Fünf Tage ohne Nora

Eine Filmkritik von Lida Bach

Noras letzter Wille

Der Tisch ist schon gedeckt. Ein letztes Mal sollen ihre Verwandten und Freunde Noras Gäste sein. Der Kühlschrank ist mit Speisen gefüllt, Rezepte und Anweisungen sorgfältig niedergeschrieben. Sogar ihren verbitterten Nachbarn José (Fernando Lujan) hat Nora eingeladen. Nur der Empfang, den sie dem alten Mann bereitet, ist ungewöhnlich. Reglos liegt Nora im Bett. Drei Flaschen Tabletten haben sie in den Totenschlaf gewiegt. Fünf Tage ohne Nora müssen ihre Gäste gemeinsam durchstehen, bevor sie die Tote beisetzen können. Fünf Tage ohne Nora, welche die Menschen in Mariana Chenillos stillvergnügter Tragödie für immer verändern.
Seit José vor zwanzig Jahren in die gegenüberliegende Wohnung zog, leben Nora (Silvia Mariscal) und er Tür an Tür. Davor lebten sie in einer gemeinsamen Wohnung, in einer gemeinsamen Ehe und mit einem gemeinsamen Sohn (Ari Brickman). Damals hatte er sie verlassen. Nun, so glaubt er, hat sie sich davon gemacht und ihm die Planung der Beerdigung aufgebürdet. „Ihre Geheimnisse bleiben ihre Geheimnisse“, sagt Tante Leah (Veronica Langer) zu ihm, die trotz ihrer Kurzsichtigkeit weniger blind ist als José. Geheimnisse. Jede Handlung, jeder Charakter trägt sie in sich in Chenillos feinsinnigem Kammerspiel. Noras Geheimnisse quälten José schon zu Lebzeiten und tun es immer noch. Die Schränke und Kästchen der Toten sind voll von ihnen: letzte Nachrichten, die José verbergen will, Fotos, die eine junge Nora mit einem anderen zeigen. Gewaltsam ergründen, wie José es mit allerhand skurrilen Werkzeugen versucht, lassen die Rätsel sich nicht. Sie erschließen sich von selbst, wenn die Zeit reif ist. Es verlangt nur Geduld.

Fünf Tage ohne Nora braucht es, bis José dies begreift. Eher kann die jüdische Nora aus religiösen Gründen nicht beerdigt werden, weil zuerst das Pessach-Fest und Sabbat verstreichen müssen. Sie alle sollten von der Toten manipuliert werden, schimpft José darüber. Als einziger durchschaut er Noras Plan, ohne ihre Beweggründe zu begreifen — so, wie er es schon zu Lebzeiten seiner geschiedenen Frau nicht tat. Am Schwersten ist jedoch nicht die Wahrheit über Nora zu akzeptieren, sondern die Wahrheit über sich. Wie sie aus dem Leben gehen wollte, ist er einst gegangen, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil das Bleiben zu schmerzvoll war. Erst, als José erlebt, dass andere noch starrsinniger sein können als er, begreift er wie stur er war. Und erst, als er größeres Verständnis bei anderen Menschen erlebt, als er es gegenüber Nora hatte, lernt auch er ihr Handeln besser zu verstehen. Was im Kopf eines anderen vorgehe, ist ein Mysterium, das kein Mensch ergründen könne, sagt ein Rabbi dem verbitterten alten Mann.

Ein wenig Geduld braucht es auch, um die stille Poesie in Chenillos feinsinnigem Drama zu erkennen. Ruhig, fast prosaisch inszeniert die mexikanische Regisseurin und Drehbuchautorin ihr mehrfach preisgekröntes Kinodebüt. Doch aus einfachen Zutaten lassen sich köstliche Dinge zaubern. Es braucht nur ein gutes Rezept. Das führt Mariana Chenillos, die sich für ihren Film von persönlichen Erlebnissen inspirieren ließ, gleich doppelt vor Augen. Liebevoll kreiert sie jeden einzelnen der Charaktere, wie die koscheren Gerichte nicht ganz alltäglich, dafür umso authentischer. Den bitter-süßen Beigeschmack der Trauer übertüncht keine zuckerige Sentimentalität. Aus vielen unscheinbaren Kleinigkeiten entsteht wie durch Zauberhand ein exquisiter Leichen- und Festschmaus, obendrein cineastischer Augenschmaus. Ein Hauch makaberer Witz und der unbefangene Umgang mit dem Tod, wie ihn Noras kleine Enkelinnen leben, verleihen der Geschichte eine tiefe menschliche Wärme. Sie lässt schließlich sogar die schlichte Wohnung eines tristen Hochhausblocks einladend strahlen.

Chenillos Verständnis von Seelenruhe ist tief in der mexikanischen Kultur verwurzelt, in der Geister oft wohlwollend sind und Tote selten grausig. Die Toten finden nur Ruhe, wenn auch die Lebenden versöhnt sind. Wie Nora das schaffte, obwohl alte Narben aufgerissen wurden und Salz in frische Wunden gestreut, obwohl die Spannungen zwischen Welt- und Todesanschauungen um ein Haar die Beisetzung verhindern, das bleibt Noras Geheimnis vor ihren Gästen. Dafür teilt sie es dank Chenillos mit dem Zuschauer.

Fünf Tage ohne Nora

Der Tisch ist schon gedeckt. Ein letztes Mal sollen ihre Verwandten und Freunde Noras Gäste sein. Der Kühlschrank ist mit Speisen gefüllt, Rezepte und Anweisungen sorgfältig niedergeschrieben. Sogar ihren verbitterten Nachbarn José (Fernando Lujan) hat Nora eingeladen.
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