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Streaming-Tipps

Live-Webcams: Leere Straßen in Zeiten von Corona

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

In Zeiten von Corona feiert das Streaming Hochkonjunktur. Aber online sind nicht nur Filme und Serien zu sehen. Livecams übertragen auch die Geschehnisse von Straßen, Plätzen, Sehenswürdigkeiten aus aller Welt ins Wohnzimmer. Ist das jetzt utopisch, dystopisch oder sogar apokalyptisch?

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Das Ende von Michelangelo Antonionis "L'eclisse"
Das Ende von Michelangelo Antonionis "L'eclisse"

Ausgestorbene Straßen sind ein beliebtes Motiv im Film. Schon 1925 zeigte René Clair in „Paris qui dort“ eine Großstadt, deren Bewohner eingefroren waren. Der Protagonist erwacht eines Morgens und ist der Einzige, der Letzte in Bewegung. Ein surrealer Effekt, irgendwie in der Realität verwurzelt, der Eiffelturm ist ja noch da. Aber eben auch unwirklich, (alb)traumhaft.

Derzeit sind auch in der Realität die Straßen leer. Und während wir uns in unseren kuscheligen Wohnzimmerbunkern einigeln und wahlweise auf dem Sofa herum slacken oder fieberhaft neue Sprachen lernen, etabliert sich ein merkwürdiger Nebenschauplatz moderner Streaminggewohnheiten: Livestreams, die unmittelbar von den Straßen, Plätzen, Brücken und Aussichtspunkten die Geschehnisse der Metropolen aus aller Welt übertragen. Wobei sich die Geschehnisse auf ein Minimum belaufen: Ein Auto fährt im Hintergrund entlang, die digitalen Werbewände am Times Square schalten um von Sneaker-Werbung zu einer Danksagung an die Pflegekräfte. Vereinzelte Passanten begegnen sich, umlaufen sich, ein Schwarm Tauben überfliegt die menschenleere Rialtobrücke. 

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Präsenz durch Absenz

Was wir derzeit erleben, ist nicht, wie es so oft in den zur Überreaktion neigenden sozialen Medien heißt, apokalyptisch. Der brennende Wald in Australien ist apokalyptisch. Vorübergehend geschlossene Kinos sind es nicht. Was es schon eher trifft: Ein Hauch von Dystopie. Auch das ein Genre, das der Film zur Exzellenz getrieben hat. Und das nicht einmal nur in Filmen, die ihr postapokalyptisches Setting auf dem Plakat vor sich hertragen. Man denke nur an die leeren Straßen am Ende von L’eclisse. Michelangelo Antonioni erzählt von zwei Verlorenen, die versuchen ein Paar zu sein, doch schon daran scheitern, sich zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort zu treffen. Stattdessen zeigt der Regisseur zum Schluss die leeren Straßen, die zum Hintergrund ihres Rendez-vous hätten werden sollen. 

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Hätten werden sollen… Der Konjunktiv verweist schon darauf, wie nah Dystopie und Utopie stets beieinander liegen. Gerade im Fall von Italien, dessen Städte dem ersten Anschein nach besonders gut mit Livestream-Kameras bestückt sind. Wie kein zweites Land der Welt machte Italien in den vergangenen Wochen Schlagzeilen mit explodierenden Infektionszahlen und überforderten Krankenhäusern. Und dazu das Kontrastprogramm: Messbar sauberere Luft im Norden des Landes. Das Wasser in den Kanälen von Venedig wird wieder klarer, durch das Ausbleiben der für diese Jahreszeit gewöhnlichen Touristenmassen und Vaporetti. Die Livestreams vom Markusplatz, vom Canale Grande und Dorsoduro vermitteln genau diese Ambivalenz: Trauer ob der verlorenen Leben, ob der geschlossenen Läden und bedrohten Existenzen. Und dieser kleine Funken Positivität ob einer Stadt, die endlich einmal die Gelegenheit bekommt aufzuatmen. Genau wie in L’eclisse sind all diese menschlichen Schicksale, ihre Geschichten, ihr Potential in den Live-Bildern der leeren Straßen und Plätze präsent durch ihre Abwesenheit. Präsenter sogar, als wenn man im gewohnten Menschengewimmel gleichgültig würde. Präsenz durch Absenz.

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Leere Straßen, die es zu füllen gilt

Und wie die Figuren bei Antonioni liebesunfähig scheinen und sich dennoch immer wieder aufs Neue auf ihre Möglichkeiten werfen, so kommen auch in der Realität die durch’s Social Distancing voneinander getrennten Menschen mithilfe der modernen Medien zusammen. Wer in die Chats schaut, die die Live-Streams begleiten, liest dort Grüße aus aller Welt. Der liest von Rührung angesichts der barocken Hintergrundmusik, liest Durchhalteparolen in verschiedensten Sprachen.

Und so liegt ein Trost darin sich live vom heimischen Sofa aus anzusehen wie ein Bruchteil der sonstigen Menschenmassen sich über die Kreuzung in Shibuya schiebt, wie eine ruhige Seitenstraße in Taipeh beinahe wieder nach Alltag aussieht, wie die Piazza IV Novembre in Perugia verlassen daliegt. Auch ein Hauch Dystopie natürlich, weil wir nicht anders können als das, was wir auf Bildschirmen sehen, zu vergleichen mit Bildern, die wir dort bereits gesehen haben. Die uns einflüstern: Leere Straßen können nichts gutes bedeuten. Doch vielleicht weisen sie gerade jetzt auf das Gute. Darauf, dass wir aufeinander achten. Auf die vielen Geschichten der Abwesenden. Darauf, dass wir diese Straßen schon bald wieder mit Leben zu füllen haben, mit neuen Ideen davon, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen.

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