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Systemkritik in und vor den Kinos - Die Filme der Wende

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Am 9. November 1989 läuft Tim Burtons „Batman“ in den Westkinos, während in Ostberlin „Coming Out“ Premiere feiert — mitten dazwischen fällt die Mauer.

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Still aus "Letztes aus der DaDaeR"
Still aus "Letztes aus der DaDaeR"

„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Während Günter Schabowski auf der Pressekonferenz des Zentralkomitees mit diesen legendären Worten über die neue Ausreiseregelung seinen Teil zum Ende der DDR beiträgt, laufen ein paar Straßen weiter im Kino International in der Ostberliner Karl-Marx-Allee die Vorbereitungen zu einer Filmpremiere auf Hochtouren: „Coming Out“ von Heiner Carow, die erste DEFA-Produktion mit homosexueller Thematik. Der riesige Besucheransturm verlangt nach einer Doppelvorstellung; die erste soll um 19:30 Uhr beginnen. Als die Leute nach knapp zwei Stunden aus dem Nachrichtenloch des Kinos treten, stehen sie plötzlich inmitten einer Stadt in Aufruhr. Denn um 19:04 hatten es die Nachrichtenagenturen ADN und dpa der Welt bereits verkündet: „Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.“ Die Grenzen sind offen.

Der 9. November 1989 war nicht völlig überraschend gekommen, wenn wohl auch kaum jemand mit sich derart überstürzenden Entwicklungen gerechnet hatte. Die Reformen von Michail Gorbatschow, die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der DDR-Wirtschaft, massenflüchtende DDR-Bürger und sich formierende Protest- und Bürgerinitiativen hatten für politisches Tauwetter gesorgt. Erst am 4. November 1989 war das Berliner Kino International Zeuge der größten Demonstration der DDR-Geschichte für Presse- und Versammlungsfreiheit gewesen.

 

Schräge Vögel treffen einen Nerv

Die zaghafte Öffnung hatte sich auch in der Filmindustrie der DDR bemerkbar gemacht. Ende der 1980er Jahre wurde es ostdeutschen Filmemachern, die seit der Verbotswelle auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees in ihrer Ausdrucksfreiheit stark eingeschränkt wurden, wieder möglich mehr oder weniger deutlich Kritik zu üben, in ihren Werken die Probleme des real existierenden Sozialismus anzusprechen. Erst im Mai 1989 hatte Grüne Hochzeit von Herrmann Zschoche Premiere in Halle-Neustadt gefeiert, ein Film, den man als inoffizielle Fortsetzung des DEFA-Klassikers Sieben Sommersprossen verstand. Einem alltagsnahen Realismus verpflichtet, erzählt das Drama von den Beziehungskrisen des zentralen Paars (gespielt von Anja Kling und Marc Lubosch) nach dem „Happy Ending“ mit Hochzeit und Zwillingsnachwuchs. Die größte Liebe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hausarbeit, mehrere Jobs gleichzeitig und die Kinderbetreuung auslaugen, dass die Bausubstanz der Wohnung wegen der ständigen Materialknappheit so miserabel ist, dass es sich beim nächsten Leitungsschaden nur um eine Frage der Zeit handelt.  

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Bereits seit 1987 war Die Besteigung des Chimborazo in Arbeit, eine Koproduktion der DEFA mit der Westberliner TORO-Film. Das Biopic von Rainer Simon befasst sich mit dem Leben des Naturforschers Alexander von Humboldt (gespielt von Jan Josef Liefers in seinem Kinodebüt), der 1802 den damals als höchster Berg der Welt geltenden Gipfel bestieg, den erloschenen Vulkan Chimborazo in Ecuador. Der Film war nicht nur eine Besonderheit, weil Simon dafür unter anderem in Paris, Spanien und Ecuador drehen durfte. Er legte auch einen eindeutigen, wortgewaltig im Dialog verankerten Schwerpunkt auf Humboldts Reiselust und Forschungswillen, ein sensibles Thema angesichts der eingeschränkten Reisefreiheit in der DDR.

Eine der letzten DEFA-Produktionen, die 1989 einen Starttermin in der DDR hatten, war Erwin Strankas Satire Zwei schräge Vögel. Der am 22. September in den Kinos anlaufende Film erzählt von zwei Leipziger Informatikstudenten, die mit ihrem selbstkorrigierenden Computerprogramm Chaos stiften und zur Strafe zum VEB Stirnräder in die tiefste thüringische Provinz abgeschoben werden, wo sie sich in der Produktion bewähren sollen.

Still aus "Zwei schräge Vögel"; Icestorm Entertainment
Still aus „Zwei schräge Vögel“; Icestorm Entertainment

Behördenwahnsinn, Mietschulden, Forumschecks, mit denen DDR-Bürger in Intershops einkaufen konnten und die sich zu einer Art Parallelwährung entwickelten — all diese Missstände und Absurditäten des DDR-Alltags waren — wenn Zwei schräge Vögel auch auf einer versöhnlichen Note endete — zuvor kaum einmal in einem DEFA-Film in dieser geballten Direktheit thematisiert worden. Zwei schräge Vögel traf einen Nerv — seine Uraufführung in Leipzig fand statt, während die Staatsmacht vor den Türen des Premierenkinos gewaltsam eine Demonstration beendete. „Jetzt sind wir von dem Ast gefallen, an dem wir 40 Jahre gesägt haben,“ wird der Ostberliner Kabarettist Peter Ensikat am Tag nach dem Mauerfall zitiert.


Sex, Lügen und Kapitalismus

Welche Filme hätten die DDR-Bürger sehen können, hätte ihr erster Weg nach der Grenzöffnung geradewegs in ein Westkino geführt? Der 9. November 1989 war ein Donnerstag, soeben war Mary Lamberts Horrorsaga Friedhof der Kuscheltiere in den Kinos gestartet. Dazu Jack Sholders Renegades — Auf eigene Faust mit Kiefer Sutherland, ein Thriller über einen Undercover-Cop, der zur Polizeikorruption in Philadelphia recherchiert. Außerdem, in der Rückschau besonders ironisch, Percy Adlons Satire Rosalie Goes Shopping, der mit Hauptdarstellerin Marianne Sägebrecht an den Überraschungserfolg von Out of Rosenheim anknüpfen sollte. Darin ist ein Paar wie hypnotisiert von der kunterbunten Konsumwelt des werbeverseuchten US-Fernsehens und fälscht im großen Stil Kreditkarten und Schecks, um ebenfalls an den verlockenden Versprechungen des Kapitalismus teilhaben zu können.

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Auch die damals schon seit einigen Wochen in der BRD laufenden Filme hätten aus Sicht der DDR-Führung wohl nicht gerade für das gegnerische System geworben, darunter etwa Steven Soderberghs Regiedebüt Sex, Lügen und Videotape. Allein Klaus Maria Brandauers Biopic Georg Elser — Einer aus Deutschland über den Hitler-Attentäter Georg Elser hätte der offiziellen Parteilinie möglicherweise in den Kram gepasst. Tim Burtons hyperstilisierte Comicverfilmung Batman schon weniger, die zu den bis dahin erfolgreichsten Filmen gehörte und allein schon via Merchandising Millionen erwirtschaftete. „Das Faszinosum des Bösen erweist sich – nicht zuletzt durch Jack Nicholsons schillernde Diabolik des Jokers – als stärker denn die Macht des Guten,“ urteilt das Lexikon des Internationalen Films.


Letztes aus der DDR

Während der Joker die Bewohner von Gotham City mit den tödlichen Axis-Chemikalien heimsucht, während die Premierengesellschaft von Coming Out anstößt, während sich die Schlagbäume öffnen und die Menschen über die Bornholmer Straße gen Westen drängen, sitzt der DEFA-Regisseur Jörg Foth am Schneidetisch, um seinen Gegenwartsfilm Biologie! fertigzustellen. Ähnlich wie Zwei schräge Vögel gehörte Biologie! zu den Filmen, die einige Jahre zuvor in der DDR so kaum realisierbar gewesen wären. Am Beispiel einer Schülerin, die sich für den Umweltschutz einsetzt und sich dabei nicht scheut sich mit dem Generaldirektor eines großen Betriebs anzulegen, thematisiert Foth darin die Kungeleien der Elite und Obrigkeitshörigkeit.

Als es im Zuge der Wende möglich wird, innerhalb der DEFA unabhängiger zu arbeiten, fasst Foth jedoch noch viel radikalere Pläne. Bereits 1988 hatte er mit Steffen Mensching und Hans-Eckardt Wenzel, die in der DDR erfolgreich als die systemkritischen Clowns Weh und Meh auftraten, den Kurzfilm Tuba wa duo gedreht. Nun schwebt ihm ein Episodenfilm vor, inspiriert von den Bühnenwerken der Künstler. Plötzlich steht ein verhältnismäßig großes Budget von einer Million Mark zur Verfügung, dazu ein ungewöhnliches stattliches Reisepensum. In Letztes aus der DaDaeR, konzipiert und fertiggestellt innerhalb weniger Wochen, heften sich Weh und Meh gegenseitig Orden an die Uniform, die bis ins Fleisch stechen. Sie erinnern sich an einen Sketch, den sie einst nicht aufführen durften und singen dazu das Lied Undank ist der Welten Lohn. Sie verlieren ihre Stimmen in einer Wahlurne und stellen in einem Schlachthaus Szenen aus Faust nach.

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„Demnächst in ihrem Kino. Falls Sie noch eins haben,“ kündigte der Trailer an. Letztes aus der DaDaeR sollte am 7. Oktober 1990 als einer der letzten Filme in der DDR starten. Die Einheit wurde jedoch vom 15. auf den 3. Oktober 1990 vorverlegt — die Premiere im Berliner Kino Babylon fand im wiedervereinigten Deutschland statt. Jörg Foth bringt es im Booklet der DVD auf den Punkt: Der Film war „in einem Niemandsland gedreht und blieb staatenlos“. Als erster DEFA-Film wurde er nicht vom Progress-Film-Verleih verliehen.

Bärbel Dalichow schreibt in Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946–1992: „Was kann man sehen in Letztes aus der DaDaeR, in Banale Tage, in Der Straß oder Das Land hinter dem Regenbogen? Exzentrik um beinahe jeden Preis, Zitate, Zitate, Zitate. Farcen und Grotesken. […] Fast allen Nachwendefilmen [der DEFA] sieht man den Wunsch an, der sich rasant verändernden Wirklichkeit irgendwie gerecht zu werden.“


„Wir machen die Tür zu und unsere eigene DDR auf“

Wie man mit der neuen Wirklichkeit umgehen sollte, ist auch im Burgfrieden nicht sofort klar, der Schwulenkneipe in Berlin Prenzlauer Berg, in der am Abend des 9. November 1989 die Premierenfeier zu Coming Out steigt. Mit dabei: Die westdeutschen Journalisten Maren Niemeyer und Ulrich Clauss, die ihre Eindrücke des Abends später für die Welt festhalten. Ihrer Darstellung nach beginnt die Party ausgelassen, ohne Kenntnis der Ereignisse, die sich vor der Kneipentür abspielen: „Doch die neue Wirklichkeit da draußen ist zu ungeheuerlich, um Inseln des Gestern in Frieden zu lassen. In Gestalt eines struwwelhaarigen Mittdreißigers stürzt sie herein. ‚Die haben die Mauer aufgemacht!‘ Die halb aufgerissene Kneipentür im Kreuz, die sprachlos am Tresen Stehenden vor sich, verharrt der ungebetene Gast, die Wirkung seiner Worte erwartend. Doch niemand glaubt ihm. ‚Trink eenen, und denn isset jut‘, beruhigt ihn der Wirt. Der Mann enteilt, kopfschüttelnd. Erst ein zweiter Auftritt dieser Art bringt die Festgesellschaft dazu, einmal selbst vor der Tür nachzuschauen.“

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Die erste Reaktion der Feiergesellschaft: Zögern, Rückzug, Beratschlagen. „Der Rumor, die Unruhe formen sich zum trotzigen Entschluss: Wir laufen nicht über, wir gehen nicht einmal raus. Wir bleiben jetzt hier. Wir machen die Tür zu und unsere eigene DDR auf. […] Wer die Sprache wiederfindet, äußert Befürchtungen. Die Filmkritikerin Margit Voss: ‚Das geht alles viel zu schnell.‘“

Die Reaktionen der Premierengäste spiegeln eine Nuance des Mauerfalls und der Wiedervereinigung, die im verklärenden Freudentaumel der rückblickenden Berichterstattung häufig vergessen wird: Die Tatsache, dass viele DDR-Bürger — und zahlreiche Kulturschaffende des Landes zählten dazu — sich in der DDR nicht grundsätzlich im falschen Staat, im falschen System sahen. Sie wollten Wandel, mit Sicherheit, jedoch überlegt, schrittweise, aus eigener Kraft und zu fairen Regeln. Die Filme der Wendezeit zeugen bis heute davon.

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