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Darling der Woche

25 Jahre Pika-Pikachu: Wir leben hier in der Pokémonwelt

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

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Ash und Pikachu in Staffel Eins des Anime: "Pokémon: Indigo League"
Ash und Pikachu in Staffel Eins des Anime: "Pokémon: Indigo League"

Es muss in der zweiten Klasse gewesen sein. In der Pause saßen wir auf den Tischen, als irgendein Freund dazukam und fragte, ob wir schon von diesem neuen Ding gehört hatten. Aus Japan: Pokémon. Hatte ich noch nicht. Aber schon ein Jahr später sammelten wir alle gemeinsam Pokémonkarten und -sticker, trainierten unsere Teams in der Roten und Blauen Edition und sprinteten nachmittags aus dem Hort nach Hause, um ja die neuste Folge des Anime nicht zu verpassen.

25 Jahre sind vergangen, seit Pikachu und Co. ihren Siegeszug antraten. Am 27. Februar 1996 erschienen die ersten Gameboy-Spiele auf dem japanischen Markt. Viele Fans der ersten Stunde verloren irgendwann im Laufe ihrer Teenagerzeit das Interesse — aber nicht wenige von ihnen kamen 2016 zurück: Mit Pokémon Go ging im Sommer des Jahres das erste so richtig große Augmented-Reality-Game für das Smartphone an den Start. Inzwischen erscheinen regelmäßige Pokémon-Podcasts, der Anime ist in seiner 23. Staffel, die Konsolenspiele gehören nach wie vor zu Nintendos Top-Sellern und McDonald’s Happy Meals sind wegen der enthaltenen Jubiläums-Sammelkarten anhaltend ausverkauft.

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Nostalgie ist eine mächtige Kraft. Aber wenn es wirklich nur das wäre, ließen sich die Kinder der Millennials nicht unbedingt auch begeistern. Immerhin ist Pokémon heute das kommerziell erfolgreichste Medienfranchise — noch vor Mario, Mickey Maus, Star Wars oder Harry Potter. Zahlen sind das eine und unzählige Artikel haben in den letzten zwei Jahrzehnten die ausgefuchste Marketingstrategie der Pokémon Company auseinandergenommen (einen übersichtlichen Einstieg in die Materie gibt es zum Beispiel hier). Aber wert wäre das alles wenig ohne eine sorgfältig konstruierte narrative Struktur, die die einzelnen Produkte und Aspekte des Pokémon-Universums miteinander verbindet.

Einen wichtigen Standfuß des Pokémon-Franchises bildet zum Beispiel nach wie vor der Anime, der um die Jahrtausendwende maßgeblich dabei half japanische Animationsserien auch im Rest der Welt bekannter zu machen. Er richtet sich an ein eher junges Publikum, hat aber noch immer auch reichlich Zuschauer unter den alten Fans — und das, obwohl sich sein Konzept in all den 23 Staffeln kaum geändert hat: Der zehnjährige Ash Ketchum aus Alabastia will Pokémon-Meister werden. Also bekommt er von Professor Eich ein zunächst recht widerspenstiges Pikachu ausgehändigt und zieht los, um Arenaorden zu gewinnen und seinen Pokédex zu vervollständigen. Da haben wir schon das erste Paradox: In gewisser Weise schließen die einzelnen Staffeln des Anime aneinander an. Pikachu bleibt Ash von Anfang an erhalten, er durchquert eine Welt nach der anderen, einzelne Freunde verabschieden sich und stoßen später wieder dazu. Andererseits aber altert Ash nie. Und abgesehen von Pikachu fängt er auch immer wieder auf’s Neue an Pokémon zu fangen, ein Team aufzustellen und zu trainieren.

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Wenn auch das Pokémon-Universum mit seinen Wesen, Welten, Wettbewerben und Bösewichten über die Jahrzehnte signifikant gewachsen ist, gibt das den Fans, die nach Jahren erstmals wieder in den Anime schauen, das beruhigende Gefühl, dass sich im Grunde nichts Essentielles verändert hat. Vielleicht verbirgt der Anime sogar gerade in dieser paradoxen Struktur seine zentrale Botschaft für Fans aller Altersklassen. Ash scheitert immer wieder, verliert in der Liga gegen einen stärkeren Trainer oder seinen Erzrivalen. Doch entmutigen lässt er sich davon nie. Eine Folge später ist der alte Sportsgeist wieder da und am Ende siegt immer die Freundschaft, das Teamwork über Spezies hinweg, die nächste Reise beginnt, ein neues Abenteuer.

Auf den ersten Blick bildet der Anime auf diese Weise eine merkwürdige Antithese zum Rest des Franchises. Ein Held, der unermüdlich an sich arbeitet, sich auf die eigenen Stärken besinnt, sich immer wieder dafür entscheidet ein bescheidenes Leben auf Reisen zu führen, um auf seinen einen großen Traum hinzuarbeiten, den er lange Zeit nicht erreicht. Das passt zunächst so gar nicht zur rundum marktforschungsoptimierten und durchkommerzialisierten Welt der Pokémon Company. Es sind ja nicht nur Serien, Filme und Spiele, die das Unternehmen verkauft. Stattdessen gibt es eine schier unendliche Produktpalette an Merchandise, ergonomische Kissen in Gengar- und Betten in Relaxo-Form, Apps, die kleinen Kindern das Zähneputzen erleichtern sollen oder ein Spiel aus dem Einschlafen machen. Die Pokémon Company arbeitet an einer umfassendes gamification des Alltags. Und das ist einerseits erschreckend, weil wir im neoliberalen Kapitalismus ganz bestimmt nicht noch einen Wettbewerb mehr in unseren Leben brauchen.

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Aber andererseits ist es unglaublich faszinierend. Denn wenn wir nur mal einen Moment an den Pokémon-Hype der 1990er Jahre zurückdenken: Was haben wir uns damals am allermeisten gewünscht? Natürlich, dass das Ganze Realität wäre! Wir wollten selbst Freundschaft mit einem Pikachu schließen und ein Evoli entwickeln, auf dem Rücken eines Glurak durch die Lüfte fliegen, niedliche Togepi ausbrüten und beim Spaziergang auf eine Herde Vulpix stoßen. So ganz geht das immer noch nicht. Aber wir sind dem Traum näher als zuvor. Seit 2016 können wir immerhin durch unsere eigenen Straßen laufen und dort mithilfe einer von Google-Maps gestützten App Pokémon finden, fangen, entwickeln, leveln, sie in Arenen oder gegen Team Rocket antreten lassen. Die besten Trainer in Pokémon Go sind heute gefeierte YouTube-Stars mit Millionen Followern. Kein Spiel vorher oder seither hat es geschafft so viele Menschen in ihrer Freizeit vom Sofa loszueisen und zu 5, 10, 20 gelaufenen Kilometern am Tag zu treiben. Selbst im Pandemiejahr 2020, als niemand irgendwohin konnte, schaffte es Spieleentwickler Niantic mit einigen ausgefuchsten Anpassungen das bisher ertragreichste Geschäftsjahr für Pokémon Go zu absolvieren. Permanent überlagern sich im Franchise Fiktion und Realität. Und wenn einem dann noch Bisasam beim Zähneputzen hilft, ist der alte Traum doch ein klein wenig wahr geworden.

Aber so schön das alles ist: Utopien funktionieren in der Regel nicht und um ein breites Publikum über einen langen Zeitraum an sich zu binden, muss ein Erzähluniversum schon mehr Dimensionen bieten. Für Pokémon waren es immer in erster Linie die Filme, die die düsteren Abgründe der Welt ins Bewusstsein riefen: Das begann schon mit dem ersten Kinofilm von 1998: In Pokémon — Der Film schwört Mewtu Rache als er erfährt, dass er als Klon aus Mew designt wurde und den Menschen lediglich als Experiment etwas bedeutet. Er tötet die Wissenschaftler, die ihn erschufen und beschwört einen Kampf der Pokémon gegen ihre Klone herauf. In der japanischen Originalfassung des Films war das Ganze sogar noch ambivalenter: Hier erzählte ein Prolog von der Freundschaft des jungen Mewtu mit Amber, der nach schwerer Krankheit ebenfalls geklonten kleinen Tochter eines der Wissenschaftler. Außerhalb Japans befanden die Produzenten allerdings, die Kinder sollten lieber einen reinen Bösewicht sehen statt einer vielschichtigen Figur und kürzten die entsprechenden Stellen.

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Das Prinzip ist emblematisch für die Welt der Pokémon: Sie funktioniert ja durchaus als bunte, fröhliche Kindertraumwelt. Aber je länger man über sie nachdenkt, desto mehr Ebenen tun sich unter der Oberfläche auf, eine düster als die andere. So auch in Pokémon Meisterdetektiv Pikachu, dem 2019er Live-Action-Animationsfilm mit Ryan Reynolds. Zunächst nimmt sich Regisseur Rob Letterman darin ausgiebig Zeit für das world building, stellt uns die Stadt Ryme City vor, in der Menschen und Pokémon einträchtig zusammenleben. Keine Kämpfe, keine Wettbewerbe, stattdessen regeln Machomei den Verkehr, die Schiggy helfen der Feuerwehr und die Polizei arbeitet statt mit Spürhunden mit fluffigen Fukano zusammen. Fantastisch! Will ich auch! Nur kommt dann eben leider raus — Achtung, SPOILER !!! — dass hinter dem Konzept der Stadt ein diabolischer Kapitalist steckt, der alle Bewohner von Ryme City mit ihren Pokémon fusionieren will. Es wird noch weirder: Die Persönlichkeit des Detektivs Harry Goodman, seines Zeichens Vater unseres Protagonisten, wurde, um ihn zu retten, schon längst in den Körper von Pikachu verpflanzt. Nur: Wenn Harrys Persönlichkeit in Pikachu steckt… Wo zur Hölle ist dann Pikachus Persönlichkeit? SPOILER Ende.

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Angesichts dieser komplexen, vielschichtigen Erzählwelt verwundert es kaum, dass die Fans der Pokémon-Konsolenspiele schon seit Jahren vehement ein Open-World-Game fordern, bei der eine riesige Welt fast komplett unabhängig von vorgegebenen Leveln erkundet werden kann. Ansatzweise wurde das auch schon umgesetzt. In den aktuellen Spielen Pokémon Schwert und Schild für die Nintendo Switch gibt es die sogenannte Naturzone, eine freie Fläche, in der je nach Wetterlage unterschiedliche wilde Pokémon auftauchen. Auch die beiden digitalen Erweiterungspässe Die Insel der Rüstung und Die Schneelande der Krone basieren auf einem ähnlichen Prinzip. Aber der Wunsch bleibt: Völlige Bewegungsfreiheit in einer Welt nach dem Vorbild von Zelda: Breath of the Wild.

Unglaublicherweise wurde genau das in der Pokémon Presents am 26. Februar angekündigt: Es wird 2022 ein Spiel namens Pokémon Legends: Arceus geben, das mithilfe eines Open-World-Prinzips die Vorgeschichte der Sinnoh-Region und vom Gott der Pokémon erzählt. Unglaublich, weil die Pokémon-Spiele bisher berüchtigt dafür waren, dass sie beim altbekannten Spielprinzip verharrten, die Schwierigkeitsstufe nach und nach herabsetzten und notorisch dem jeweiligen technischen Standard hinterherhinkten. Das macht es für Nicht-Fans auch so schwer zu verstehen, was überhaupt den Reiz der Spiele ausmacht. Am schönsten hat das Caroline O’Donoghue im vergangenen Jahr im Guardian mit einem Road Movie verglichen: Man reist durch Städte, löst hier ein Rätsel und hilft da einer Nebenfigur, sammelt Pokémon, trainiert sie und baut dabei nicht selten eine emotionale Bindung zu ihnen auf.

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Es ist in der Tat keine allzu große Herausforderung, sich ein 1a-Team zusammenzustellen, es hochzuleveln und in Nullkommanichts die Handlung durchzuspielen. Die vielen Nuzlocke-Challenges auf YouTube zeugen davon. Dabei setzen sich die Spieler Regeln, die die Schwierigkeitsstufe künstlich erhöhen, wie etwa: Ein Pokémon, das im Kampf ohnmächtig wird, gilt als tot und darf nicht mehr geheilt und erneut eingesetzt werden.

Aber, und das ist das Schöne: Es braucht das alles nicht. Pokémon zu spielen kann selbst dann ein erfüllendes Erlebnis sein, wenn man das Spiel nie zu 100 Prozent komplettiert. Der eine verbringt Stunden auf den einzelnen Routen, um alle Pokémon zu fangen die dort wild auftauchen und irgendwann seinen Pokédex zu vervollständigen. Der nächste stellt für jeden einzelnen Arenakampf ein völlig neues Team zusammen und plant akribisch seine Strategie. Der wieder nächste interessiert sich eigentlich nur für die Dyna-Raids oder verbringt ganze Tage mit shiny hunts. Im Grunde bietet Pokémon längst die ideale open world. Mit einer klug ausgefuchsten Balance aus Freiheiten und Vorgaben, die es einem erlaubt nach seinem eigenen Tempo zu spielen, die eigenen Prioritäten zu setzen, den eigenen Interessen zu folgen. Eine Erzählwelt, die längst die Konsolenplatinen hinter sich gelassen hat und auf virtuellen Plattformen über Kontinente hinweg sowohl als auch in den Straßen die Leute miteinander verbindet. Die es uns erlaubt uns allen Ernstes vorzustellen, dass wir das Fenster öffnen und ein Habitak auf unserem Fensterbrett landet.

Pokémon Go / Katrin Doerksen
Pokémon Go / Katrin Doerksen

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