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Festivals

Il Cinema Ritrovato: Urlaub in Italien, aber nicht ohne Kino

Unsere Autor*innen Moritz Henze-Jurisch und Sophia Derda haben in diesem Jahr das Filmfestival Il Cinema Ritrovato in Bologna besucht. Das jährlich stattfindende internationale Filmfestival stellt die Wiederentdeckung und Restaurierung alter Filme in den Mittelpunkt.

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Il Cinema Ritrovato

Urlaub in Italien verbindet man mit den Wellen des Mittelmeers, spritzigem Aperol und herzhafter Pizza. Wie schade, wenn man seine kostbare Urlaubszeit stattdessen in dunklen Kinosälen verbringen muss, fernab vom sonnigen Flair. Nicht so für Moritz und Sophia. Die beiden verbinden ihren Urlaub in Italien mit ihrer größten Leidenschaft: dem Kino.

Il Cinema Ritrovato (übersetzt: Das wiederentdeckte Kino) entführt Cineast*innen und Filmbegeisterte auf eine Reise durch die Filmgeschichte, bei der vergessene Meisterwerke wiederentdeckt und zeitlose Klassiker auf der großen Leinwand zum Leben erweckt werden. Von frühen Stummfilmen über seltene Dokumentarfilme bis hin zu Hollywood-Klassikern wird das Filmerbe in seiner ganzen Pracht und Vielfalt zelebriert.

Moritz Henze-Jurisch studiert das Programm  © Sophia Derda & Moritz Henze-Jurisch 

Auch wenn in der Altstadt von Bologna ein Hauch von Nostalgie zu spüren ist, ist das Filmfestival mehr als eine Reise in die Vergangenheit. Die acht Festivaltage sollen auch als Raum für den Austausch von Ideen, Diskussionen und Perspektivwechsel verstanden werden. Filmemacher*innen, Historiker*innen und die Filmarchive selbst kommen aus aller Welt zusammen und sprechen miteinander. Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen.

Restaurieren heißt, wiederherstellen

Ein Besuch beim Il Cinema Ritorvato fühlt sich ein wenig wie Perlentauchen an — allerdings wie eine Form des Perlentauchens, bei der schon jemand anderes für einen auf den Grund des unendlichen Ozeans der Filmwelt getaucht ist und alle gefundenen Perlen durch liebevolles Säubern und Polieren in den absolut bestmöglichen Zustand gebracht hat.

© Sophia Derda & Moritz Henze-Jurisch 

Trotz des Schwerpunkts auf alten Filmen sind etwa 90 Prozent der Vorführungen digital. 35mm- oder 16mm-Projektionen sind eher selten und finden oft in eigens dafür kuratierten Sektionen statt. Il Cinema Ritrovato ist auch als Leistungsschau der verschiedenen Filmrestaurierungswerkstätten zu verstehen, die ihre neuesten Ergebnisse oft zum ersten Mal der Weltöffentlichkeit präsentieren. Materialpurist*innen mögen zwar die Vergänglichkeit einer 35mm-Kopie mit all ihren möglichen Kratzern, Unschärfen und Verfärbungen für ein besonders einzigartiges Kinoerlebnis loben. Allerdings gibt es hier zwei Probleme. Zum einen eignen sich analoge Filmrollen nur sehr bedingt zur dauerhaften Konservierung eines Films und zum anderen muss man sich eingestehen, dass eine hundertfach gespielte und damit auch abgenutzte Kopie eines Films ganz anders aussieht als ursprünglich beabsichtigt.

Hier kann die Moderne tatsächlich die Vergangenheit ergänzen oder sogar verbessern. Für die Restaurierung eines Films werden die bestmöglichen Kopien oder im Idealfall sogar die Masterrollen (d. h. die Originalversion, von der alle Kopien gezogen wurden) zusammengetragen, optimal gereinigt und repariert. Anschließend werden sie mit einem speziellen Scanner digitalisiert, um dann am Computer weitere Korrekturen und Farbanpassungen vornehmen zu können. Dabei bietet eine 35mm-Kopie theoretisch genug Bildinformation für eine 4K-Auflösung, sodass auch ältere Filme zeitgenössischen Sehgewohnheiten gerecht werden können.

Viele Restaurationslabore versuchen auch Regisseur*innen, Menschen von Kamera oder Postproduktion der jeweiligen Filme einzuladen, um die Restaurierung zu überwachen und sicherzustellen, dass man dem ursprünglichen Look des Films so nah wie möglich kommt. Nach all dieser Arbeit wandern diese neuen Master der Filme dann in den meisten Fällen auf Blu-rays bzw. 4K Blu-rays. Il Cinema Ritrovato gibt diesen Restaurierungen einen Raum, entsprechend gewürdigt zu werden, auf der großen Leinwand.

(Wieder-)Entdeckungen

Das Festival umfasst in diesem Jahr 255 Vorführungen mit rund 400 Filmen. Es ist unmöglich, an den acht Festivaltagen alles zu sehen. Die Filmauswahl fällt dementsprechend schwer, ist aber auch angenehm locker. Schließlich gibt es nicht den einen „wichtigen neuen Film“ von Regisseur*in XY, der in aller Munde ist. Vielmehr lädt das Programm zum Stöbern und Eintauchen ein. Hier ein paar besondere (Wieder-)Entdeckungen von Sophia und Moritz.


Quien Sabe? (Töte, Amigo!)

Das diesjährige Plakat von Il Cinema Ritrovato konfrontierte mich mit einigen bekannten Gesichtern. In nahezu perfekter Diagonale blicken Lou Castel, Klaus Kinski, Martine Beswick und Gian Maria Volonte in die Kamera. Diese eindrucksvolle Momentaufnahme entstand während einer Drehpause zu Damiano Damianies Revolutionswestern Quien Sabe (A Bullet for a General) (1966). Ich hatte den Film vor einigen Jahren gesehen und ihn als ziemlich herausragendes Werk in Erinnerung behalten. Jetzt freute ich mich über die Möglichkeit, ihn in einer neuen Restaurierung auf der großen Leinwand zu sehen, und auch darüber, dass dieser relativ unbekannte Film nun eine gewisse Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfährt.

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Quien Sabe spielt zur Zeit der mexikanischen Revolution, also etwa zwischen 1910 und 1917. Ein mysteriöser Amerikaner (Lou Castel) wird in einen Zugüberfall verwickelt und gerät dabei an den Banditen El Chuncho (Gian Maria Volonte) und seine Bande. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine unerwartete Freundschaft, bei der jedoch immer die Frage im Raum steht, welche Absichten wer wirklich verfolgt. Der actionreiche Film greift Motive des Italowestern auf, funktioniert aber auch als Parabel auf die kapitalistische Ausbeutung politisch instabiler Länder. Trotz der historischen Einbettung des Films sind die Themen zeitlos. Erwähnenswert ist auch der Auftritt von Klaus Kinski als manischer und stets gewaltbereiter Priester. (Moritz)

 

Let’s Hope It’s a Girl

© StudioCanal

Ist Mario Monicelli der italienische Almodóvar? Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf, als wir nach der Vorführung von Let’s Hope It’s a Girl (1986) das Cinema Arlecchino verließen. In der Geschichte, der Entwicklung der Charaktere und der Ästhetik gibt es einige Gemeinsamkeiten. Aber das sind nur oberflächliche Betrachtungen von Anknüpfungspunkten, die es einfach nicht so oft auf die große Leinwand schaffen. Umso schöner ist es, dass sowohl Monicelli als auch Almodóvar Filme inszenieren, die sich mit dem Aufbrechen traditioneller Geschlechterrollen beschäftigen und Frauen als komplexe, starke und unabhängige Individuen zeigen. Und obwohl es sich um Filme handelt, die noch von einem Mann inszeniert wurden, bleibt die Sensibilität und Einfühlsamkeit in der Darstellung der weiblichen Charaktere in beiden Werken eindrucksvoll in Erinnerung. Der Zusammenhalt unter den Frauen steht im Vordergrund und bereichert das Seherlebnis mit einem Sinn für Humor. Mario Monicelli inszeniert in Let’s Hope It’s a Girl eine Familie um die beiden Schwestern Elena (Liv Ullmann) und Claudia (Catherine Deneuve). Und am Ende ist wieder einmal klar: Männer sind überflüssig und die Mutter- und Schwesternschaft ist das Rückgrat der italienischen Gesellschaft. (Sophia)

 

Zhao — Der Unbesiegbare (King Boxer)

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Die wohl prestigeträchtigste Veranstaltung von Il Cinema Ritrovato ist das abendliche Open-Air-Kino auf der Piazza Maggiore. Inmitten der beeindruckenden Altstadt von Bologna werden bei Sonnenuntergang auf einer riesigen Leinwand oft anspruchsvolle Klassiker gezeigt. An einem Abend entschieden wir uns jedoch bewusst gegen The Black Narcissus (1947), den Technicolor-Klassiker von Michael Powell & Paul Pressburger, und zogen es vor, in das viel kleinere und weniger glamouröse Kino Europe zu gehen, um uns eine Sondervorführung von Zhao — Der Unbesiegbare (1972) anzusehen. Diese Produktion der Shaw Brothers Filmstudios bietet Martial-Arts-Kino vom Feinsten, das im Grunde ausschließlich aus brutaler Auf-Die-Fresse-Action besteht, während die eigentliche Handlung stark zu vernachlässigen ist.

Der Film begründete bereits ein Jahr vor dem Durchbruch von Bruce Lee den Hype um das Martial-Arts-Kino aus Hongkong und gilt als einer der Lieblings-Grindhouse-Filme von Quentin Tarantino. (Moritz)

 

Lady Windermere’s Fan

© Sophia Derda & Moritz Henze-Jurisch 

Dave Kehr, amerikanischer Filmjournalist und Kurator der Kinosäle des MoMA in New York, richtete zu Beginn des Abends einige Worte an das Publikum. Er sprach über die enge Zusammenarbeit mit dem MoMA Filmarchiv, um Restaurierungsprojekte in der Sammlung zu identifizieren und einem neuen Publikum zugänglich zu machen. Zu den jüngsten Projekten gehören Lady Windermere’s Fan (1925) von Ernst Lubitsch, Stella Dallas (1925) von Henry King und Love Affair (1939) von Leo McCarey. An diesem Abend wurde Lady Windermere’s Fan mit Orchesterbegleitung des L’Orchestra Del Teatro Comunale Di Bologna gezeigt. Lady Windermere’s Fan ist ein US-amerikanischer Stummfilm von Ernst Lubitsch aus dem Jahr 1925, der auf dem gleichnamigen Theaterstück von Oscar Wilde basiert. Der Film handelt von den gesellschaftlichen Intrigen und Geheimnissen, die sich entfalten, als die junge Lady Windermere glaubt, ihr Mann habe eine Affäre, und versucht, die Wahrheit herauszufinden, während sie mit den moralischen Konventionen ihrer Zeit kämpft. Dave Kehr sprach über seine Liebe zu diesem Film und darüber, wie glücklich er sei, dass wir alle diese Vorführung unter diesen großartigen Bedingungen erleben könnten. Die Sprache von Oscar Wilde sei grandios und es sei eigentlich eine Schande, dass Ernst Lubitsch aus so einer Vorlage einen Stummfilm gemacht habe. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ist dieser Film so unglaublich gut. Ein wahres Meisterwerk.

Ich saß in diesem großen Saal in der ersten Reihe, vor mir dieses Orchester, und der Film begann. Ich hatte Tränen in den Augen. Das war wirklich der schönste Moment, den ich je im Kino erlebt habe. Die Orchesterbegleitung ging eine magische Symbiose mit dem visuellen Erlebnis ein. Und der einzige Gedanke, der mir die ganze Zeit durch den Kopf ging, war: Das kann nur das Kino! (Sophia)

Danke an das Il Cinema Ritrovato. Ein Filmfestival, das es so nur einmal auf der Welt gibt. Eine Erfahrung, die man Filmfans nur wärmstens ans Herz legen kann: Urlaub in Italien, aber nicht ohne Kino.

© Sophia Derda & Moritz Henze-Jurisch 

 

 

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