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Ennio Morricone – Maestro aller Klassen

Ein Beitrag von Falk Straub

Sein Name ist untrennbar mit dem Kino verbunden. Für mehr als 500 Filme komponierte Ennio Morricone die Musik. Fünfmal war er für einen Oscar nominiert und ging leer aus, bevor er endlich einen Ehrenoscar für sein Lebenswerk und kurz vor seinem Karriereende als späte Genugtuung doch noch eine der begehrten Statuetten für eine seiner Filmmusiken erhielt. Zum Start von Giuseppe Tornatores Dokumentarfilm über den Komponisten widmen wir uns dessen vielfältigem Werk.

Meinungen
Morricone

Manche Filmschaffende sind im kollektiven Gedächtnis untrennbar mit einer einzigen Szene verbunden, egal wie viel Ikonisches sie im Lauf ihrer Karriere auch hervorgebracht haben. Woran denken Sie etwa, wenn Sie den Namen Hitchcock hören? Sicherlich haben einige umgehend James Stewart im Kopf, wie er in Vertigo (1958) an einer Dachkante über einem klaffenden Abgrund hängt, und andere womöglich Tippi Hedrens von Federvieh zerzaustes Haar in Die Vögel (1963). Die überwältigende Mehrheit wird jedoch an Janet Leigh denken, nackt in einer Dusche, an den Schatten des Angreifers, an das Messer, das mehrfach niedersaust, an den gerissenen Duschvorhang und daran, wie das Blut ganz langsam den Abfluss hinunterrinnt.

Bei Komponisten verhält es sich ähnlich. Das kollektive Gedächtnis ist nicht nur ein visuelles, sondern auch ein auditives. Wenn ich Beethoven sage (da-da-da-daaaa!), ist die Wahrscheinlichkeit enorm, dass Sie nicht an die Mondscheinsonate, an Für Elise oder an die Ode an die Freude, sondern an seine 5. Sinfonie denken. Mit Bernard Herrmann verbindet man die schneidenden Streicher aus dem oben zitierten Psycho (1960), mit Danny Elfman die an klassischen Komponisten wie Herrmann geschulten, aber stets verspielten, leicht entrückten und gern mit himmlischen Chören versehenen Scores aus praktisch jedem Film Tim Burtons und mit Hans Zimmer Epik und Bombast – egal wie sehr der deutsche Exportschlager davor und danach auch experimentiert hat, zuletzt etwa in 12 Years A Slave (2013) mit dem Klappern eines Schaufelraddampfers oder in Dune (2021) mit futuristisch angehauchten Kehlkopfgesängen. Das kollektive Gedächtnis verzeiht nichts. In seiner Unzuverlässigkeit und Selektion bestimmter Ereignisse ist es auch immer ungerecht. Woran denken Sie also, wenn ich Ennio Morricone sage?

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Vor dem Spaghetti-Western

Bestimmt nicht daran, dass dieser Meister der Filmmusik auch eine Zeit vor dem Kino und seinem großen Durchbruch mit den Italowestern Sergio Leones hatte. Morricone, am 10. November 1928 in Rom geboren, wurde die Musik in die Wiege gelegt. Sein Vater war ein professioneller Trompeter, der die siebenköpfige Familie mit seinem Instrument ernährte und für den kleinen Ennio denselben Karriereweg vorgesehen hatte. Mit zwölf Jahren kam Morricone ans Konservatorium, wo er gar nicht hinwollte und an der Trompete und in Chormusik ausgebildet wurde. Entscheidend für seine beispiellose Karriere war der Entschluss, im Anschluss an sein Konzertdiplom als Trompeter auch Komposition am Konservatorium zu studieren und alle Hindernisse überwindend bei Goffredo Petrassi in die Lehre zu gehen. Alles über den Kontrapunkt, also über jene dem Hauptthema hinzugefügte Gegenstimme, die sich in allen bekannten Kompositionen Morricones findet, lernte er bei Petrassi. Und alles, was über die klassische, streng konservative Ausbildung am Konservatorium hinausging, erschloss er sich im Verbund mit seinen Kommilitonen einfach selbst.

Der Maestro bei der Arbeit. © Plaion Pictures

Was viele, die nur seine Filmmusik kennen, nicht wissen: Der Maestro begeisterte sich auch für Neue Musik, bewunderte John Cage und Karlheinz Stockhausen und improvisierte mit der von ihm 1964 mitgegründeten Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza munter auf diesem Gebiet. Eine Beschäftigung, die ihn zeitlebens begleiten sollte. Ohne diese modernen Einflüsse wäre die Musik seiner Western wohl anders ausgefallen. Parallel zur Filmmusik und vor seinem großen Durchbruch dort stand jedoch noch ein anderes Kapitel, das in Morricones Biografie geflissentlich übergangen wird: die Popmusik. Um für seine eigene Familie (seit 1956 war er verheiratet) Geld zu verdienen, heuerte der junge Ennio beim italienischen Ableger des US-amerikanischen Musiklabels RCA Records als Arrangeur an – und nahm seine Berufsbezeichnung beim Wort. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die zur italienischen Schlagermusik lediglich Hintergrundgeklimper beisteuerten, arrangierte Morricone die Songs ebenso gewissenhaft wie gekonnt. In Giuseppe Tornatores Dokumentarfilm singen italienische Popstars von einst wie Gianni Morandi wahre Loblieder auf den Maestro, der die Unterhaltungsmusik nicht nur auf einen neuen Level gehoben, sondern auch Melodien geschaffen habe, die bis heute echte Ohrwürmer seien. Schon hier zeigte sich eine von Morricones Qualitäten, die ihm auch bei der Komposition von Filmmusik von großem Nutzen sein sollte: Eingängige Melodien flogen ihm quasi zu.

Nach dem Spaghetti-Western

Zwei von vielen Beispielen für Morricones teils intuitive Arbeitsweise finden sich in Tornatores Film. Darin beschreiben der Maestro und die Gebrüder Taviani anschaulich, wie Morricone ihnen für das Finale ihres Historienfilms Allonsanfàn (1974) den eingängigen Marsch Rabbia E Tarantella lieferte. Den haben übrigens auch Menschen im Ohr, die noch nie etwas von Allonsanfàn gehört haben; (Quentin Taratino verwendete das Stück in Inglourious Basterds). An anderer Stelle gibt die große US-amerikanische Folksängerin Joan Baez – bis heute darüber sichtlich verblüfft – zu Protokoll, wie ihr Morricone die Melodie zu ihrem Welthit Here’s to You, dem Titelsong zu Giuliano Montaldos Biopic Sacco und Vanzetti (1971), quasi im Vorbeigehen vorsummte. Man muss bei Morricone wohl von Eingebung sprechen.

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Dass wir uns nicht falsch verstehen, ohne sein am Konservatorium erlerntes Rüstzeug, seine bis ins hohe Alter strenge Arbeitsdisziplin, seine Akribie und sein umfangreiches musikhistorisches Wissen wäre all diese Eingebung nichts wert. Morricone flog im Laufe seiner langen Karriere zwar vieles zu, das meiste hatte jedoch Methode, so etwa die Variationen musikalischer Größen wie Bach, Verdi und Strawinsky, die in seinen Kompositionen immer wieder anklingen. Mal, weil sich die Regisseure die Variation eines bekannten Stücks gewünscht hatten, wie beispielsweise Sergio Leone, der unter die Duellszene in Für eine Handvoll Dollar (1964) ursprünglich das von Dimitri Tiomkin für Rio Bravo (1959) arrangierte Stück El Degüello legen wollte; mal, weil sich Morricone selbst von den Musiken der Epochen inspirieren ließ, in denen die Filme, für die er die Musik schrieb, spielten.

Oscar-Freuden. © Plaion Pictures

Eine Konstante in seiner Karriere ist die Suche nach Neuem. Er schrieb experimentelle Musik, Jazz und Popmusik. Im Kino wechselte er die Genres, wenn ihm eins zu vertraut erschien. Auf Western folgten Dramen, Krimis, Historienfilme und Horror von Dario Argento & Co. Der Gefahr, sich zu wiederholen, entging aber auch Morricone nicht. Und angesichts eines so umfangreichen Lebenswerks bleiben auch Misserfolge nicht aus. Neben zwei Oscars, drei Golden Globes, zwei Grammys, sechs BAFTA Awards, neun Premio David di Donatello und unzähligen weiteren Auszeichnungen und Nominierungen stehen auch drei Nominierungen für die Goldene Himbeere. (Witzigerweise war er für eine davon, die Nominierung für It’s Wrong For Me To Love You als schlechtester Song des Jahres bei den Golden Globes als bester Song des Jahres nominiert.)

Was bleibt

Woran denken Sie also, wenn Sie den Namen Ennio Morricone hören? Immerhin hat der unermüdliche Maestro allein im Bereich der Filmmusik mehr als 500 Kompositionen erschaffen. Das sind so viele, dass man mitunter vergisst, welch prominente Filme Morricone vertont hat, wobei es das Verb „vertonen“ nicht trifft. Denn geht es nach seinen Bewunderern, dann untermalt Morricones Musik Filme nicht, sondern bringt als eigenständiges Kunstwerk eine Qualität ein, die die Filme auf ein höheres Niveau hebt. Klassiker der Filmgeschichte wie Schlacht um Algier (1966), Teorema (1968), Der Clan der Sizilianer (1969), Trio Infernal (1974), 1900 (1976), In der Glut des Südens (1978) und The Untouchables – Die Unbestechlichen (1987) zählen ebenso dazu wie filmgeschichtliche Gurken wie Red Sonja (1985) oder Diabolik (1968).

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Vielleicht denken Sie beim Namen Ennio Morrcione künftig ja an Neue Musik, an italienische Schlager oder an die Filmmusik von Es war einmal in Amerika (1984), Mission (1986), Cinema Paradiso (1988) oder The Hateful Eight (2015), der die Musik, mit der der Maestro berühmt geworden ist, bewusst konterkarierte.

Eben jene Szenen, die sich dank Morricones Kompositionen für immer ins Filmgedächtnis eingebrannt haben, werden bei seinem Namen weiterhin ins Gedächtnis rutschen: das Stück Ecstasy of Gold, das erklingt, wenn Eli Wallachs Figur Tuco in Zwei glorreiche Halunken (1966) auf der Suche nach einem Grab wie ein Irrer über einen Friedhof rennt, während sich Glockenklänge und der engelsgleiche, textlose Gesang von Edda Dell’Orso in immer höhere Höhen schrauben; Charles Bronsons Ankunft am Bahnhof in Spiel mir das Lied vom Tod (1968), in der Morricone alle Umgebungsgeräusche zur Musik erhebt, bevor das auf der Mundharmonika gespielte Thema die angespannte Stille zerreißt; die Maultrommel, die sich mit einem markanten Pfeifen, einer Flöte, E-Gitarren und mal geknurrten, mal gebellten Männergesängen zur Titelmusik von Für ein paar Dollar mehr (1965) verbindet.

All das ist Ennio Morricone, der am 6. Juli 2020 nach einem ebenso arbeitsamen wie erfolgreichen Leben im Alter von 91 Jahren in den Musikerhimmel auffuhr. Und Morricone ist so viel mehr. Ein Meister aller Klassen.

 

Meinungen

Flavia · 22.12.2022

Very impressing feature!

Mike · 22.12.2022

Ennio war meisterhaft - ich werde ihn niemals vergessen!