen späteren melancholischen Berlinfilmen wiederfindet: Der Himmel über Berlin, Herr Lehmann, Oh Boy. Als traue im Gegensatz zu all diesen Regisseuren nur Thomas Brasch sich zum Ursprung dieses Zustandes im ewigen Dazwischen zurückzugehen.

Lieber Thomas endet mit der bezeichnenden Texttafel: Thomas Brasch stirbt im Alter von 56 Jahren mit einem Loch im Herzen.

 

Das im Beitrag verwendete Porträtfoto von Thomas Brasch stammt von Marion Brasch und steht unter einer CC BY-SA 2.0-Lizenz.

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