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Kommentar

Venedig 2018: Alles wie immer, nichts wie immer

Ein Beitrag von Beatrice Behn

2018 ist der Festivaljahrgang, in dem der Kulturkampf in Venedig angekommen ist. Beatrice Behn schaut nicht nur auf die Filme des Festivals zurück, sondern auch auf seine Skandale und Diskussionen. Eines wird dabei ganz klar: Die Welt verändert sich und das Kino kann sich nicht mehr aus der Verantwortung ziehen.

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The Nightingale - Bild
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Sonne, Meer und aufgestellte Polohemdkragen. Gelato, Pasta und das Festivalzentrum der Internationalen Filmfestspiele Venedig mit seinem knallroten Container, der auf der ehemaligen Mafia-Baugrube steht, die einst ausgehoben wurde, um ein neues Zentrum zu bauen, dann aber voller illegalem Asbest war. Jetzt ist ein Rasen drüber. Problem gelöst. Drüber das Container-Kino. Alles gut. Alles ist wie immer.

Außer, dass sich nichts dieses Jahr so richtig „wie immer“ anfühlt. Genau das zeichnet ja schon das gesamte Jahr 2018 aus. Es ist ein Umbruch, ein Aufbruchsjahr in jedweder Hinsicht und das macht auch nicht vor Kunst und Kultur und großen A-Festivals halt. In Cannes spürte man es schon mächtig brodeln, brach er sich hier und da schon den Weg. In Venedig ist er nun ausgebrochen: der Kulturkampf. Gekämpft wird im Dunkeln des Kinos, aber auch draußen im Hellen. Und ein ums andere Mal fallen diese zwei Welten auch zusammen. Ein Beispiel:

Jennifer Kents The Nightingale. Ein Film, der sich zuerst einmal dadurch auszeichnet, dass er allein auf weiter Flur steht. Es ist der einzige Film einer Frau im Wettbewerb. Und schon das erhöht den Druck, verschiebt die Erwartungen bei allen Beteiligten. Im Dunkeln des Kinos sitzen wir also und sehen Clare (Aisling Franciosi) zu, wie sie sich durch das Jahr 1825 quält. Sie ist eine der wenigen Frauen in der britischen Strafkolonie, die einmal Australien werden wird, und ihr Leben ist ein Graus. Sie tut sich zusammen mit Billy (Baykali Ganambarr), einem Aborigine. Dessen Leben ist auch ein Graus. Man mag von dem Film halten was man will, mit ihm ringen, ihn blöd finden. Alles egal, denn es kommt der Moment, in dem eine indigene Figur versucht sich zu emanzipieren und sie wird von einem der britischen Soldaten, einem besonders zynischen, rassistischen Typen, erschossen. Und im Publikum klatscht plötzlich eine Hand voll „Kollegen“ ein bitter-zynisches, rassistisches, menschenverachtendes Klatschen. Die anderen Zuschauer sind schockiert. Aus der gleichen Reihe hört man dann beim Abspann, als Jennifer Kents Name auf der Leinwand erscheint, einen Ruf: „Vergognati putana, fai schifo!“, übersetzt: „Schäm dich, du Hure, du bist das Letzte“.

Ein Einzelfall, heißt es hinterher. Dem italienischen „Kollegen“, der sich als 19-jähriger Blogger herausstellt, wird die Akkreditierung aberkannt. Er entschuldigt sich auf Facebook, es war ein Scherz, nicht so gemeint. Nur ein bisschen dumm, er dachte, er kann im Dunkel des Kinos das schreien, was er sonst seinen Kumpels in der Kneipe sagen würde. Ach so und übrigens: misogyn ist er nicht.

Ob nur dieses Jahr seine Akkreditierung entzogen ist (und damit effektiv nur für die letzten zwei Tage) oder für immer, will das Festival nicht sagen. Aber immerhin reagierte es. Musste es auch, der Saal war voller internationaler Kollegen, ein Skandal also, der sofort nach außen trat. Und das ausgerechnet beim einzigen Film von einer Frau. Ein weiterer bedauerlicher Einzelfall: Der italienische Regisseur Luciano Silighini Garagnani trägt auf dem roten Teppich ein Shirt mit Harvey Weinsteins Gesicht, auf dem steht: Harvey Weinstein ist unschuldig. Breit grinsend hält er es in die Kameras. Seine Begleitungen posieren dazu. Einen PR-Stunt und eine dumme Idee, nennt das Alberto Barbera, Direktor des Festivals. Mehr passiert nicht. Und hier ist er, der Kulturkampf.

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Während so ein Ereignis auf dem roten Teppich passiert, flimmert wenige Minuten später Luca Guadagninos Suspiria auf der Leinwand, dessen Frauenfiguren sich alle emanzipiert haben, unabhängig sind von den männlichen, oft weißen und alten Türstehern dieser Welt. Ihre weiblichen Mächte, sie werden kanalisiert in der Idee der Hexe, deren destruktive Kräfte sich gegen die wenden, die ihnen die Freiheit wieder nehmen wollen. Das Pendant dazu ist ein deutscher Psychoanalytiker. Wie passend. Gleich zu Beginn des Films ignoriert er die Ängste und das Wissen seiner Patientin, tut sie ab als Hysterie und psychisch krank, als Simulacrum, als Lüge, die einen wahren Kern hat. Die Hexen sind aus seiner Sicht Figuren für Frauen, die gefährlich sind. Er referiert dabei auf den Faschismus, der in dieser neuen Version von Suspiria allgegenwärtig in seiner Aufarbeitung ist, denn der Film spielt im geteilten Berlin, 1977, also in einem weiteren Auf- und Umbruchsjahr.

Suspiria imaginiert sich einen Gegenentwurf zu den Männern, die Hure schreien und denen, die die Weinsteins dieser Welt unterstützen. Und denen wie Alberto Barbera, der sagt, er hätte nur einen Film von einer Frau gefunden und würde lieber seinen Posten verlassen als eine Frauenquote zu unterstützen. Unter dem öffentlichen Druck hat er jetzt zwar auch einen Gelöbnis zur Gender-Parität unterschrieben, doch allen ist klar, dass dies mehr Geste als Aktion ist. Wirklich ändern will sich hier niemand, doch die Welt ändert sich trotzdem und teilt dies auch mit. Jury-Präsident Guillermo del Toro sprach offen darüber, dass dies ein wirklich tiefgreifendes kulturelles Problem ist. Jacques Audiards ebenso. Und nebenbei zeigt der große Konkurrent, das Toronto International Film Festival, dass es geht: Das diesjährige Line-up ist 50/50. Scheinbar konnte man dort Filme von Frauen finden. Keine Ahnung, wo Barbera guckt. Doch eines ist klar: der Nährboden für die Weinstein-Freunde und Hurenschreier, es ist die hauseigene Kultur des Festivals selbst. Und diese ist wiederum eingebettet in einen größeren Kulturkampf politischer Natur. Wie in Kents Film geht die Unterdrückung von Frauen Hand in Hand mit der Unterdrückung anderer Minderheiten, basierend auf Religion, Ethnizität, Sexualität etc. 

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Das Filmfestival findet, das darf man nicht vergessen, in einem Land statt, dessen neue Regierung, eine Koalition aus Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung, offen rechtspopulistisch ist und aktiv Menschenrechte verletzt. Doch all das ist bei Weitem kein italienisches Problem. Es ist eines, das, wie wir alle wissen, die gesamte westliche Welt umfasst. Denn während ich und meine Kollegen hier im Kino sitzen, jagten am 26. August Neonazis Menschen in Chemnitz. Es scheint, als würde überall ein Systembruch entstehen oder gar schon geschehen. Die Frage ist: Warum und wie kommt es? Die Frage ist, was diese Risse füllen wird und wohin wir als Gesellschaft nun gehen wollen. Dass diese Fragen schon seit Jahren brodeln, das zeigt sich im Kino.

Lange war keine Festivalausgabe so dezidiert politisch wie diese. Eine Unmenge Werke loten fast immer mithilfe von Geschichten aus der Vergangenheit, die politische Gemengelage aus, versuchen das Wachsen des Faschismus, dessen Systematisierung und Folgen nachzuvollziehen. Und auch wenn Barbera keine weiblichen Filmemacherinnen finden „konnte“, die Filme selbst finden oftmals Frauen als ihre Hauptfiguren, deren Blick ein tieferer, analytischer aber auch empathischer ist und die die doppelte Problematik ihrer Position mit einbeziehen. Denn Misogynie und Rassismus, das Ignorieren und Beschneiden von Frauen- und Minderheitenrechten gehen Hand in Hand mit faschistischen Ideen. Schaut man sich den pöbelnden Mob von Chemnitz an, dann sieht man dort fast nur Männer. Umso ärgerlicher ist in solchem Kontext dann auch der deutsche Beitrag Werk ohne Autor.

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Dessen politische Dummheit ist schon erstaunlich, denn eigentlich sollten wir alle es besser wissen. Doch Florian Henckel von Donnersmarck marschiert hier einmal mit dem Vorschlaghammer durch die deutsch-faschistische Geschichte und vergisst bei aller Ästhetisierung und amerikanisch-triefiger Erzählform, dass man Gaskammern und Alliertenangriffe, den Tod zweier blond-deutscher Brüder an der Ostfront nicht gleich setzen kann und darf, denn das ist nicht nur blöd und verzerrend, sondern hochgefährlich. Aber Donnersmarck bleibt hier nicht stehen, nein, er inszeniert, ebenfalls ganz unbedacht auch seine Idee von Männlichkeit und Weiblichkeit. Sein Nazi, der Arzt Seeband (Sebastian Koch), ist ein böser Nazi, doch der Film kommt nicht umher ihn auch ein wenig geil zu finden, ihn zu bewundern in seiner Präzision und seiner Dominanz. Seine Frauen hat Donnersmarck hingegen am liebsten unterwürfig und vor allem nackt. Auch in der Gaskammer filmt man hier noch auf die Brüste. Passt ja ganz gut zu Venedig, nech?

Mehr in der Gegenwart, doch ebenfalls voller Fahrlässigkeit: Paul Greengrass’ 22 Juli und Errol Morris‘ American Dharma. Beide Filme spielen mit dem Feuer, erlauben Brandstiftern und Mördern aus dem rechten Lager ihre Filme als Plattform zu benutzen, die die Filmemacher selbst nur mit Plattitüden und Gesten herauszufordern versuchen. Das Kino kann sich nicht mehr aus der Verantwortung ziehen. Es ist wichtiger Teil der soziopolitischen Verhandlungen, des Auslotens dieser Brüche. Dafür braucht es Verantwortungsbewusstein. Wer jetzt noch ruft, dass Kino nicht immer politisch ist oder sein muss, der versteht die Aufgabe von Kunst und Kultur nicht. Und auch nicht die von Filmkritik. Die wenigen Werke, die hier versuchten dezidiert nicht politisch zu sein — sie erschienen wie anachronistische Anomalien.

Auffällig ist aber auch, dass die linken Ideen sich schwer tun kontemporär zu sein und eine Antwort zu finden. So spielt Mike Leighs Peterloo weit weg im Jahr 1819 und tut sich schwer damit an die Probleme des Jetzt wirklich anzuknüpfen. Auch Emir Kusturicas Dokumentarfilm El Pepe: A Supreme Life feiert das Vergangene und hat keine Antworten auf das Jetzt. Und nun? Hat keiner den rechten Ideen etwas entgegenzusetzen?

"Peterloo" von Mike Leigh; Copyright: Amazon Studios
„Peterloo“ von Mike Leigh; Copyright: Amazon Studios

Doch. Einen Ansatz gibt es: Haltung, Empathie und aktive Arbeit. Man sieht ihn bei Jennifer Kent, die auf den sexistischen Zwischenruf mit Empathie reagiert: 

„I think it’s of absolute importance to react with compassion and love for ignorance. There is no other option. The film speaks very clearly to that. I am very proud of the film and my crew for daring to tell a story that needs to be told. Love, compassion, kindness are our lifeline and if we don’t utilize them we will all go down the plughole.“

Doch diese Empathie ist nur ein Teil ihrer Reaktion. Der Rest, die Haltung, das Sich-Auseinander-Setzen und die aktive Arbeit, die findet man in ihrem Film. Auch Alfonso Cuarón zeigt diesen Weg auf. Sein Film Roma, eine Hommage an ein indigenes Hausmädchen und die Frauen seines Landes kreuzt sich mit den aktivistischen Versuchen der Studentenschaft, die für mehr Rechte kämpfen und niemals ihre Würde abgeben. Er zeigt sich am Ende in Suspiria, wenn die Mutternachfolge geklärt ist und Guadagnino Einblick gibt in die Regentschaft Mutter Suspiriorums. Man merkt ihn in The Sisters Brothers, der eindeutig die Toxizität harter maskuliner Ideen und damit verbunden dem Streben nach Macht über alle Maßen, folgt und ausgerechnet das Genre des Westerns dafür nutzt.

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Hier schließt sich der Kreis, hier bildet sich die Antwort zumindest in dem Dialog, die die Filme hier vor Ort miteinander führen: In American Dharma vergleicht sich Steve Bannon mit John Waynes einsamen Helden aus John Fords Der Schwarze Falke. Eine klassisch maskuline, einsame Cowboy-Figur, die durch einen nicht existenten, idealisierten amerikanischen Gründungsmythos reitet und sich als den Helden dieser Welt markiert. Ganz ähnlich sind die Sisters-Brüder in Audiards Werk anfänglich aufgebaut. Die harten Typen mit Herz. Doch The Sisters Brothers glaubt diesen toxischen Mythos, der auf Dominanz, Patriarchat, auf Rassismus und Genozid aufgebaut ist, nicht mehr. Was er findet, ist eine Mischung aus Hypermaskulinität, die für alle Beteiligten nur zu Leid und Tod führt — und Gier. Gier nach Macht. Macht, für die man über Leichen geht und für die man Strukturen, egal ob ökonomische oder politische baut. Der Film nimmt diese Mär Stück für Stück auseinander und schaut genau auf ihre Einzelteile.

Da sind wir wieder mitten im Jahr 2018, mitten in Venedig. Das sind unsere Themen, das ist unsere Aufgabe. Als Zuschauer, als Filmemacher, als Kritiker. Im Kino und vor allem draussen vor der Tür. 

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