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Das Mexiko der 1970er Jahre inszeniert Alfonso Cuarón in diesem teilweise autobiographischen Film über ein Hausmädchen in Mexiko, die Augenzeugin einer Zeit voller Revolution, Schmerz und Umbruch ist — und diese Zeit hat der Regisseur als Kind selbst miterlebt.

Roma (2018)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Die offenen Wunden Mexikos

Cleos (Yalitza Aparicio) langes Haar bindet sie morgens zum Zopf zusammen, denn er stört bei der Hausarbeit. Cleo und Adela (Nancy García García) arbeiten im Haushalt eines Arztes und seiner Frau Señora Sofía (Marina de Tavira) sowie deren vier Kinder. Ein guter Job im Mexiko des Jahres 1970, das von Unruhen und Studentenaufständen erschüttert wird, die brutal vom Regime unter Präsident Luis Echeverría Álvarez niedergeschlagen werden. Doch Cleo hat für alles das weder Zeit noch Sinn, sie muss einen riesigen Haushalt aufrecht erhalten mit vier Kindern, die sie lieben, aber allen auf der Nase herumtanzen. Und dann ist da noch ihr ganz eigenes Problem: Cleo ist schwanger.

Was sich normalerweise schon als problematisch herausstellt – eine Schwangerschaft ohne Ehemann – ist für Cleo noch um einiges gefährlicher. Als Teil der indigenen Bevölkerung und noch dazu bettelarm steht sie sowieso schon am Rande der Gesellschaft.; einzig das Geld und die Anstellung der Arztfamilie verschaffen ihr Sicherheit. Doch wie soll sie diesen Job behalten, wenn sie schwanger ist und der Vater des Kindes sie noch dazu sofort verlassen hat? Als Cleo ihr Problem Señora Sofía gesteht, ist sie sichtlich am Boden, denn schließlich weiß sie, dass ihre einzige Chance auf ein halbwegs würdevolles Leben nun dahin ist. Doch Sofía reagiert anders als gedacht, denn auch sie ist am Rande ihrer Möglichkeiten angekommen. Ihr Mann ist seit Monaten weg. Es heißt, er habe eine neue Geliebte. Den Unterhalt zahlt er auch nicht mehr. Und jetzt muss sie die Familie und vor allem die Fassade aufrecht erhalten, komme was da wolle. Genau deshalb kann sie auf Cleo nicht verzichten, die junge Frau hält nämlich, trotz ihrer nur geringen Stellung als Hausmädchen die Familie besser zusammen, als Señora Sofía es vermag. Und so rotten sich im Haus die Kinder und Frauen zusammen, während sich draussen vor der Tür die Männer gegenseitig umbringen. 

Roma ist nach Gravity das erste neue Projekt von Alfonso Cuarón. Dass es jetzt bei Netflix landen wird, ist einerseits erstaunlich und andererseits ein riesiges Problem. Denn Roma ist ein großer Film. Einer, der ins Kino gehört, auf große Leinwände mit hervorragender Soundtechnik, die Cuaróns meisterlichem Handwerk gerecht werden. Denn was als Erstes großen Eindruck hinterlässt, ist die Umsetzung dieser mexikanischen Saga. In kontrastreichem Schwarzweiß gedreht, bietet Roma, wie immer bei Cuarón, eine nahezu perfekte Kameraarbeit. Galo Olivares Kamera gleitet durch die Räume des Hauses und die Straßen herunter, als wäre sie selbst ein Windhauch, der stets Hoffnung und Melancholie in sich trägt und der Cleo auf Schritt und Tritt folgt. Die Kamera ist es auch, die in der Mitte des Raumes sich langsam um die eigene Achse dreht, um alle Ecken zu erfassen, Cleo voller Liebe und Mitgefühl bei ihrer täglichen Arbeit zuzusehen und immer zu begleiten. Hinzu kommt ein ausgeklügeltes Sounddesign, das zwischen sehr ruhigen Szenen und lauten, überbordenden und von Menschen überladenen Momenten changiert. Dann kommen die Stimmen und Geräusche von allen Seiten und überfordern und übermannen das Publikum und lassen es mit eintauchen in das Chaos des Lebens und manchmal auch des Sterbens. So wie nach dem großen „Corpus-Christi“-Massaker an Studenten, das Cleo miterlebt und bei dem ihre Fruchtblase platzt. Sie landet mit starker Verspätung im Krankenhaus. Im Kreißsaal schreien vier andere Frauen mit ihr um Leben und Tod. Es sind diese Schreie, vor allem die der Frauen, die das emotionale Zentrum von Roma ausmachen. 

Denn dieser Film ist einer über Zeiten in einer Gesellschaft, die so tiefe Wunden reißen, so einschneidend sind wie der Fall von Rom selbst und der die Individuen, die diese Zeiten durchleben für immer verändern. Cleo, Sofía und ihre Kinder sind solche Menschen, die in diesem Schicksalsjahr vieles verlieren, aber auch so manches gewinnen. Es sind Menschen in einer Gesellschaft, die so zerrüttet ist von Rassismus und Klassenunterschieden, von vergifteten Machtstrukturen und Geschlechterunterschieden, dass ihre Erschütterung nicht nur zerstört, sondern auch Platz für Neues macht. 

Eines der stärksten Bilder hierfür ist der Moment des Erdbebens, den Cleo im Krankenhaus erlebt. Gerade hat sie erfahren, dass sie schwanger ist und sie steht an der Neugeborenenstation, als es zu beben beginnt. Die Brocken fallen von oben herab, die Krankenschwestern greifen die Babies, um sie zu retten und rennen davon. Und dann ein Bild — eine lange Kamerafahrt auf einen Brutkasten. Darin ein Baby, das pure Leben an einem seidenen Faden. Auf dem Kasten liegen Steine. Die Welt hat gebebt, doch das Kind — es lebt. 

Neben all dem ist Roma aber auch ein ganz privater Film. Gewidmet ist er Libo, der Frau, die vor 50 Jahren den kleinen Alfonso Cuarón mit großzog. Cleo ist seine Libo, eine Frau, die die Kinder der anderen betreut, anstatt ihre eigenen. Eine Frau, die ihn trotzdem über alles liebte und ihm zusammen mit der eigenen Mutter zeigte, was Mutterliebe ist und wie stark Frauen sein können, vor allem, wenn sie um ihre Kinder — seien es die leiblichen oder nicht — kämpfen müssen.

Einmal steht Cleo auf einem Feld, auf dem ein großer Kämpfer eine Pose mit geschlossenen Augen macht und die Männer, die er trainiert, auffordert, es ihm nachzumachen. Doch er warnt: Nur echte Krieger mit starken Herzen schaffen diese Pose einzunehmen. Die Männer, sie scheitern einer nach dem anderen. Hinter ihnen, am Rand im Staub steht Cleo ganz still in der Pose des Kriegers, die Augen geschlossen und unter ihrem Herzen ein Kind. 

Ebenso leise wie sie und genauso stark ist Roma als Film. Die emotionale Tiefe, die aus jedem perfekt kadrierten und inszenierten Bild kommt, durchströmt das gesamte Werk, das das Publikum berührt und die Herzen hebt. Nur wenige Filme vermögen eine ganze Welt voller Liebe über Zeit und Raum hinaus zu heben und in ihrer ganzen Stärke und Komplexität die Herzen anderer Menschen zu erreichen. Roma ist solch ein Wunder, solch ein Vehikel zur Transzendenz und Übertragung und wahrlich einer der besten und stärksten Filme Cuaróns, der in seinem Humanismus und seiner emotionalen Vehemenz auf einer Stufe mit Children of Men anzuordnen ist. Und das kann selbst das Sehen auf einem kleinen Laptop-Bildschirm oder Telefon nicht unterbinden. Trotzdem muss sich hier eine ganze Industrie dringend fragen, weshalb einer der besten Autorenfilmer der letzten zwei Jahrzehnte bei Netflix gelandet ist. Vor allem mit solch einem Meisterstück. 

Nachtrag: Netflix hat angekündigt den Film weltweit in Kinos aufführen zu lassen. Am 30.09. wird der Film auch auf dem Filmfest Hamburg zu sehen sein.

Roma (2018)

Alfonso Cuarons neuer Film spielt im Mexiko-City der 1970er Jahre und erzählt von einer Familie aus der Mittelschicht, bei der zwei Hausangestellte arbeiten, die beide dem Volk der Mixteca angehören. Während sich vor allem Cleo und ihre Dienstherrin Sofia um ein gutes Verhältnis bemühen, erschüttert der grausame Massaker von Corpus Christi das Land, bei dem Dutzende von Studenten von Paramilitärs hingerichtet wurden.

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